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Quellenlage und Quellenkritik

Die Quellenlage zur Geschichte von Nestlé und Nescafé ist allgemein gut, wobei es starke Unterschiede zwischen den einzelnen Zeitperioden gibt. Die grösste Sammlung an Quellen befindet sich in den Archives Historiques Nestlé (AHN) in Vevey. Daneben verfügen gewisse Tochtergesellschaften und Nestlés strategische Geschäftseinheiten (SBU) über kleinere Archive.

Die vorliegende Arbeit stützt sich vorwiegend auf Quellen aus den Archiven in Vevey. Der Blickwinkel beschränkt sich dadurch auf Vorgänge, die für den Hauptsitz relevant waren. Der Fundus gibt aber trotzdem eine ausgezeichnete Globalübersicht. Neben den öffentlichen Jahresberichten wurden in dieser Arbeit vier verschiedene Quellensammlungen ausgewertet, welche die Geschichte von Nestlé und Nescafé aus der Innensicht des Unternehmens beleuchten:

Die erste Quellensammlung bilden die Berichte an den Verwaltungsrat (Rapports au Conseil d’Administration). Sie sind im Untersuchungszeitraum zwischen 1921 und 1980 – mit einigen Ausnahmen in der Zwischenkriegszeit – durchgängig vorhanden. Sie geben wichtige Anhaltspunkte über die allgemeine Geschäftslage des Unternehmens, gehen aber oft nicht über einen groben Überblick hinaus. Für die Zeit zwischen 1921 und 1945 stellen die Verwaltungsratsberichte die wichtigste interne Informationsquelle dar. Der Grund dafür liegt darin, dass bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Teile des Nestlé-Archivs einerseits in die Vereinigten Staaten transferiert wurden und von diesen nur ein Bruchteil wieder zurück kam, andererseits ein Teil als Vorsichtsmassnahme vor einer Invasion der Deutschen vernichtet wurde. Bereits 1950 stellte ein Nestlé-Mitarbeiter fest, dass die Nestlé-Akten aus den 1930er-Jahren unvollständig seien.112

Quellen mit detaillierteren Informationen findet man erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dossiers der Generaldirektion (SG), wobei in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen der Generaldirektion der Unilac in Stamford und derjenigen in Vevey unterschieden wird. Die Dossiers der Generaldirektion sind nach einzelnen Ländern und Themenbereichen geordnet und enthalten Korrespondenzen zwischen den einzelnen Abteilungen des Hauptsitzes in Vevey und den weltweit verteilten Tochtergesellschaften des Unternehmens sowie Berichte über die Marktverhältnisse in den einzelnen Ländern. Sie geben wichtige Aufschlüsse über Probleme, mit denen das Unternehmen auf den einzelnen Märkten zu kämpfen hatte. Abgesehen von einigen Aktien, die aus Platzgründen vernichtet wurden, sind die Dossiers der Generaldirektion durchgehend bis in die 1980er-Jahre erhalten geblieben.

Eine wichtige Quellensammlung ist ebenfalls diejenige der Marketing-Zirkulare (Circulaires Continent, Circulaires Export und Communication Marketing). Über diese Schriften leitete die Marketing-Division in Vevey Marktinformationen weiter: Erfahrungen aus einem bestimmten Land wurden mit ihnen auch den Nestlé-Tochtergesellschaften in anderen Ländern zur Verfügung gestellt. Die Marketing-Zirkulare enthalten wichtige Informationen zur konkreten Vermarktung der einzelnen Markenprodukte und vermitteln Beispiele und Ideen von erfolgreichen Werbeaktionen aus verschiedenen Ländern. Aus historischer Sicht ist mit diesen Quellen insofern kritisch umzugehen, als sie vorwiegend positive Beispiele erwähnen und deshalb zu einer ausgewogenen Betrachtung oft einer kritischen Ergänzung bedürfen.

