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Читать книгу: «Die neue Magdalena», страница 16

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17.
Der Mann im Speisezimmer

Bestürzt und betrübt, war Julian im ersten Augenblicke außer Stande, Mercy zu antworten. Seine Liebe für Mercy, die ein Geheimnis bleiben musste, lebte in seiner Seele ebenso fort, wie der feste Glaube an ihr besseres Selbst, den er frei gestehen durfte. Es war ein hartes Opfer, welches er der Pflicht gegen Horace und gegen sich selbst brachte, wenn er ihr in dieser schweren Stunde ihres Lebens seinen Beistand versagte – ja, es war noch mehr, dass er dem Bekenntnis aus dem Wege ging, welches sie doch ursprünglich ihm hatte machen wollen. Aber so schmerzlich es ihm war, auch nur dem Anschein nach sie in ihrer Not zu verlassen, er konnte ihre Bitte nicht gewähren, außer unter einer Bedingung, die jedoch fast gleichbedeutend war mit seiner Weigerung.

»Ich will für Sie tun, was tun kann«, sagte er. »Die Tür mag offen stehen und ich bleibe dort im Zimmer, aber das alles nur dann – wenn Horace davon unterrichtet ist. Unter anderen als diesen Umständen zu horchen, würde ich mich Ihres Vertrauens unwürdig machen. Sie begreifen das doch wohl so gut wie ich selbst.«

Daran hatte sie gar nicht gedacht. Nach Frauenart hatte sie bloß das Tröstende, Stärkende seiner Nähe im Auge gehabt. Jetzt begriff sie ihn. Ein schwaches Rot der Beschämung überzog ihre bleichen Wangen, als sie ihm dankte. Er suchte zartfühlend sie aus dieser Verlegenheit zu befreien, indem er eine, in diesem Augenblicke sich von selbst ergebende Frage an sie richtete.

»Wo bleibt Horace die ganze Zeit?« fragte er. »Weshalb ist er nicht hier?«

»Lady Janet hat ihn zu sich berufen«, antwortete sie.

Diese Erwiderung schien Julian nicht bloß in Erstaunen, sondern beinahe in Unruhe zu versetzen. Er kehrte zu dem Stuhl zurück, auf dem Mercy saß und sagte erregt: »Wissen Sie das auch gewiss?«

»Horace hat mir selbst gesagt, dass Lady Janet ihn durchaus zu sprechen wünsche.«

»Wann?«

»Es ist nicht lange her. Er bat mich, hier auf ihn zu warten, während er hinaufging.«

Julians Gesicht verfinsterte sich; ihm ahnte nichts Gutes.

»Das bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen«, sagte er. »Haben Sie seitdem in irgendwelcher Weise mit Lady Janet verkehrt?«

Mercy zeigte ihm, als Antwort darauf, den Zettel, welchen seine Tante ihr aufs Zimmer geschickt hatte. Er las ihn aufmerksam durch.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt«, sprach er, »dass sie einen Grund finden wird, um sich Ihrem Geständnis zu entziehen? Zunächst sucht sie es nur zu verzögern, um Zeit für etwas anderes zu gewinnen, das sie im Sinne hat. Wann erhielten Sie diese Zeilen? Bald nachdem Sie uns hier verlassen hatten?«

»Es mag ungefähr eine Viertelstunde danach gewesen sein.«

»Wissen Sie, was in Ihrer Abwesenheit hier unten vorging?«

»Horace hat mir mitgeteilt, dass Lady Janet ihr Wohnzimmer Miss Roseberry zur Benutzung eingeräumt hat.«

