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Die ersten Formen von löslichem Kaffee, Tee und Kakao

Der von der Industrialisierung geprägte Lebensrhythmus in den Städten erforderte Produkte, die schnell und einfach zu konsumieren waren. Als Antwort auf diese Veränderungen der Konsumbedürfnisse unter der Maxime der Zeitersparnis begann die Lebensmittelindustrie Kaffee, Tee und Kakao als Instantgetränke anzubieten, welche durch die Zugabe von Wasser sofort zubereitet waren.84 Die Transformation der drei Kolonialwaren zu industriellen Pulverprodukten stellte die Unternehmen jedoch vor zahlreiche Probleme: Der unverarbeitete Kakao war wegen seines hohen Fettanteils mit flüssigen Substanzen wie Wasser oder Milch nur schwer mischbar und setzte sich rasch am Boden des Trinkglases ab.85 Um das Fett der Kakaobutter zu binden, mischten die Schokoladehersteller dem Kakao daher Mehl und andere Stärkemittel bei, wodurch das Endprodukt einen kartoffelähnlichen Geschmack erhielt.86

Bereits 1828 konnte der niederländische Apotheker Conrad Johannes van Houten die Herstellung von Kakaopulver allerdings entscheidend verbessern. Mittels einer Alkalilösung gelang es ihm, beim Pressen die fetthaltige Kakaobutter in einem effizienten Verfahren von der Kakaomasse zu trennen und den Fettanteil im verbleibenden «Presskuchen» um mehr als zwei Drittel zu reduzieren. Anschliessend zermahlte er den «Presskuchen» zu einem feinen Pulver, das nur noch etwa 20 Prozent des ursprünglichen Kakaobutteranteils enthielt. Sein Pulver wies damit nicht nur eine bessere Löslichkeit in Flüssigkeiten auf, sondern war auch bekömmlicher und länger haltbar. Zudem konnte das Kakaopulver wesentlich günstiger angeboten werden, weil die synchron dazu entstandene Kakaobutter zur Herstellung von Tafelschokolade verwendet werden konnte.87 Viele Schokoladeunternehmen stellen Kakaopulver deshalb als Nebenprodukt der Schokoladeverarbeitung her,88 wobei der Durchbruch des reinen Kakaopulvers über eine längere Zeitdauer erfolgte.89 Zu den frühen Herstellern von löslichem Kakao nach van Houtens Verfahren gehörten die englischen Schokoladefirmen Cadbury und Fry, welche in den 1860er-Jahren Cadbury’s Cocoa Essence und Fry’s Cocoa Extract auf den Markt brachten.90 In den 1880er-Jahren folgte unter anderem auch Rowntree mit Rowntree’s Elect Cocoa und das Schweizer Schokoladeunternehmen Suchard (1883) mit einem eigenen Kakaopulver.91

Parallel zur Entwicklung des löslichen Kakaos wurden im 19. Jahrhundert auch den ersten Formen von Instantkaffee oft Bindemittel und andere Zusatzstoffe beigemischt. Im Unterschied zum Kakao lagen die technischen Schwierigkeiten beim Kaffee allerdings nicht primär bei der Löslichkeit, sondern bei der Geschmacks- und Aromakonservierung:92

Während Rohkaffee noch praktisch geschmacklos ist, finden im Verlauf des Röstprozesses komplexe chemische Reaktionen statt, welche der Kaffeebohne ihren charakteristischen Geschmack und ihr Aroma entlocken. Entscheidend ist dabei, dass die Bohne beim Erhitzen ein Kaffeeöl absondert, das aus Fett und Kohlenhydraten gebildet wird. Es ist Träger von etwa 800 chemischen Stoffen, die den Kaffeegeschmack und das Kaffeearoma ausbilden. Allerdings oxidieren diese Kaffeeöle rasch, wenn sie mit der Luft in Kontakt treten. Der Geschmack und das Aroma des Kaffees sind daher sehr volatil und nehmen ohne zusätzliche Massnahmen schon nach einem Tag merklich ab.93