Stark verbunden mit der Vermarktung ist ebenfalls die Werbemittelsammlung. Sie dokumentiert Nestlés Werbekampagnen zwischen den 1930er-Jahren und 1990. Ab den 1990er-Jahren wurde diese Werbesammlung nicht mehr zentral in Vevey, sondern dezentral in den einzelnen Archiven der Tochtergesellschaften oder denjenigen der strategischen Geschäftseinheiten abgelegt. Dies führte zusammen mit der Tatsache, dass durch den zunehmenden elektronischen Informationsaustausch immer weniger Fakten auf Papier festgehalten werden, zur paradoxen Situation, dass die Vorgänge in den letzten 20 Jahren oftmals schwerer zu rekonstruieren waren als in den Jahren zuvor. Trotzdem liess sich anhand von Akten im Archiv der «Strategischen Geschäftseinheit Getränke» (SBU) und Interviews mit Angestellten die jüngere Geschichte der Marke Nescafé in groben Zügen nachzeichnen. Sie wird aber – auch aufgrund der Archivschutzfrist von 30 Jahren – weniger eingehend dargestellt werden können.113

Um die interne Sicht zu kontrastieren, wurden zudem auch externe Quellen beigezogen: dazu zählen Zeitungsartikel über Nestlé aus dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel (SWA) sowie Quellen aus den Unternehmensarchiven der Wander AG und den Archives de la Ville de Neuchâtel (AVN), welche die Sicht der Konkurrenz dokumentieren.

Ergänzt werden die qualitativen Quellen durch quantitative Daten, mit welchen sich das Ausmass von Veränderungen erst richtig einschätzen lässt. Die Angaben über Umsätze und Marktanteile sind allerdings mit der nötigen Vorsicht zu handhaben.114 Zudem geben Nestlés Geschäftsberichte aufgrund der komplexen Unternehmensstruktur, teilweise fehlender Informationen während des Zweiten Weltkriegs sowie der minimalistischen Berichterstattung bis etwa 1970 nur bedingt Einblick in den tatsächlichen Zustand des Unternehmens. Nestlé weigerte sich noch in den 1960er-Jahren standhaft, konsolidierte Konzernbilanzen vorzulegen – ganz zum Ärger der Aktionäre: Laut dem US-Magazin «Forbes» war Nestlé gegenüber der Öffentlichkeit «so informativ wie ein Grammophon ohne Schallplatte!».115 Das Schweizer Lebensmittelunternehmen konnte sich diese Informationspolitik jedoch leisten, da ihre Finanzpolitik abgesehen von der Kapitalerhöhung 1959 von einer strikten Selbstfinanzierung geprägt war.116

Aufbau der Arbeit

Die Wachstumsdynamik von Nestlé und Nescafé wird in fünf Kapiteln chronologisch nachgezeichnet, wobei jedes Kapitel eine neue Entwicklungsstufe des Instantkaffees und eine neue Wachstumsphase des Unternehmens markiert.

Das erste Kapitel schildert die Entstehung von Nescafé und der Nestlé & Anglo-Swiss anhand des weltweiten Warenaustauschs und der Mischung von Milch mit Kaffee: Während multinational agierende Handelsgesellschaften Kolonialwaren wie Kaffee, Tee und Kakao aus Afrika, Asien und Lateinamerika nach Europa brachten, ging die Schweizer Milch Ende des 19. Jahrhunderts den umgekehrten Weg von Norden nach Süden. Die Passage zeigt, wie dies nicht nur zum Aufstieg der Nestlé & Anglo-Swiss zu einem global agierenden Milchunternehmen führte, sondern auch zu neuen Produkten wie der Milchschokolade und ersten Formen von Instantkaffee- und Kakaogetränken wie Nestlés Cocoa & Milk und Coffee & Milk, die als wichtige Vorläufer des in den 1930er-Jahren entwickelten Nescafés gesehen werden können.

Das zweite Kapitel beschreibt, wie die Marke Nescafé während des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgebaut, lanciert und positioniert wurde und sich bis Mitte der 1950er-Jahre als ökonomisches Hauptprodukt des Unternehmens etablierte. Ein besonderes Augenmerk wird dabei zwei technischen Aspekten geschenkt: einerseits der Weiterentwicklung des Nescafés zu einem Instantkaffee, der nur aus Kaffeebohnen hergestellt wurde. Andererseits der Übertragung dieses technischen Wissens auf weitere Pulverprodukte wie Nestea oder Nesquik.

Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht der Durchbruch des Instantkaffees und der Zweikampf zwischen Nescafé und der US-Marke Maxwell House während des Wirtschaftsaufschwungs in den 1950er- und 1960er-Jahren und der Verbreitung des «American Way of Life» in Europa. Besondere Beachtung erhalten dabei die internationale Ausbreitung und lokale Anpassung von Nestlés Pulvergetränken, die qualitative Verbesserung des Pulverkaffees mit dem Gefriertrocknungsverfahren (Nescafé Gold) sowie die Gründe für Nestlés Wachstum zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt.