»Sonst nichts?«

»Und dass Sie die Miss dahin geleitet haben.«

»Und was weiter geschah, hat er Ihnen nicht gesagt?«

»Nein.«

»So müssen Sie es von mir hören. Wenn ich auch sonst nichts tun kann, so will ich Ihnen doch wenigstens eine plötzliche Überraschung ersparen. Vor allem ist es nur recht und billig, dass Sie erfahren, warum ich Miss Roseberry auf ihr Zimmer begleitet habe. Ich wollte nämlich – um Ihretwillen – versuchen, ob ihre edlere Natur – wenn sie überhaupt eine solche besaß – eines milderen Benehmens gegen Sie fähig sei. Ich gestehe, der Erfolg schien mir zweifelhaft – nach dem wie ich sie zu beurteilen Gelegenheit hatte, und ich habe mich darin nicht geirrt. Im alltäglichen Verkehr hätte ich sie für eine gewöhnliche, uninteressante Persönlichkeit gehalten. Wie ich sie aber jetzt, als wir allein waren, kennen lernte – mit anderen Worten, als ich einen tieferen Einblick in ihren Charakter gewann, muss ich bekennen, dass ich in der langen und traurigen Erfahrung meines Lebens noch keinem so engherzigen, unedlen, niedrig denkenden Geschöpf, wie sie ist, begegnet bin. Die plötzliche Veränderung in dem Benehmen Lady Janets gegen sie konnte ihr kaum entgangen sein und war ihr auch nicht entgangen; ihr einziger Gedanke dabei war jedoch gewesen, daraus den grausamsten Vorteil zu ziehen. Nicht bloß, dass sie keine Rücksicht für Sie kannte, fügte sie dem nur noch die Ausdrücke des bittersten Hasses hinzu. Sie widersetzte sich der Einsetzung in ihre Rechte durch Sie selbst, da Sie sich durch das freiwillige Geständnis der Wahrheit ein Verdienst erwerben würden, und bestand darauf, Sie in Gegenwart des ganzen Hauses anzuklagen und Sie dann durch Lady Janet ungehört vor den Augen der gesamten Dienerschaft entlassen zu sehen. »Jetzt kann ich mich rächen! Endlich fürchtet mich Lady Janet!« das waren ihre Worte und auf Ehre – ich schäme mich beinahe, sie zu wiederholen! – Sie wurden auf jede erdenkliche Weise herabgezogen; in Betreff der Lady Janet hielt sie keine Rücksicht auf Alter und Stellung zurück; nichts, gar nichts durfte sich ihrer Sache, ihrem wilden Triumph in den Weg stellen! So schamlos fordert sie ihr Recht; mit deutlichen Worten spricht sie es aus. Ich verlor keinen Augenblick meine Ruhe und versuchte, sie in eine bessere Stimmung zu bringen; allein ich hätte ebenso gut zu einem Wilden sprechen können – oder besser – denn Wilde sind, wenn man es recht anfängt, oft Vorstellungen zugänglich – ich hätte ebenso gut versuchen können, einem hungrigen Raubtiere sein Futter, wie es vor ihm stand, zu entreißen. Da, ich hatte gerade voll Abscheu das vergebliche Bemühen aufgegeben, erschien die Zofe Lady Janets und brachte Miss Roseberry die Botschaft, dass ihre Herrin sich ihr empfehlen lasse und sie, sobald es ihr angenehm sein werde, auf Lady Janets Zimmer zu sprechen wünsche.

Das war eine neue Überraschung! Lady Janet lud Grace Roseberry zu einer Unterredung auf ihr Zimmer ein! Julian hätte es nicht für möglich gehalten, wäre er nicht dabei gewesen, wie die Aufforderung überbracht wurde.

»Sie erhob sich sogleich«, fuhr Julian fort, »um die Dame des Hauses nicht warten zu lassen, und befahl der Zofe, sie zu ihr zu führen. Dann winkte sie dieser, voranzugehen, und sprach, an der Tür nach mir umgewandt. Ihre freche Schadenfreude zu beschreiben, wie sie in jenem Augenblicke vor mir stand, ist unmöglich – ich kann nur ihre Worte wiedergeben: »Das habe ich gerade gewollt! Ich hätte nicht nachgegeben, ehe ich nicht dies erreicht. Lady Janet erspart mir wenigstens weitere Mühe; ich bin ihr dafür sehr verbunden!« Damit winkte sie mir zu und schloss die Tür hinter sich. Seitdem habe ich nichts von ihr gehört und gesehen. Nach meinem Dafürhalten ist sie noch dort und Horace wird wahrscheinlich mit ihr zusammengetroffen sein.«

»Was kann nur Lady Janet ihm zu sagen haben?« fragte Mercy erregt.

»Ich habe keine Ahnung davon. Als Sie mich vorhin im Speisezimmer sitzen fanden, dachte ich eben darüber nach; denn dass irgendein gleichgültiger Gegenstand zwischen den beiden Frauen verhandelt werden soll, will mir nicht recht in den Sinn. Wie Miss Roseberry gegenwärtig gestimmt ist, unterliegt es kaum einem Zweifel, dass sie schon innerhalb der ersten fünf Minuten, die sie im Zimmer war, Lady Janet gröblich beleidigt hat. Ich gestehe, ich werde ganz irre. Nur das eine scheint mir ziemlich klar, dass nämlich Lady Janets Billet an Sie, die geheime Unterredung mit Miss Roseberry und die an Horace ergangene Aufforderung, vor der Dame des Hauses zu erscheinen, alles Glieder einer Kette von Ereignissen und Vorboten jener neuerlichen Versuchung sind, vor der ich Sie bereits gewarnt habe.«

Mercy hielt die Hand empor, damit er schweige. Sie blickte nach der Tür, die hinaus in das Vorhaus führte. Waren es wirklich Tritte gewesen, die sie gehört hatte? Nein. Es war alles ruhig. Noch immer kein Anzeichen, dass Horace zurückkam.