Der unbeständige Charakter des Kaffeegeschmacks war nicht nur dafür verantwortlich, dass die rohen Kaffeebohnen nicht wie die Teeblätter in ihren Herkunftsländern verarbeitet werden konnten, sondern in den Konsumländern Europas und Nordamerikas geröstet werden mussten.94 Er sorgte auch dafür, dass der geröstete Kaffee nicht über weitere Strecken verbreitet werden konnte und innerhalb kurzer Zeit verbraucht werden musste.95 Die Konservierung des Kaffeegeschmacks stellte deshalb für die Kaffeeindustrie ein zentrales Problem dar, welches bei der Herstellung von löslichem Kaffee besonders deutlich hervortrat: Im Gegensatz zum Bohnen- oder Röstkaffee wurde hier den Kunden nämlich nicht nur das Rösten, sondern auch das Mahlen und Filtern der Kaffeebohnen abgenommen. Gleichzeitig wurden die Geschmacksbestandteile durch das Öffnen der Bohne der Oxidation besonders stark ausgesetzt.96

Um dem Geschmacksverlust entgegenzuwirken, reicherten die Produzenten den löslichen Kaffee deshalb mit geschmacksverstärkenden Kaffeesurrogaten an oder versuchten die flüchtigen Kaffeepartikel mit zusätzlichen Konservierungsstoffen zu binden. Der Übergang zwischen Kaffee und Ersatzkaffee verlief dabei fliessend. Trotz grossen Bemühungen der Kaffeesurrogat-Industrie, das Produkt zu verbessern, blieb der Instantkaffee in dieser Form jedoch weit von einem befriedigenden Kaffeeprodukt entfernt. Dennoch fanden die zahlreichen Kaffee-Essenzen und Kaffee-Extrakte, die aus einem eingedickten Kaffeesud bestanden und von der Konsistenz her mit Sirup oder Honig vergleichbar waren, in der Arbeiterschaft ihre Kunden.97

Wie beim Röstkaffee brachte auch auf dem Gebiet der Kaffee-Extrakte der Sezessionskrieg (1861–1865) einen entscheidenden Fortschritt: Aufgrund seiner anregenden Wirkung wurde den Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg auf Nachtmärschen Bohnenkaffee abgegeben.98 Diesem konnten die Truppen allerdings wegen seines bitteren Geschmacks wenig abgewinnen, denn gewöhnlich tranken die Amerikaner den Kaffee mit Milch und Zucker. Die Soldaten begannen deshalb den Kaffee mit gezuckerter Kondensmilch99 zu mischen, die 1856 vom Amerikaner Gail Borden erstmals industriell hergestellt worden war.100

Bordens New York Condensed Milk Company hatte in ihren Anfangsjahren auf einer sehr unsicheren ökonomischen Grundlage gestanden, weil der gezuckerten Kondensmilch bis dahin eine feste Kundschaft gefehlt hatte. Als Ersatz für Muttermilch war sie wenig beliebt gewesen. Im Verlauf des amerikanischen Bürgerkriegs nahm die Nachfrage nach Kondensmilch durch die Kaffee trinkenden Truppen allerdings dermassen zu, dass Borden zu ihrer Deckung sogar weitere Fabriken errichten musste.101 Gleichzeitig erhielt der Tüftler von der Armee den Auftrag, den Truppen einen fertigen Kaffee-Extrakt zur schnellen Verpflegung zu beschaffen. Aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit der industriellen Herstellung von Kondensmilch mischte er analog dazu Kaffee mit Milch und Zucker, dampfte diese drei Ingredienzien gemeinsam ein und füllte das pastöse Konzentrat in Dosen ab. Auf diese Weise stellte er eine kaffeehaltige Kondensmilch her, die wie Wagenschmiere aussah, aber nach Kaffee schmeckte.102

Ein ähnliches Konzentrat patentierte L. D. Gale aus Washington D. C. im Jahre 1865. Dabei handelte es sich um eine Art getrockneten Kaffeekuchen, bei dem die flüchtigen Aromastoffe mit Zucker als Trägersubstanz gebunden wurden. Soldaten und Seeleute konnten sich diesen Kuchen als Notfallration in kleinen Stückchen im Mund zergehen lassen und auf diese Weise ohne Wasser eine Ration starken Kaffees zu sich nehmen.103