Das vierte Kapitel ist im ersten Teil geprägt von Krisen und dem soziokulturellen Gesellschaftswandel in den 1970er-Jahren, die zu hohen Kaffeepreisen und massiver Kritik an Nestlés Geschäftspraktiken führten und den Ruf nach einer grösseren und individuelleren Produkteauswahl laut werden liessen. Der zweite Teil schildert die Verschmelzung dieser Forderungen mit der Rückkehr zu einem konservativeren Lebensstil, die eine Renaissance des Röstkaffees und eine wachsende Anzahl hochwertiger Kaffeespezialitäten (Espresso, Cappuccino, Caffè Latte und aromatisierte Kaffeesorten) zur Folge hatte. Spezielle Aufmerksamkeit wird dem steigenden Einfluss von Süssgetränken (Softdrinks) auf die Konsumgewohnheiten von Kaffee, Tee und Kakao, aber auch der Reorganisation und der nachfolgenden Erweiterung des Markensortiments beziehungsweise Diversifikation des Unternehmens geschenkt.

Das letzte Kapitel reicht vom Fall des Eisernen Vorhangs 1989 bis in die Gegenwart. Es beleuchtet das rasante Wachstum von Nescafé in Asien und Osteuropa und die Automatisierung der Kaffeeherstellung mit Kaffeekapseln (Nescafé Dolce Gusto) in den Industrieländern. Ein weiterer Fokus liegt ausserdem auf der zunehmenden Aufladung von Marken mit Wertehaltungen: Die Frage, wie ein Produkt hergestellt wird (gerechter Handel und nachhaltige Produktion) und welche Werte es vertritt, wurde in den letzten Jahren immer wichtiger und führte dazu, dass Marken holistische Züge annahmen. Zugleich erhielten Gesundheitsaspekte mit dem Wandel des Nestlé-Konzerns in Richtung einer Wellness-Company eine zentrale Position innerhalb des Unternehmens, das sich in den letzten Jahren in vielen Bereichen der Lebensmittelindustrie eine führende Stellung verschaffte und heute breit abgestützt ist.

Kolonialwaren und Kondensmilch – weshalb Nescafé von einem Schweizer Milchunternehmen entwickelt wurde (1866–1937)
Vom Süden in den Norden – Kolonialwaren werden zu Industrieprodukten
Die Verbreitung und kulturelle Aneignung von Kaffee, Tee und Kakao

Kaffee, Tee und Kakao zählen heute zu den weltweit am meisten konsumierten Getränken.1 Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus Früchten2 oder Blättern3 von Pflanzen gewonnen werden, die zwischen dem nördlichen und dem südlichen Wendekreis heimisch sind4 und zum Selbstschutz vor pflanzenschädigenden Pilzen, Bakterien und Insekten Koffein enthalten.5

Ursprünglich stammen die drei Heissgetränke aus drei verschiedenen Kontinenten: Während die Kaffeepflanze vermutlich zuerst auf dem afrikanischen Kontinent im südlichen Äthiopien beheimatet war und von dort aus auf die arabische Halbinsel nach Jemen gelangte,6 wurde Kakao bei den Hochkulturen der Maya und Azteken in Mittelamerika konsumiert.7 Die Anfänge der asiatischen Teepflanze liegen im heutigen Grenzgebiet zwischen Myanmar, Thailand, Indien und China.

Von diesen Ausgangsorten aus begannen sich die drei koffeinhaltigen Getränke überregional auszubreiten. Während der Teeanbau neben China auch in Japan kultiviert wurde,8 kam der Kaffee durch die Eroberung der jemenitischen Tiefebene durch die Türken bald im ganzen Osmanischen Reich und Mittleren Osten in Mode, wo er in öffentlichen Kaffeehäusern und von Strassenhändlern angeboten wurde.9 Im 17. Jahrhundert gelangte das orientalische Getränk über venezianische Kaufleute und die Ostindischen Handelskompanien auch nach Europa und Nordamerika, wo um 1650 erste Kaffeehäuser eröffnet wurden.10