»O!« rief sie aus. »Was gäbe ich darum, wenn ich wüsste, was oben vorgeht!«

»Sie werden es bald erfahren«, sagte Julian. »Die Ungewissheit, in der wir uns gegenwärtig befinden, kann unmöglich lange mehr dauern.«

Er wendete sich, um in das Zimmer zurückzukehren, wo sie ihn getroffen hatte. Als Mann dachte er, konnte er ihr jetzt keinen besseren Dienst leisten, als sie der Vorbereitung für die kommende Unterredung mit Horace ungestört zu überlassen. Ehe er noch drei Schritte weit gegangen war, zeigte sie ihm, wie verschieden in solchen Fällen die Ansichten eines Mannes und einer Frau sind. Es war ihr gar nicht eingefallen, im Vorhinein zu überlegen, was sie eigentlich sagen sollte. Über dem Entsetzen, in jenem schweren Augenblicke sich selbst überlassen zu werden, vergaß sie jede weitere Rücksicht. Sogar die mahnende Erinnerung an das eifersüchtige Misstrauen, welches Horace Julian gegenüber bewies, strich so ohne Wirkung an ihr vorbei, als hätte sie gar nie etwas davon gewusst. »Verlassen Sie mich nicht!« rief sie. »Ich kann nicht allein hier warten. Kommen Sie zurück – kommen Sie zurück!«

Dabei stand sie unwillkürlich auf und wollte ihm in das nächste Zimmer folgen, falls er sie wirklich allein lassen wollte.

Einen Augenblick drückte Julians Gesicht Zweifel aus, als er jetzt seine Schritte wieder zurücklenkte und ihr winkte, ihren früheren Platz wieder einzunehmen. War sie denn auch, so fragte er sich, der Aufgabe gewachsen, welche an ihre Entschlossenheit gestellt wurde, wenn sie nicht einmal Mut genug besaß, um allein in einem Zimmer die Ereignisse abzuwarten? Doch Julian sollte es noch erfahren, dass der Mut des Weibes mit der Größe der ihr begegnenden Gefahr wächst. Verlangt man von einer Frau, dass sie auf einer Wiese zwischen zufällig da grasendem, übrigens ganz ungefährlichem Vieh hindurchgehe, so ist es unter zehn Fällen gewiss neunmal zweifelhaft, ob sie es tun wird; verlangt man aber von ihr, dass sie als Mitreisende auf einem brennenden Schiffe den Übrigen durch Fassung und Besonnenheit ein gutes Beispiel gebe, so ist es in zehn Fällen neunmal wahrscheinlich, dass sie der an sie gestellten Forderung entsprechen wird. Mercy war beruhigt, sobald Julian sich wieder neben sie gesetzt hatte.

»Sind Sie Ihrer Stärke sicher?« fragte er.

»Vollkommen«, antwortete sie, »so lange Sie mich nicht verlassen.«

Das Gespräch stockte; schweigend saßen sie nebeneinander, die Augen auf die Tür gerichtet, durch welche Horace kommen sollte.

Nach einer kurzen Pause lenkte ein Geräusch draußen im Garten ihre Aufmerksamkeit auf sich. Irgendein Wagen näherte sich deutlich hörbar dem Hause.

Jetzt hielt er; es wurde die Glocke gezogen; die Haustür wurde geöffnet. War Besuch gekommen? Man hörte keine Stimme fragen. Nur die Tritte des Dieners wurden in der Vorhalle laut. Dann war lange wieder alles ruhig; der Wagen blieb vor der Tür stehen. Es schien nicht, als ob jemand in demselben gekommen wäre, vielmehr, als ob er jemand abholen sollte.

Das Nächste, was geschah, war, dass der Diener wieder nach der Haustür zurückkehrte. Sie horchten abermals. Auch jetzt nur der eine Tritt. Die Tür ward geschlossen; der Diener schritt zum drittenmale durch die Halle; der Wagen fuhr fort. Nach dem Schall zu urteilen, war niemand gekommen, hatte aber auch niemand das Haus verlassen.

Julian blickte auf Mercy. »Verstehen Sie das?« fragte er.

Sie schüttelte schweigend den Kopf.

»Wenn jemand in dem Wagen fortgefahren ist«, fuhr Julian fort, »so kann es auf keinen Fall ein Mann gewesen sein; sonst hätten wir ihn im Vorhaus hören müssen.«

Diese Schlussfolgerung Julians nach dem geräuschlosen Abgang des vermeintlichen Besuches erregte plötzlich in Mercy Verdacht.