Zahlreiche Forscher und Tüftler entwickelten in den darauffolgenden Jahren weitere Verfahren zur Herstellung eines haltbaren Kaffee-Extrakts: zu ihnen zählten unter anderen die Engländer H. Warry, der 1872 Kaffee, Tee und Kakao unter Vakuum dehydrierte und auf diese Weise drei Pulvergetränke herstellte, und C. Morfit, der 1876 Kondensmilch mit Gelatine und Kaffee mischte,104 aber auch der Japaner Sartori Kato, der ursprünglich gar keinen Instantkaffee, sondern einen löslichen Tee entwickeln wollte. Da Instanttee jedoch ein unbedeutendes Geschäft blieb, wandelte er sein 1899 entwickeltes Teeverfahren ab und präsentierte 1901 an der Pan-Amerikanischen Ausstellung einen Instantkaffee, der später auf der Ziegler-Expedition zum Nordpol verwendet wurde.105 Kato’s Soluble Coffee dürfte sich jedoch weder qualitativ noch durch besonderen wirtschaftlichen Erfolg von anderen Kaffeeprodukten abgehoben haben.106 Auch erfolgreicheren Geschäftsmännern wie dem Belgier George Washington, der ab 1906 ein süssliches Milchkaffeepulver vertrieb und 1910 in New York unter der Marke G. Washington’s Coffee107 Instantkaffee zu produzieren begann, gelang keine wesentliche Verbesserung des Produkts.108

Wie die Beispiele zeigen, wurden die Kaffee-Essenzen vielfach mit Milch und Zucker gemischt oder als Milchkaffee («Café au lait instantané») angeboten, weil die Milch den unvollkommenen Kaffeegeschmack teilweise überdeckte. Aus diesem Grund sowie aufgrund der Tatsache, dass die Kaffee-Extrakte nach dem gleichen Produktionsprinzip wie Kondensmilch hergestellt wurden,109 begannen sich neben Borden auch andere Kondensmilchunternehmen wie die schweizerische Anglo-Swiss Condensed Milk Company in Cham (Kanton Zug) für Kaffeekonserven zu interessieren.

Vom Norden in den Süden – Die Nestlé & Anglo-Swiss entwickelt sich zum globalen Milchunternehmen
Kondensmilch, Kaffeekonserven und die Anfänge der Nestlé & Anglo-Swiss

Während in Brasilien der Kaffee- und in Indien der Teeanbau vorangetrieben wurde, spezialisierte sich die Schweizer Landwirtschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Anschluss an die Weltmärkte zusehends auf die Milchproduktion.110 Schliesslich waren es fremde Zuwanderer, die aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Heimat das Potenzial der qualitativ guten Schweizer Milch zur industriellen Verarbeitung zuerst erkannten: der Deutsche Heinrich Nestlé aus Frankfurt und die Gebrüder Page aus Dixon in den Vereinigten Staaten, deren Firmen sich 1905 zur Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company zusammenschliessen werden.111

Charles Page hatte im Amerikanischen Bürgerkrieg als Korrespondent der «New York Tribune» die Potomac-Armee der Nordstaaten begleitet und dabei die grosse Nachfrage der Soldaten nach Kaffee mit Kondensmilch hautnah miterlebt.112 Nach Kriegsende wurde er als Handels-Vizekonsul der Vereinigten Staaten in die Schweiz, nach Zürich, berufen. Hier sollte er sich nach Investitionsmöglichkeiten für amerikanisches Kapital und nach Fachwissen umsehen. Die weit verbreitete Milchwirtschaft in der Schweiz erinnerte ihn daran, dass die gezuckerte Kondensmilch während des Sezessionskriegs eine sehr gefragte Nahrung in der Armee der Nordstaaten und in der Bevölkerung gewesen war. Vor diesem Hintergrund kam Charles Page auf die Idee, von der Schweiz aus die europäischen Grossstädte mit Kondensmilch zu versorgen, wo qualitativ gute Milch Mangelware war.113