Nachdem es der niederländischen Ostindischen Kompanie 1616 trotz striktem Ausfuhrverbot gelungen war, einen Kaffeestrauch aus Jemen in die Niederlande zu schmuggeln,11 begann die weltweite Ausbreitung und Kultivierung des Kaffeeanbaus als «ein von europäischen Interessen diktierter Prozess»,12 wie Ulla Heise schreibt. Die niederländischen Kaufleute importierten die Kaffeepflanze in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in ihre asiatischen Kolonien. Über Frankreich fand die afrikanische Pflanze 1715 den Weg nach Amerika und von dort unter dem Deckmantel der Diplomatie 1727 nach Brasilien. Die Spanier brachten den Kaffeebaum schliesslich in ihre Kolonien auf den Philippinen (1740) und Kuba (1748) sowie nach Mexiko und Kolumbien (1790).

Um 1800 waren damit wesentliche Anbaugebiete, die sich heute als Kaffeegürtel zwischen den beiden Wendekreisen um den Erdball ziehen, durch die europäischen Handelsgesellschaften und Kolonialmächte erschlossen worden.13 Dadurch formte sich ein vielfältiges Angebot an Kaffeesorten aus verschiedenen Regionen aus, denn ähnlich wie beim Wein bilden auch die Kaffeebohnen je nach Anbaugebiet und Kaffeesorte einen unterschiedlichen Geschmack aus: Die im Hochland angebaute Coffea Arabica l. entwickelt einen sehr differenzierten, aromareichen Geschmack, während sich mit der in tieferen Regionen angebauten Coffea Canephora l. ein scharfer und stark koffeinhaltiger Kaffee gewinnen lässt, dem allerdings im Vergleich zum Arabica-Kaffee die feine Geschmacksdifferenzierung fehlt.14

Trotz den wachsenden Anbauflächen auf den Kaffeeplantagen der europäischen Kolonien blieb der weltweite Kaffeekonsum in der frühen Neuzeit im Vergleich zu heute allerdings relativ gering.15 Dafür gab es im Wesentlichen drei Gründe:

Erstens wurde der Kolonialwarenhandel von mächtigen Akteuren wie Nationalstaaten und multinational agierenden Handelsgesellschaften16 geprägt: Während die britische Ostindienkompanie (EIC) im 17. Jahrhundert den Teehandel mit China zu dominieren begann,17 besass die niederländische Ostindienkompanie (VOC) im Kaffeegeschäft eine bedeutende Stellung,18 und die Seefahrernationen Spanien und Portugal entwickelten sich zu den wichtigsten Protagonisten im internationalen Kakaohandel.19 Dabei zeigten die staatlich privilegierten Handelsgesellschaften ein monopolistisches Marktverhalten,20 und die europäischen Nationalstaaten belegten die Kolonialwaren mit so hohen Steuern, dass sie für den Verbraucher Luxuswaren darstellten.21 Der Kaffee- und Teegenuss blieb daher der Ober- und Mittelschicht vorbehalten, während das Schokoladegetränk nur für die aristokratische Minderheit erschwinglich war.22 Ausserdem war der Konsum von Kaffee und Tee in vielen deutschen Ländern verboten, weil die Staaten aus merkantilistischen Wirtschaftsüberlegungen einen Abfluss grosser Geldmengen ins Ausland verhindern wollten.23

Zweitens gestaltete sich die Kaffeezubereitung im 17. und 18. Jahrhundert noch wesentlich zeitaufwendiger und komplizierter als heute. Die Kaffeebohnen mussten zuerst in Röstzylindern geröstet und anschliessend mit Kaffeemühlen zerkleinert werden.24 Das Kaffeerösten erforderte dabei grosses Fingerspitzengefühl: Der Kaffee war schnell verbrannt, was zu einem unangenehmen Geruch und auch einem schlechten Geschmack führte. Bei zu kurzer Röstung dagegen blieben die Bohnen im Innern roh, liessen sich kaum mahlen und hatten weder Geschmack noch Aroma,25 weil die hellgrüne Kaffeebohne ungeröstet noch praktisch geschmacklos ist.26 Kaffee wurde deshalb vorwiegend in der höfischen Aristokratie – wo Bedienstete vorhanden waren – und auswärts im öffentlichen Kaffeehaus konsumiert.27

Drittens war die physiologische Wirkung des Kaffees auf den menschlichen Körper umstritten,28 und das schwarze Getränk schmeckt für den Konsumenten, der mit ihm nicht vertraut ist, unangenehm und bitter. Erst der regelmässige Konsum sensibilisiert für seinen Geschmack, weshalb in der Wissenschaft auch von einem «angeeigneten Geschmack» gesprochen wird.