»Gehen Sie und erkundigen Sie sich«, sagte sie erregt.

Julian verließ das Zimmer und kehrte nach kurzer Abwesenheit mit allen Anzeichen einer ernsten Besorgnis in Miene und Haltung zurück.

»Ich sagte Ihnen, dass ich sogar die geringfügigsten Vorgänge um uns herum mit Unruhe beobachtete«, sagte er. »Und was jetzt geschehen, ist wahrlich kein geringfügiges Ereignisse. Der Wagen, den wir ankommen hörten, stellt sich als ein Cab heraus, das man hierher hat holen lassen. Die Person, welche darin fortgefahren ist« —

»Eine Frau, wie Sie meinten?«

»Ja.«

Mercy erhob sich rasch und aufgeregt von ihrem Stuhl.

»Grace Roseberry kann es doch nicht sein?« rief sie aus.

»Doch, sie war es.«

»Ist sie allein fort?«

»Allein – nach einer Unterredung mit Lady Janet.«

»Ist sie freiwillig gegangen?«

»Sie selbst hat nach dem Wagen geschickt.«

»Was hat das zu bedeuten?«

»Es ist überflüssig, da noch zu forschen. Binnen kurzem werden wir es erfahren.«

Beide nahmen ihre früheren Plätze wieder ein und warteten wie bisher, den Blick nach der Tür gerichtet.

18.
Lady Janet in Bedrängnis

Wie verlassen hier Julian und Mercy für einige Zeit und wenden uns nach den oberen Regionen des Hauses, um in Lady Janets Zimmer dem weiteren Verlauf der Ereignisse zu folgen.

Die Zofe hatte zuerst das Billet ihrer Herrin an Mercy bestellt und war dann nach dem Wohnzimmer gegangen, um sich hier ihres zweiten Auftrages an Grace Roseberry zu entledigen. Lady Janet saß am Schreibtisch in Erwartung derjenigen, die sie eben zu sich berufen hatte.

Ihre Augen betrachteten eine Photographie Mercys, welche, auf einer kleinen vergoldeten Staffelei hängend, von dem Lampenlicht grell beschienen wurde. Das sonst so frische, bewegliche alte Gesicht war seltsam und traurig verändert. Die starre Miene, der verzogene Mund machten es fast zu der Maske untätigen Widerstrebens und verhaltener Wut in ihrer schärfsten Form; nur das Licht und Leben in ihren Augen milderte diesen Ausdruck der Züge. Es lag etwas unaussprechlich Rührendes in dem durchdringend zärtlichen, verlangenden Blick, welchen sie auf das Bild heftete; und der stille, liebevoll geduldige Vorwurf in demselben erhöhte diese Rührung noch. Das Gefährliche, welches Julian mit Recht fürchtete, lag im ganzen Antlitz; die Liebe, die er so wahr geschildert, lag einzig und allein in den Augen. Sie verkündeten, wie grausam es gewesen sei, ihre Zuneigung zu missbrauchen, die doch die höchste Freude und einzige Hoffnung ihres dem Ende sich nähernden Lebens war. Die Miene verriet nur den einen festen Entschluss, auch von den Trümmern jener Freude nicht zu lassen, das verlöschende Licht jener Hoffnung von neuem zu beleben; die Lippen wurden nur beredt, um kühn die verhasste Gegenwart zu leugnen, und die selige Vergangenheit zu retten. »Mag mein Abgott auch in Stücke brechen, keines von euch soll darum wissen. Ich halte das Fortschreiten der Entdeckung auf; die Wahrheit soll verstummen; mein Ohr ist taub gegen eure Worte; mein Augen blind gegen eure Beweise. Mit siebzig Jahren bedeutet für mich der Abgott auch das Leben. So soll er mein Abgott bleiben.«

Die Stille im Zimmer wurde durch das Gemurmel von Frauenstimmen vor der Tür unterbrochen.

Lady Janet richtete sich rasch in ihrem Lehnstuhl auf und nahm hastig die Photographie von der Staffelei herab. Sie schob sie, die Rückseite nach oben gekehrt, unter allerlei Papieren auf den Tisch – dann besann sie sich plötzlich eines Besseren und verbarg sie unter den dicken Falten eines Spitzentuches, welches ihren Hals und ihre Brust bedeckte. Welche eine Welt voll Liebe lag in dieser einen Handlung und in dem weichen, innigen Blick, der dieselbe begleitete. Im nächsten Augenblick hatte Lady Janet die Maske vorgenommen, welche jeden oberflächlichen Beobachter zu der Annahme berechtigt hätte, sie sei eine hartherzige Frau!