Im Gegensatz zu den meisten Schweizer Lebensmittelunternehmen dieser Zeit gründete Page die Anglo-Swiss Condensed Milk Company114 am 23. April 1866115 bereits mit einem beachtlichen Kapital von 100 000 Schweizer Franken als Aktiengesellschaft und designiertes Grossunternehmen.116 Unkonventionell und unerschrocken hatte Charles Page amerikanische Freunde117 als Aktionäre seiner Milchgesellschaft um sich geschart, obwohl er noch über kein technisches Verfahren verfügte, um seine Vision zu verwirklichen. Parallel zur Gründung seines Unternehmens beauftragte er deshalb seinen jüngeren Bruder George, verschiedene Kondensmilchproduzenten in den Vereinigten Staaten aufzusuchen und näheres über deren Herstellungsverfahren herauszufinden. Ebenso wurde George von Charles angewiesen, bei Gail Borden Informationen zur Herstellung von Instantkaffee zu erlangen.

Auf diese Weise kam George Page mit Borden und anderen Milchsiedern in Kontakt. Diese klärten ihn erstaunlich freizügig über ihre Produktionsmethoden auf, da sie ihre Kondensmilch nur in Amerika absetzten und die Gebrüder Page in Europa nicht als Konkurrenten betrachteten. Es war allerdings nicht einfach, aus ihren Erklärungen schlau zu werden, denn viele dieser leidenschaftlichen Tüftler arbeiteten ohne klare Formeln und Rezepte. Trotzdem eignete sich Page immer mehr technisches Wissen an und begann daraus sein eigenes Kondensmilchverfahren abzuleiten.

Als die Gebrüder Page 1867 die Produktion in Cham aufnahmen, stellte ihre Siederei das erste Kondensmilchunternehmen in Europa dar.118 Wie die weltmännisch klingende Firmenbezeichnung Anglo-Swiss Condensed Milk Company erahnen lässt, visierten sie von Anfang an eine internationale Kundschaft an.119 Den hauptsächlichen Absatzmarkt sahen sie im frischmilcharmen Grossbritannien, wo die Milch als tägliches Lebensmittel immer wichtiger wurde: Mit der wissenschaftlichen Propagierung der Milch120 als besonders nährreiches «Volksnahrungsmittel» begannen wohlhabende Haushalte in den englischen Grossstädten regelmässig Milch vom Lande zu beziehen. In den Industriezentren war die Milch damals aber oft von schlechter Qualität, mit Wasser gepanscht oder von gefährlichen Krankheitskeimen durchsetzt.121 Deshalb erfreute sich die gezuckerte Kondensmilch der Anglo-Swiss, welche 1867 an der Weltausstellung in Paris und 1868 an der «Exposition Maritime» in Le Havre für ihre hohe Qualität Auszeichnungen erhielt, in den englischen Industriestädten sofort einer grossen Nachfrage. Aber auch als Proviant auf den neuen Ozeandampfschiffen gewann die eingedickte Zuckermilch rasch an Bedeutung, wodurch sich das Produkt in kurzer Zeit auf der ganzen Welt verbreitete.122

Bereits im ersten Jahr konnten 137 000 Dosen gezuckerte Kondensmilch unter der Marke Milkmaid123 abgesetzt werden. Die Chamer Milch war zwar teuer, lag aber voll im Trend der damaligen Zeit, was es dem Unternehmen dank seiner Vormachtstellung in Europa ermöglichte, beeindruckende Dividenden von bis zu 20 Prozent auszuschütten.

Es fiel der Anglo-Swiss deshalb auch leicht, zur Vergrösserung des Unternehmens und der Festigung seiner Marktstellung in Grossbritannien und Europa zusätzliche Investoren zu finden: Zwischen 1866 und 1875 stieg das Aktienkapital der Gesellschaft von 100 000 Schweizer Franken auf 2000 000 Schweizer Franken an.

Obwohl zahlreiche europäische Kondensmilchfabriken124 der Anglo-Swiss das Monopol streitig zu machen versuchten, war keine der Geschwindigkeit, mit der sich das Chamer Unternehmen ausdehnte, und seiner Kapitalkraft gewachsen. Während die Milchsiederei in Niederarnegg (in der Nähe von Gossau) und die Schweizerische Milchgesellschaft Moléson in Düdingen von der Anglo-Swiss aufgekauft wurden, mussten andere ihre Existenz während der Finanzkrise von 1873 aufgeben.125