Entscheidend für die weltweite Verbreitung und Beliebtheit des Kaffees waren daher weniger sein Geschmack oder seine Physiologie, sondern vielmehr seine kulturelle Aneignung und Funktion:29 «Jede Nation hat fast ihre eigene Art, den Kaffee zu trincken»,30 vermerkte Krünitz im späten 18. Jahrhundert in seiner Ökonomischen Enzyklopädie. Während die Türken und Araber beispielsweise den Kaffee nach dem Rösten, Mahlen und Aufgiessen normalerweise samt dem Kaffeesatz zu sich nahmen, wurde im europäischen Raum der gefilterte Kaffee bevorzugt.31 Eine weitere Form der kulturellen Aneignung stellten Kaffeesurrogate wie der Zichorienkaffee dar. Aufgrund der Tee- und Kaffeeverbote wurde seit den 1770er-Jahren in verschiedenen deutschen Ländern aus den Wurzeln der Wegwarte ein geröstetes Pulver hergestellt, das in heissem Wasser einen ähnlichen Geschmack und Geruch wie Kaffee entfaltete.32 Sinnbildlich weist das Warenzeichen der ersten Zichorienfabrik in Braunschweig auf die wirtschaftspolitische und medizinische Begründung für den Konsum von Zichorienkaffee hin: «Ohne euch gesund und reich» stand auf einem Spruchband, während ein deutscher Landmann im Vordergrund Zichoriensamen aussäte und im Hintergrund ein mit teurem Kolonialkaffee beladenes Schiff vor einer Palmenlandschaft im Meer trieb.33 Dabei stellte der Zichorienkaffee eine Neuinterpretation des bereits existierenden Zichoriengetränks dar, dem man in jedem Fall Milch beigab, um den bitteren Geschmack zu mildern.34 Vielfach wurden solche Produkte von medizinischen Erörterungen begleitet, welche die schädliche Wirkung des koffeinhaltigen Bohnenkaffees darlegten und stattdessen das Surrogat als «Gesundheitskaffee» empfahlen.35 Analog dazu entwickelten sich Teesurrogate wie Früchte- oder Kräutertees, die ebenfalls zu Heilzwecken oder aus Gesundheitsgründen verwendet wurden.36

Kaffee- und Teesurrogate trugen wesentlich dazu bei, dass sich der Genuss von Kaffee und Tee als Statussymbol der Reichen und Mächtigen auch in den unteren Bevölkerungsschichten auszubreiten vermochte, indem die beiden Kolonialprodukte zur Verbilligung mit Zusatzstoffen gestreckt wurden. Bis Ende des 18. Jahrhunderts fand der Zichorienkaffee im Gebiet des heutigen Deutschland, in den Niederlanden, der Schweiz sowie in Frankreich und Grossbritannien Verbreitung.37

Die bedeutendste und offensichtlichste kulturelle Anpassung war jedoch, dass dem Kaffee, Tee und Kakao im europäischen Raum Milch und Zucker beigemischt wurde, um die Heissgetränke zu süssen und ihre Bitterkeit zu mildern.38 Ursprünglich tranken die Chinesen den Tee nämlich als Grüntee und ohne die Beigabe von Milch und Zucker. Als China im 17. Jahrhundert jedoch den aus Zentralasien einfallenden Mongolen in die Hände fiel und diese den Tee mit Milch mischten, erhielt der Schwarztee immer mehr Zuspruch. Da sich der Schwarztee auf den langen Seefahrten besser konservieren liess als Grüntee, bevorzugten auch die Engländer später die vollständig fermentierte Sorte mit Milch.39 Die mongolische Gewohnheit wurde also von den europäischen Chinareisenden nach Europa übertragen: «[…] schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts genossen etwa die Franzosen ihren Tee ‹à la Chinoise›, was bedeutete, dass Milch nach der Art der Mongolen hinzugefügt wurde»,40 schreibt Martin Krieger. Die Empfehlung, Tee und Kaffee mit Milch zu mischen, findet sich ebenfalls in den Briefen der Marquise de Sévigné Ende des 17. Jahrhunderts wieder. Da unverarbeitete Milch rasch verdirbt, wurde sie damals wohl noch als Sauermilch beigegeben.41