Die Tür ward von der Zofe geöffnet; Grace Roseberry trat ins Zimmer.

Sie schritt mit trotzig zuversichtlicher Haltung und hochmütig zurückgeworfenem Kopf näher und ließ sich auf den von Lady Janet ihr angewiesenen Stuhl unsanft niederfallen, wobei sie deren ernste Verbeugung mit einem Kopfnicken und Lächeln erwiderte.

In jeder Miene, in jeder Bewegung dieses kleinen, kümmerlich aussehenden, armselig gekleideten Geschöpfes drückte sich empörender Hohn aus, als wollte sie sagen: »Jetzt ist die Reihe an mir.«

»Es ist mir recht angenehm, dass Sie mich selbst hierher berufen haben, Lady Janet«, sprach sie, ohne abzuwarten, dass diese sie zuerst anredete. »Ich wäre sonst allerdings genötigt gewesen, Sie um eine Unterredung direkt zu ersuchen.«

»Sie wären genötigt gewesen, mich um eine Unterredung zu ersuchen?« wiederholte Lady Janet gelassen. »Wieso das?«

Der Ton, in dem diese letzten Worte gesprochen wurden, versetzte Grace gleich zu Anfang in große Verlegenheit. Es war nicht anders, als sei die unsichtbare Entfernung, in welche sie voneinander gerückt waren, nun sichtbar geworden und hätte sie samt ihrem Stuhl leibhaftig an das äußerste Ende des Zimmers getragen.

»Ich wundere mich, dass Sie mich nicht verstehen«, sagte sie, ihre Verwirrung mühsam zu verbergen suchend. »Insbesondere, nachdem Sie doch so freundlich waren, mir Ihr Wohnzimmer zur Verfügung zu stellen.«

Lady Janet blieb ganz unberührt. »Ich verstehe Sie trotzdem nicht«, sagte sie mit unveränderter Ruhe.

Da kam Grace ihr Charakter zu Hilfe. Sie fand ihre frühere Zuversicht wieder, die gleich ihr erstes Auftreten gekennzeichnet hatte.

»In diesem Falle«, begann sie von neuem, »muss ich mich denn näher erklären, um mir Gerechtigkeit zu verschaffen. Ich kann für die plötzliche Veränderung in dem Benehmen, das Sie unten gegen mich beobachteten, nur den einen Grund finden, dass die Aufführung jener verabscheuungswürdigen Person Ihnen endlich die Augen darüber geöffnet hat, dass Sie von ihr betrogen worden sind. Dennoch haben Sie sich, weshalb weiß ich nicht, bis jetzt noch nicht veranlasst gefunden, mich offen anzuerkennen. In dieser höchst peinlichen Lage bin ich es mir selbst, meiner Selbstachtung, schuldig, der Mercy Merrick um keinen Preis das Verdienst zu lassen, mich in die mir gebührende Stelle in diesem Hause einzusetzen; ich will ihr dies Verdienst nicht lassen; nach dem, was ich gelitten, könnte ich dies unmöglich ertragen. Ich hätte, wäre ich nicht von Ihnen selbst hierher bestellt worden, schon deshalb um eine Unterredung bitten müssen, um auf der sofortigen Entlassung der Einschleicherin aus Ihrem Hause zu bestehen. Ich fordere dieselbe jetzt als ein Zugeständnis, das mir gebührt. Sie oder Mister Julian Gray mögen tun, was Sie wollen; ich gebe um keinen Preis zu, dass diese Person als eine interessante Büßerin erscheint. Es ist wirklich mehr als zu viel, dass die unverschämte Abenteurerin sich selbst die Zeit bestimmte, wann sie ihre Enthüllungen machen will. Es war eine zu vorsätzliche Beleidigung, wie sie da aus dem Zimmer ging – wobei ihr ein Priester der englischen Kirche noch die Tür öffnete – gerade als ob sie mich dadurch ihr gegenüber verpflichten wollte! Ich kann viel verzeihen, Lady Janet – so auch die Ausdrücke, mit denen Sie es für schicklich hielten, mich aus dem Hause zu weisen. Ich nehme den Antrag bezüglich Ihres Zimmers deshalb gerne an, weil ich darin den Ausdruck einer zu meinen Gunsten veränderten Stimmung sehe. Aber selbst die christliche Barmherzigkeit hat ihre Grenzen. Die Anwesenheit jener Elenden hier ist, erlauben Sie mir die Bemerkung, ebenso wohl ein Beweis Ihrer Schwäche, als auch eine durchaus nicht zu duldende Beleidigung für mich.«

Da brach sie plötzlich ab – aber nicht, weil ihr die Worte fehlten, um weiterzusprechen, sondern weil ihr niemand zuhörte.