Die schwere Wirtschaftskrise, welche nach einer mehrjährigen Wachstumsphase zwischen 1873 und Mitte der 1890er-Jahre zu sinkenden Preisen von Agrargütern führte, liessen den Ruf nach staatlichen Schutzzöllen der einheimischen Landwirtschaft vor billigen, ausländischen Importgütern laut werden.126 Damit zeichnete sich wirtschaftspolitisch eine zunehmende Abschottung der einzelnen Nationalökonomien ab. Die Anglo-Swiss begann deshalb in Grossbritannien, wo sie damals 75 Prozent ihrer Milchdosen absetzte, eigene Produktionsstandorte aufzubauen: Nachdem sie bereits 1869 in London eine eigene Verkaufsniederlassung gegründet hatte, errichtete sie 1874 eine neue Produktionsanlage in Chippenham und übernahm im gleichen Jahr die English Condensed Milk Company mit Fabriken in Middlewich und Aylesbury. Ebenso errichtete die Anglo-Swiss 1874 eine Produktionsstätte in Lindau am Bodensee.127 Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company war damit bereits 1874 ein multinationales Unternehmen. Die Schweiz blieb aber das wichtigste Produktionsland des Unternehmens.128

Mit der Übernahme des Hauptkonkurrenten in Grossbritannien erwarb die Anglo-Swiss 1874 ein Verfahren zur Herstellung eines mit Kakao aromatisierten Milchgetränks. Dies brachte die Unternehmensleitung wieder auf den Gedanken zurück, unter ihrer Qualitätsmarke Milkmaid aromatisierte Milchgetränke auf den Markt zu bringen. Da diese ohne grossen Aufwand mit denselben Produktionsmethoden wie die gezuckerte Kondensmilch hergestellt und damit «Economies of Scope» genutzt werden konnten, entschied sich die Anglo-Swiss schliesslich, drei Varianten in ihr Sortiment aufzunehmen: 1875 lancierte das Unternehmen neben Cocoa & Milk zusätzlich auch Chocolate & Milk und Coffee & Milk.129

Bei Cocoa & Milk und Chocolate & Milk handelte es sich um Mischungen aus Frischmilch, Zucker und Kakao, die unter Vakuumpfannen wie die gezuckerte Kondensmilch zu einer zähflüssigen Masse eingedickt wurden.130 Analog dazu stellte die Anglo-Swiss vermutlich auch Coffee & Milk her, wobei sie anstelle des Kakaos Kaffeebohnen und Zichorien beigab. Vom Produktionsverfahren her scheint der Milchkaffee der Anglo-Swiss also mit Bordens Kaffee-Kondensmilch verwandt gewesen zu sein. Zudem liessen sich seine rasch ansteigenden Verkaufszahlen wie bei Borden in erster Linie drauf zurückführen, dass Coffee & Milk den Russen im Russisch-Osmanischen Krieg als Soldatenverpflegung diente.

In England dagegen sah sich das Produkt einer starken Konkurrenz gegenüber, deren Erzeugnisse qualitativ besser waren. Dies traf insbesondere auf das Kaffeeprodukt von W. P. Branson zu, welches selbst Mrs. Lippincott, die Frau des Direktors der Anglo-Swiss in Aylesbury, besser fand als dasjenige des eigenen Unternehmens. Problematisch an den Kakao- und Kaffeekonserven der Anglo-Swiss waren vor allem ihre unausgereiften Verfahrenstechniken und geschmacklichen Eigenschaften: Händler reklamierten, Cocoa & Milk sei zu süss, während bei Coffee & Milk der Kontakt des Kaffee-Extrakts mit Eisen beim Abfüllprozess zu Oxidationen führte, welche beim Öffnen der Dosen einen unangenehmen Geruch verbreiteten. In beiden Fällen mussten die Rezepturen abgeändert werden, wobei die Kaffeebohnen und Zichorien in Coffee & Milk ab 1879 durch eine billigere Kaffee-Essenz131 ersetzt wurden.