Ebenso scheint die bittere Trinkschokolade nach aztekischer Art – bei welcher der Kakao zusätzlich mit Gewürzen gemischt wurde – den spanischen Kolonisten wenig geschmeckt zu haben. Nur zögerlich begannen sie das mittelamerikanische Getränk zu konsumieren. Erst als ihm süsser Zucker, Zimt und Vanille beigegeben wurde, erhielt die Trinkschokolade grösseren Zuspruch. Weil sie einen hohen Fettgehalt aufwies, der oft Verdauungsprobleme verursachte, wurde ihr gegen Ende des 17. Jahrhunderts ebenfalls warmes Wasser oder Milch beigegeben, damit das Getränk bekömmlicher wurde.42

Erst mit Milch und Zucker gemischt, konnten die drei aus den Tropen stammenden Getränke in Europa und Amerika grössere Verbreitung gewinnen.43 Seither existiert eine starke Verbindung zwischen der Milch und den drei Heissgetränken Kaffee, Tee und Kakao, welche die weitere Entwicklung der vier Produkte prägte.

Die Eingliederung der drei Heissgetränke in die Alltagskultur des 19. Jahrhunderts

Bereits in der Frühen Neuzeit verzeichnete der Kaffeehandel beachtliche Zuwachsraten. Aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlangte der Kaffee breitere Popularität,44 als die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse im Zuge der ersten Globalisierungswelle zusehends dynamischer wurden.45 Das Prinzip der Selbstversorgung, welches für eine agrarisch dominierte Gesellschaft kennzeichnend war, wurde mit der einsetzenden Industrialisierung zugunsten einer räumlichen Spezialisierung der Wirtschaft aufgegeben.

Die Lebensweise in Europa und Nordamerika veränderte sich dadurch tiefgreifend: Die Arbeit in der Fabrik führte zu einer immer grösseren Nachfrage nach vorgefertigten und haltbaren Lebensmitteln, denn durch die langen Arbeitszeiten fehlte die Zeit für die Nahrungszubereitung zu Hause. Auf dieser Grundlage entfaltete sich die Lebensmittelindustrie,46 durch die sich der Kaffee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert endgültig vom Luxusprodukt zum Alltagsgetränk wandelte.47 Im Wesentlichen gab es drei Ursachen für die wachsende Beliebtheit des Heissgetränks:

Erstens verbilligte sich der Kaffee auf der Angebotsseite durch die Liberalisierung der Handelsverträge, den Abbau von Schutzzöllen sowie die Aufhebung der Navigationsakte, mit welcher 1851 die Handelsmonopole der Ostindienkompanien auf Kaffee fielen. Ebenso konnten mit neuen Transportmitteln wie der Eisenbahn und Dampfschiffen die Transportkosten wesentlich reduziert werden. Durch den Bau von Eisenbahnen ins Landesinnere wurde der Provinzstaat São Paulo zum wichtigsten Kaffeeanbaugebiet Brasiliens und Santos zum grössten Kaffeeausfuhrhafen der Welt.48 Die starke Ausweitung der Kaffeeproduktion in Lateinamerika und der Aufstieg Brasiliens zum weltweit bedeutendsten Kaffeehersteller – um 1900 wuchsen in Brasilien drei Viertel der gesamten Kaffee-Ernte – stellten eine wichtige Voraussetzung für den Siegeszug des Kaffees dar.49

Das südamerikanische Land reagierte dabei nicht einfach nur auf die Nachfrage auf dem Weltmarkt, sondern trug zur Schaffung dieser Nachfrage massgeblich bei. Denn durch die enormen Produktionsmengen sanken die Preise, und Kaffee wurde für immer grössere Bevölkerungskreise erschwinglich.50 Ausserdem führte die steigende Kaffeeproduktion in Lateinamerika zu einem wachsenden Kaffeekonsum in den Anbauregionen selbst, welcher dort traditionelle Getränke wie die Trinkschokolade oder Mate zu verdrängen begann.51