Lady Janet tat nicht einmal dergleichen, als ob sie ihr Aufmerksamkeit schenkte. Mit einer zu anderen Zeiten ihr gänzlich fremden, jetzt aber vorsätzlichen Unhöflichkeit war sie in größter Gelassenheit damit beschäftigt, die verschiedenen, auf dem Tische zerstreut umherliegenden Papiere zu ordnen. Einige band sie mit Schnürchen im Bündel zusammen; andere legte sie unter Briefbeschwerer; wieder andere wurden in den phantastischen Fächern eines kleinen japanesischen Kästchens untergebracht – das alles tat sie mit einem behaglichen Vergnügen an dieser systematischen Beschäftigung, und ohne, wie es schien, die Gegenwart einer zweiten Person im Zimmer überhaupt zu bemerken. Sie blickte, in beiden Händen Schriften haltend, auf, als Grace aufhörte zu sprechen und sagte gelassen:

»Sind Sie fertig?«

»Ließen Sie mich deshalb hierher rufen, Lady Janet, um mich mit ausgesuchter Unhöflichkeit zu behandeln?« gab Grace zornig zurück.

»Meine Absicht war, Ihnen etwas zu sagen, sobald Sie mich zu Worte kommen ließen.«

Die unerschütterliche Ruhe dieser Antwort wirkte auf Grace höchst überraschend. Sie wusste nichts darauf zu erwidern. In unverhohlenem Erstaunen schwieg sie, die Augen auf die Herrin des Hauses gerichtet.

Lady Janet legte ihre Schriften beiseite und setzte sich in ihrem Lehnstuhl zurecht, um nunmehr ihrerseits die Unterredung zu beginnen.

»Das Wenige, was ich Ihnen zu sagen habe«, sprach sie, »kann mit einer Frage ausgedrückt werden. Habe ich nicht recht, wenn ich annehme, dass Sie gegenwärtig ohne Stelle sind, und eine kleine Entschädigung an Geld – in feiner Weise geboten – Ihnen deshalb ziemlich erwünscht sein dürfte?«

»Wollen Sie mich damit beleidigen, Lady Janet?«

»Durchaus nicht. Ich will bloß diese Frage an Sie stellen.«

»Ihre Frage ist aber eine Beleidigung.«

»Meine Frage entspringt nur einer Freundlichkeit, die ich Ihnen auch durch die Tat beweisen wollte. Sie müssen sie nur recht verstehen. Übrigens mache ich Ihnen keinen Vorwurf daraus, wenn Sie sie nicht verstehen; ebenso wenig, als ich es Ihnen übelnehme, dass Sie schon zu wiederholten Malen, seit Ihrem Eintritt hier, gegen jede feinere Lebensart verstoßen haben. Ich war nur ehrlich bemüht, Ihnen irgendwie von Nutzen zu sein und Sie haben mein Entgegenkommen zurückgewiesen. Es tut mir leid. Übrigens lassen wir das.«

Nach diesen, mit der vollkommensten Beherrschung gesprochenen Worten nahm Lady Janet ihre frühere Beschäftigung mit den Schriften wieder auf, und bald hatte sie, wie es schien, zum zweiten Male vergessen, dass außer ihr noch jemand im Zimmer war.

Grace wollte eben mit dem ganzen Ungestüm ihres Zornes hervorbrechen, aber sie besann sich eines Besseren und bezwang sich. Mit Heftigkeit erreichte sie bei Lady Janet Roy einmal nichts; das wusste sie jetzt schon. Darum beschloss Grace, der Feindin auf dem neutralen Boden der Höflichkeit, von der sie sich unter den obwaltenden Umständen noch am meisten versprechen durfte, entgegenzutreten.

»Wenn ich vielleicht mit einem Ausspruche zu vorschnell gewesen bin«, begann sie, »so bitte ich, mich deshalb entschuldigen zu dürfen. Erlauben Sie mir nur noch die Frage, ob Sie mich bloß deshalb rufen ließen, um über meine pekuniären Verhältnisse unterrichtet zu werden, und dies nur in der Absicht, um mir zu helfen?«

»So ist es«, sagte Lady Janet.