Anstatt des erwarteten Wachstumsschubs stagnierten die Umsatzzahlen jedoch mit diesen neuen Rezepturen. Mit einem bescheidenen Umsatz von unter 20 000 Kisten pro Jahr132 generierten die Milchkaffee- und Milchkakaodosen, die vorwiegend in Grossbritannien verkauft wurden, etwa fünf Prozent des Gesamtumsatzes der Anglo-Swiss.133


Abbildung 1: Wie der Etikette von Coffee & Milk um 1900 zu entnehmen ist, handelte es sich bei diesem Produkt um eine schwer lösliche Mischung aus reiner Kondensmilch, reinem Zucker und reinem Kaffee. Bereits damals wurde auf die leichte, bequeme und sparsame Zubereitung hingewiesen.

Der Konkurrenzkampf auf dem Kindernahrungsmittel-Markt

«Wir glauben, dass unsere Artikel auf Schiffen, in Hospitälern, für kleine Kinder und in den Haushaltungen aller grossen Städte gebraucht werden, sobald das Publikum damit bekannt wird und dessen Reinheit, Gesundheit, Bequemlichkeit und Oekonomie kennen lernt»,134 analysierte die Anglo-Swiss 1868 die Marktchancen ihrer gezuckerten Kondensmilch. Allerdings stand sie nicht alleine in diesem Marktsegment. Im Bereich der Kindernahrung entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Produkte, die auf Milch basierten und eine Konkurrenz darstellten:135

Im Sommer 1864 mischte Justus von Liebig eine Milchsuppe aus Kuhmilch, Malz,136 Weizenmehl und Kaliumkarbonat für seine Tochter, die nicht stillen konnte. Nach der Veröffentlichung des Rezepts 1865 inspirierte Liebigs Milchsuppe zahlreiche Chemiker und Apotheker, ebenfalls auf diesem Gebiet tätig zu werden. Zu ihnen gehörten unter anderen James Horlick, ein Apotheker aus Gloucestershire in England, der hessische Chemiker Georg Wander in Bern und der Frankfurter Apotheker Heinrich Nestlé in Vevey, der sich in der Westschweiz Henri Nestlé nannte.137

Horlick und Wander begannen Nahrungs- und Stärkungsmittel für Kinder und Kranke herzustellen, indem sie Milch mit Malz mischten: Während Horlick in den 1870er-Jahren für die Mellin Company138 in Chicago arbeitete und Horlick’s Malted Milk aus getrockneter Milch und Malz erfand,139 beschäftigte sich Georg Wander mit der Malzextraktion unter Vakuum und begann diese Malzextrakte mit Milch, Eiern, Hefe und Kakao zu vermengen. Sein Sohn Albert Wander brachte die Mischung 1904 als Ovomaltine auf den Markt, die als Malz- oder Kakaogetränk, wie sie von der Reformbewegung propagiert wurden, in der Schweizer Bevölkerung sofort gute Aufnahme fand. Als «Nährschokolade» stellte die Ovomaltine ebenso wie der Zichorienkaffee oder Kräutertee eine eigene Produktkategorie dar, die gleichzeitig auch als gesunder «Kakaoersatz» der Reformbewegung gesehen werden kann.140

Einen anderen Ansatz als Horlick und Wander verfolgte dagegen Henri Nestlé: Wie bei der Herstellung von gezuckerter Kondensmilch dickte er Milch und Zucker zu einer Milchpaste ein und entwickelte diese nach dem Vorbild von Liebigs Säuglingssuppe zu einem wissenschaftlich anerkannten Kindernahrungsmittel weiter. Dabei vermengte er die eingedickte Zuckermilch mit einem Brotbrei, der nach einem speziellen Verfahren ohne Zugabe von Malz hergestellt wurde. Der trockenen Mischung gab er zusätzlich Kaliumkarbonat bei und siebte und mahlte diese anschliessend zu einem feinen Pulver, das er «Kindermehl» nannte.141

1868 lancierte er Nestlé’s Kindermehl gleichzeitig in der Schweiz und in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main, wo sein Produkt sofort einen guten Ruf genoss.142 Obwohl die Schweiz, Deutschland und Frankreich in den ersten Jahren die bedeutendsten Absatzmärkte waren, wurde Nestlés Kindernahrung rasch auch ausserhalb Europas bekannt: 1873 wurde Nestlé’s Kindermehl erstmals auf allen fünf Kontinenten verkauft, unter anderem in den Vereinigten Staaten, Russland, Australien, Argentinien, Ägypten und Niederländisch Indien.143