Zweitens gliederte sich der Kaffee auf der Nachfrageseite in verschiedenste Bereiche der europäischen Alltagskultur ein: Im Gegensatz zum berauschenden Bier wurde der Kaffee als ernüchterndes Getränk angesehen, das die Verständigkeit erhöht und Wahrnehmungsvorgänge beschleunigt.52 Nicht zuletzt aufgrund dieser Zuschreibung entwickelte sich der Gedankenaustausch bei einer Tasse Kaffee zu einer bürgerlichen Freizeitbeschäftigung, zu der sich die Männer ins öffentliche Kaffeehaus begaben. Die Frauen dagegen hielten das gemeinsame Kaffeekränzchen als exklusiv weibliche Angelegenheit im privaten Umfeld. Der Kaffeekonsum etablierte sich dadurch als Symbol und Habitus einer bürgerlichen Lebensführung.53

Drittens wurde der Kaffee parallel dazu in den industriellen Rhythmus der Städte integriert,54 indem das koffeinhaltige Getränk als leistungsförderndes Mittel in der modernen Arbeitswelt seinen Platz fand:55 Kaffeepausen unterbrachen die langen und monotonen Arbeitsgänge der Arbeiterschaft, wodurch das anregende Heissgetränk zu einem Medium der proletarischen Geselligkeit und zu einem Elixier der kurzfristigen Erholung wurde.56 Bei vielen Industriearbeitern verwandelte die Tasse Kaffee zudem eine kalte Mahlzeit in eine warme. Es gab Arbeiterfamilien, die tagelang nicht ordentlich zu Mittag assen, aber drei- bis viermal täglich Kaffee tranken. Das vorwiegend aus Zichorienkaffee bestehende Getränk war dabei nicht nur billiger, sondern auch zeitsparender als andere Lebensmittel und unterdrückte den Hunger und die Müdigkeit. Kartoffeln, Kaffee und Branntwein stellten laut Roman Sandgruber die Trilogie der Arbeiternahrung dar.57

Einzig im Britischen Empire, in Asien und Russland, wo Tee getrunken wurde, sowie in Spanien, wo das Schokoladegetränk sehr beliebt war, hatte der Kaffee geringen Erfolg.58 In Grossbritannien wurde der Kaffee im 18. Jahrhundert zunehmend durch den Tee verdrängt und ersetzt.59 Als 1833 schliesslich die Monopolstellung der englischen Ostindienkompanie (EIC) beseitigt wurde und das Zeitalter des britischen Freihandels begann, fielen in Grossbritannien die Teepreise. Der Teekonsum nahm daraufhin rasch zu und liess England ab 1850 zu einer Teetrinkernation werden. Entscheidend für den grossen Zuspruch auf der Insel war zudem, dass unter der britischen Krone in Ceylon und Indien neue Teeanbaugebiete entstanden und dieser Tee wesentlich günstiger war als derjenige aus China.60 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten die Engländer die asiatische Pflanze auch nach Süd- und Ostafrika. Schliesslich fand der Teeanbau auch in Lateinamerika sowie im Kaukasus Verbreitung,61 wo Russland und die Türkei ihren Teekonsum durch eigene Produktion zu decken versuchten.62

Analog zum Kaffee vergesellschaftete sich der Teekonsum auch im Britischen Empire in den Anbauländern, dem Bürgertum und der Arbeiterschaft: Mit den britischen Teepflanzungen begannen auch die Inder selber Tee zu konsumieren, der dort mit der Milch gekocht und mit viel Zucker und Gewürzen gemischt wird. Gleichzeitig sickerte im Mutterland die aristokratische Tradition der «Tea Time» als Mittelpunkt des geselligen Beisammenseins in die bürgerliche Öffentlichkeit durch, wie die Verbreitung der öffentlichen «Tea Rooms» ab den 1870er-Jahren zeigt.63 Da Tee neben Wasser das preisgünstigste Getränk in Grossbritannien darstellte, erreichte er im 19. Jahrhundert auch die ärmsten Bevölkerungsschichten, wo das anregende Getränk zusammen mit Kartoffeln und Speck zur Arbeitermahlzeit gehörte.64

Der dritte Katalysator, der den Kaffee-, Tee- und Kakaokonsum antrieb, war schliesslich die industrielle Vorfertigung, welche das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag bei der Zubereitung wesentlich verbesserte.65 Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde die teure und mühsame Handarbeit bei der Kakaoherstellung durch Röst- und Knetmaschinen ersetzt.66 Der Kakao entwickelte sich dadurch langsam von der aristokratischen Luxusware zum alltäglichen Nahrungs- und Genussmittel.67