»In Betreff Mercy Merricks hatten Sie mir nichts zu sagen?«

»Gar nichts. Ich will von ihr nichts weiter hören. Haben Sie sonst noch eine Frage an mich?«

»Eine noch.«

»Und die ist?«

»Ob Sie mich in Gegenwart sämtlicher Hausbewohner als die Tochter des verstorbenen Obersten Roseberry anerkennen wollen?«

»Ich habe Sie bereits als eine Dame anerkannt, welche, abgesehen davon, dass sie sich in misslicher, pekuniärer Lage befindet, noch einem besonderen Anspruch auf meine Rücksicht und Schonung hat. Wenn Sie nun durchaus wollen, obgleich dies unsinnig wäre, dass ich diese Worte vor den Dienstleuten wiederholen soll, so bin ich bereit, Ihrem Wunsch zu willfahren.«

In Grace begann jetzt die Leidenschaftlichkeit über ihre klügeren Vorsätze von vorhin Herr zu werden.

»Lady Janet!« rief sie; »dies ist mir nicht genug. Ich muss Sie bitten, sich deutlicher zu erklären. Sie sprechen von besonderen Ansprüchen, die ich an Ihre Schonung hätte. Was meinen Sie damit?«

»Es würde für uns beide gleich peinlich sein, uns hierüber in nähere Erörterungen einzulassen«, erwiderte Lady Janet. »Ersparen Sie uns deshalb diese Unannehmlichkeit.«

»Ich bestehe vielmehr darauf, Madame.«

»Bitte, tun Sie das nicht.«

Allein Grace war jeder Vorstellung unzugänglich.

»Ich frage Sie mit deutlichen Worten«, fuhr sie fort, »geben Sie zu, von einer Abenteurerin, die sich dazu meines Namens bedient hat, betrogen worden zu sein? Und wollen Sie mich in die mir in diesem Hause gebührende Stelle rechtmäßig einsetzen oder nicht?«

Lady Janet nahm neuerdings das Ordnen der Papiere auf.

»Wollen Sie mir das Gehör verweigern, Lady Janet?«

Diese blickte mild, wie immer, von ihren Schriften empor.

»Wenn Sie in Ihren früheren Irrtum verfallen«, sagte sie, »so zwingen Sie damit auch mich, bei der Beschäftigung mit meinen Papieren zu bleiben.«

»Welchen Irrtum meinen Sie?«

»Den Irrtum, der eben diese Frage an mich richtet. Er macht es auch, dass Sie einen besonderen Anspruch auf meine Schonung haben; und nichts, was Sie sagen oder tun, wird mich hindern, diese Schonung gegen Sie auszuüben. Als ich Sie im Speisezimmer vorfand, ließ ich mich von meiner Heftigkeit zu einem ganz ungehörigen Verhalten hinreißen; es ist sehr unrecht und unklug von mir gewesen, nach dem Polizeibeamten zu schicken. Für dieses verletzende Benehmen schulde ich Ihnen, die Sie ohnehin leidend sind, eine entsprechende Genugtuung. Um diese zu leisten, habe ich Ihnen zunächst mein Wohnzimmer zur Benutzung eingeräumt, und eben deshalb habe ich Sie zu mir bitten lassen, hoffend, dass Sie es mir gestatteten, Sie zu unterstützen. Ihr Betragen gegen mich mag noch so unhöflich sein, Ihre Äußerungen über meine Pflegetochter noch so anzüglich, ich dulde alles, um Ihnen Genugtuung zu leisten. So lange Sie ein peinliches Gespräch nicht berühren, schenke ich Ihnen mit Vergnügen Gehör; sobald Sie aber darauf zurückkommen, wende ich meine Aufmerksamkeit meinen Schriften zu.«

Grace blickte ihr mit einem boshaften Lächeln ins Gesicht.

»Ich fange an, Sie zu verstehen«, sagte sie. »Sie schämen sich, einzugestehen, dass Sie sich gröblich haben täuschen lassen. Es bleibt Ihnen jetzt natürlich keine andere Wahl, als das Geschehene gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Nun können Sie auf meine Schonung zählen. Ich bin keineswegs verletzt – die ganze Sache belustigt mich vielmehr; denn es kommt doch nicht alle Tage vor, dass sich eine so vornehme Dame, wie Sie sind, mir, einer fremden, untergeordneten Person gegenüber so bloßstellt. Ich glaube, Ihre menschenfreundliche Gesinnung gegen mich wurde erst dann geweckt, als Ihre Pflegetochter mit dem Wegschicken des Polizeibeamten Ihnen das Beispiel gab?«

Lady Janet bewahrte auch bei diesem Angriffe ihre Fassung. Sie nahm die Frage Gracens als bare Münze auf.