Nestlés Erfolg brachte den Verwaltungsrat der Anglo-Swiss auf den Gedanken, ebenfalls ein Kindermehl herzustellen.144 Dabei trafen zwei Konkurrenten mit sehr unterschiedlichen Unternehmensphilosophien aufeinander: Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company lässt sich als Grossunternehmen charakterisieren, wie es Chandler in «Scale and Scope»145 beschreibt. Ihr Erfolg beruhte auf der Massenproduktion, indem sie ein qualitativ gutes Produkt rationell herstellte und sich aufgrund ihrer Grösse und Kapitalkraft eine Monopolstellung sichern konnte.146 Andererseits wies das Unternehmen mit Sitz am Zugersee bei der Vermarktung und im Bereich der Innovation Defizite auf: George Page hielt nicht viel von Werbung und ging sehr sparsam damit um,147 gleichzeitig fehlte der Gesellschaft das nötige physiologische und chemische Wissen, um beispielsweise Kindermehl selber herzustellen. Die Technik musste deshalb 1877 durch die Übernahme einer Kindernahrungsmittel-Fabrik in Flamatt eingekauft werden.148

Demgegenüber besass die von Henri Nestlé gegründete Gesellschaft zwar nicht das Kapital149 und die Grösse150 einer Anglo-Swiss, verfügte dafür über wissenschaftlich fundiertes technisches Wissen und vermochte damit eine Marke mit hoher fachlicher Anerkennung aufzubauen.151 Nestlé operierte zwar mit bescheideneren Umsatzzahlen als die Anglo-Swiss, dafür aber mit höheren Gewinnmargen.152

Bereits 1878 erhielt der Angriff der Anglo-Swiss auf das Kindermehl der 1875 in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Farine Lactée Henri Nestlé153 allerdings einen argen Dämpfer: Ein Jahr nach der Übernahme brannte die Kindermehlfabrik in Flamatt ab, womit die Diversifikationsanstrengungen der Anglo-Swiss auf diesem Gebiet geplatzt waren.154 Ebenso scheiterte der Versuch, Nestlé zu kaufen, während George Page das Angebot einer gemeinsamen Fusion kategorisch ablehnte.155

Weit gravierender war jedoch, dass sich die Nestlé den Angriff auf ihr Kindermehl nicht bieten liess und im Gegenzug ins Kerngeschäft der Anglo-Swiss vordrang, indem sie ebenfalls gezuckerte Kondensmilch zu produzieren begann. Von diesem Moment an entbrannte ein erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den beiden Unternehmen: Die Anglo-Swiss versuchte aufgrund ihrer Skalenerträge, Nestlé in einen Preiskampf zu verwickeln, und senkte ihre Preise um 2 Franken 40 Rappen pro Kiste, worauf das Unternehmen aus Vevey mit einem noch tieferen Preis konterte, was sich das Unternehmen aus Vevey aufgrund der Gewinne mit Kindermehl leisten konnte. Ausserdem strahlte die starke Marke, welche sich Nestlé im Bereich des Kindermehls aufgebaut hatte, auch auf das Kondensmilchgeschäft aus. Umgekehrt gelang es der Anglo-Swiss nicht, eine gut durchdachte Werbekampagne zu organisieren. Viele Detaillisten beklagten sich über die nervöse Preis- und Markenpolitik der Anglo-Swiss und wandten sich vom Unternehmen ab, was sich auch auf die Umsatzzahlen niederschlug: Zwischen 1885 und 1890 konnte Nestlé ihren Kondensmilchumsatz verdreifachen und auf Kosten der Anglo-Swiss Marktanteile gewinnen, während der Absatz des Chamer Unternehmens in derselben Zeitspanne um einen Drittel einbrach.156

Der Konkurrenzkampf zwischen Nestlé und der Anglo-Swiss zeigt, dass Skalenerträge alleine noch kein Erfolgsrezept sein mussten und technisches Wissen und der Aufbau von starken Marken mindestens ebenso wichtig sein konnten. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, schlitterte die Anglo-Swiss durch die Defizite in den beiden letztgenannten Bereichen immer mehr in die Krise, die schliesslich zur Fusion mit Nestlé führte.

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