Auch die Kaffeezubereitung wurde durch die industrielle Vorfertigung wesentlich vereinfacht. Die Kaffeesurrogatindustrie verbreitete sich dabei wesentlich früher als die Röstkaffeeindustrie. Bereits um 1800 existierten in Braunschweig – dem Zentrum der deutschen Zichorienindustrie – 25 Fabriken.68 Bis um 1900 hatte sich die Ersatzkaffee-Industrie zu einem bedeutenden Geschäft entwickelt:69 Es darf angenommen werden, dass Ende des 19. Jahrhunderts über ein Drittel aller Kaffeeprodukte im Deutschen Reich in Form von Zichorien- und anderem Ersatzkaffee verkauft wurden, der gegenüber dem Bohnenkaffee etwa viermal billiger war.70

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzten Grossröstereien auch dem mühsamen Kaffeerösten von Hand ein Ende, indem die gerösteten Bohnen direkt beim Händler bezogen werden konnten.71 Entscheidend für diese Entwicklung waren die Erfindung der selbstentleerenden Röstmaschine durch Jabez Burns (1864) und der Sezessionskrieg (1861–1965), welcher der Kaffeeindustrie in den Vereinigten Staaten zum Durchbruch verhalf.72 In den folgenden Jahrzehnten entstanden in den Vereinigten Staaten bedeutende Röstkaffeeunternehmen wie Chase & Sanborn, und 1893 begann Joel Cheek, Bohnenkaffee unter der Marke Maxwell House zu verkaufen, der sich in den Vereinigten Staaten als Qualitätsprodukt etablierte.73 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer Kaffeetrinkernation74 und stellten um 1900 weltweit das Land mit dem höchsten Kaffeeverbrauch dar.75

Auch in Europa nahm der Kaffeekonsum ab 1860 rasch zu und führte zu einer Industrialisierung der Kaffeeverarbeitung. Im späten 19. Jahrhundert entfaltete sich Douwe Egberts zu einem überregionalen niederländischen Kaffeeunternehmen, und deutsche Hansestädte stiegen durch die Handelsliberalisierung zu bedeutenden Kaffeehandelszentren auf. Die hanseatischen Kaffeehändler spezialisierten sich dabei auf die teuren Spitzenkaffeesorten. Aus dieser Tradition ging 1907 die Rösterei Jacobs in Bremen hervor, die sich später zusammen mit Tchibo aus Hamburg und dem 1924 gegründeten Versandhaus Eduscho zu den drei bedeutendsten Kaffeeunternehmen in Deutschland entwickelte.76

Die zunehmende Beliebtheit führte aber auch zu Kritik: Beispielsweise sah die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Lebensreformbewegung im koffeinhaltigen Kaffee ein «unnatürliches Gift» und einen allgemeinen Ausdruck der «städtischen Nervosität», welcher durch den Rhythmus der Maschinen hervorgerufen wurde. Als gesunde Alternative propagierte sie stattdessen Zichorien-, Malz- oder Getreidekaffee.77 Ab 1905 stand kritischen Konsumenten zudem der koffeinfreie Kaffee zur Verfügung, der noch in den 1950er-Jahren ganz im Sinne der Lebensreformbewegung mit der Werbebotschaft «Für die Gesundheit – schont Herz und Nerven» beworben wurde.78

Weitere Vereinfachungen der Kaffeezubereitung erfolgten um 1900 mit der Erfindung der Espresso-Kaffeemaschine, die damals allerdings noch sehr teuer war und vorwiegend in öffentlichen Bars und Restaurants verwendet wurde,79 und der Entwicklung des Filterkaffees durch Melitta Benz (1908).80 Beide Techniken wurden in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt und sorgten dafür, dass der Kaffee in Nordeuropa gefiltert und in Südeuropa als Espresso getrunken wurde.81

Auch die Teezubereitung erfuhr mit dem maschinell produzierten Teepäckchen im späten 19. Jahrhundert und dem Teebeutel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Rationalisierung.82 Zu den Protagonisten dieser Entwicklung gehörte der Schotte Sir Thomas Lipton, der 1889 in den Teehandel einstieg und auf diesem Gebiet bald zum Prototypen des Masseneinzelhändlers wurde, der zwar mit kleinen Gewinnmargen, dafür umso grösseren Mengen operierte. Lipton konnte dadurch Skalenerträge nutzen und seinen Tee rund einen Drittel unter den handelsüblichen Preisen anbieten, was ihm bald eine führende Position im englischen Teegeschäft eintrug.83

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9783039199044
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