»Ich bin nicht im geringsten überrascht«, erwiderte sie, »zu sehen, dass das Einschreiten meiner Pflegetochter zu Missdeutungen Anlass gegeben hat. Sie hätte sich vorerst mit mir allein verständigen sollen, ehe sie handelte. Aber das ist ihr Fehler – sie folgt zu sehr ihrem inneren Gefühl. Mir ist in meinem ganzen Leben noch kein so tief empfindendes Geschöpf, wie sie ist, vorgekommen. Immer nur zu viel für die anderen bedacht, und nie für sich selber! Das bloße Erscheinen des Polizeibeamten brachte Sie in eine so bemitleidenswerte Lage, dass sie sich sofort wie immer von ihrem Gefühle hinreißen ließ. Das ist mein Fehler! Alles mein Fehler!«

Grace änderte abermals ihre Haltung. Ihr Scharfsinn erkannte, dass jetzt eine Gelegenheit war, um Lady Janet mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

»Davon nun nichts mehr!« sagte sie. »Es ist Zeit, dass wir ernsthaft über die Sache sprechen. Ihre Pflegetochter – wie Sie sie nennen – ist Mercy Merrick – und Sie wissen dies.«

Lady Janet wendete sich ihren Schriften zu.

»Ich bin Grace Roseberry, der sie den Namen gestohlen hat – auch das wissen Sie?«

Lady Janet beachtete diese Worte nicht.

Grace erhob sich von ihrem Stuhle.

»Ihr Schweigen, Lady Janet«, sagte sie, »beweist mir deutlich, dass Sie vorsätzlich die Wahrheit unterdrücken wollen. Sie sind offenbar entschlossen, die Abenteurerin als diejenige anzuerkennen, die sie zu sein vorgibt, und scheuen sich nicht, ungeachtet der Folgen, die daraus entstehen können, mir in das Gesicht zu behaupten, dass ich verrückt sei. Ich lasse mir aber mein Recht nicht auf so unverschämte Weise rauben; Sie sollen noch von mir hören, sobald die Post aus Kanada hier in England angekommen sein wird.«

Sie schritt der Tür zu. Diesmal antwortete Lady Janet so rasch und entschieden, als sie es nur immer wünschen konnte.

»Ich werde Ihre Briefe zurückweisen«, sagte sie.

Grace wendete sich drohend ein paar Schritte zurück.

»Den Briefen werden bald auch die Zeugen folgen«, fuhr sie fort.

»Ich werde auch diese nicht empfangen.«

»Tun Sie das auf Ihre Gefahr hin! Ich wende mich an das Gericht.«

Lächelnd sagte Lady Janet: »Ich will zwar nicht behaupten, dass ich viel davon verstehe, aber es würde mich wirklich sehr wundern, wenn Ihnen das Gesetz ein Recht gäbe, irgendeinen Anspruch an mich zu erheben. Übrigens – nehmen wir an, Sie sind im Stande, das Gericht für die Verfechtung Ihrer Sache zu gewinnen, dann wissen Sie so gut wie ich, dass es dazu vor allem eines Dinges bedarf, und das ist – Geld! Ich bin reich, und Honorare, Gerichtskosten und all dergleichen sind für mich keine Sachen von Belang. Darf ich fragen, ob dasselbe bei Ihnen der Fall ist?«

Diese Frage brachte Grace zum Schweigen. Nach jeder Richtung war sie gänzlich unfähig, ihre rachsüchtigen Gelüste zu befriedigen. Und die Herrin von Mablethorpe-House saß da vor ihr, aller dieser Umstände wohl bewusst.

Lady Janet deutete nach dem leeren Stuhl.

»Wollen Sie sich nicht wieder setzen?« redete sie ihr zu. »Wie mir scheint, sind wir allmählich zum Ausgangspunkt unseres Gespräches zurückgekommen. Möchten Sie nicht lieber, anstatt mir mit dem Gerichte zu drohen, näher erwägen, ob es denn überhaupt eine Beleidigung ist, wenn ich Ihnen meine Unterstützung antrage? Ich bin gar oft in dem Falle, Damen, die sich in bedrängter Lage befinden, meine Hilfe zu leihen, ohne dass außer meinem Haushofmeister – der die Rechnungen führt – und mir selbst, irgendjemand davon erfährt. Ich frage Sie nochmals, ob Ihnen eine kleine Geldentschädigung in feiner Weise geboten, willkommen sein würde?«

Grace kehrte langsam zu ihrem Stuhl zurück. Mit der einen Hand die Lehne fassend, stand sie da, die Augen mit einem höhnisch forschenden Ausdruck auf Lady Janet gerichtet.

»Endlich rücken Sie mit der Farbe heraus«, sagte sie. »Sie geben mir Geld, damit ich schweigen soll!«

»Sie wollen also, dass ich mich wieder zu meinen Schriften wende«, versetzte Lady Janet. »Sie sind wirklich sehr hartnäckig!«

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Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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