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VI

Ist die Perspektive, aus der heraus wir uns beobachten, so abgehoben, daß ein Wesen aus Fleisch und Blut sie niemals wirklich wird einnehmen können, werden wir schließlich zu Zuschauern unseres eigenen Lebens. Als bloße Zuschauer haben wir schwerlich eine Möglichkeit einzugreifen, also leben wir eben weiter und widmen uns all den Dingen, die wir doch zu gleicher Zeit auch als bloße Kuriositäten, fremdartigen Kulthandlungen gleich, bestaunen können.

Nun wird verständlich, warum das Gefühl der Absurdität seinen natürlichen Ausdruck in den zu Beginn geschilderten schlechten Argumenten findet. Bei den Hinweisen auf unsere unerhebliche Größe und Lebensdauer und auf die Tatsache, daß die Menschheit eines Tages wahrscheinlich spurlos von der Erde verschwunden sein wird, handelt es sich lediglich um Metaphern für jenen Schritt beiseite, der es uns erlaubt, uns aus der Außenperspektive zu betrachten und die uns eigenen Lebensformen durchaus kurios und ein bißchen befremdlich zu finden. Wir tun so, als würden wir uns aus großer Distanz, wie Wesen von einem anderen Stern, in Augenschein nehmen, und zeigen so die Fähigkeit, uns völlig voraussetzungslos als kontingente, idiosynkratische und hochspezifische,Bewohner der Welt zu sehen, als eine unter zahllosen möglichen Lebensformen.

Bevor wir uns der Frage zuwenden, ob die Absurdität unseres Lebens etwas ist, das wir bedauerlich finden und dem wir, sofern das möglich ist, aus dem Weg gehen sollten, möchte ich noch etwas dazu sagen, was wir denn aufgeben müßten, wenn wir die Absurdität vermeiden wollten.

Wieso ist das Leben einer Maus nicht absurd? Natürlich, die Umlaufbahn des Mondes ist genausowenig absurd, aber da spielen ja auch weder Ziele noch das Bemühen, irgendwelche Ziele zu erreichen, eine Rolle. Eine Maus hingegen muß hart arbeiten, um zu überleben. Dennoch ist sie nicht absurd, weil ihr das Selbstbewußtsein mitsamt der Fähigkeit fehlt, sich selbst zu transzendieren, wodurch sie erst erkennen könnte, daß sie nichts weiter ist als eine Maus. Würde dieser Fall aber einmal eintreten, und hätte die Maus diese Fähigkeit, dann würde ihr Leben mit einem Mal absurd, weil sie unbeschadet ihres Selbstbewußtseins ihr Maussein nicht aufgeben und über ihr mäusisches Sinnen und Trachten hinauswachsen könnte. Voll des neu erworbenen Selbstbewußtseins sähe sie sich doch genötigt, wieder in die Niederungen ihres kärglichen, wiewohl verbissen geführten Lebens hinabzusteigen, beladen mit Zweifeln, auf die sie keine Antwort wüßte, aber auch mit Absichten und Zielen, die sie nicht völlig aufgeben könnte.

Gehen wir davon aus, daß wir Menschen von Natur aus in der Lage sind, den transzendierenden Schritt zu tun, können wir dann etwa der Absurdität dadurch aus dem Wege gehen, daß wir uns vor diesem Schritt hüten und mit beiden Beinen fest auf dem Boden unseres irdischen Daseins stehen bleiben, statt nach den Sternen zu greifen? Bewußt jedenfalls können wir uns nicht davor hüten, denn dann müßten wir ja gerade von dem Standpunkt wissen, den wir auf gar keinen Fall einnehmen wollen. Die einzige Möglichkeit, sich vor dem relevanten Selbstbewußtsein zu hüten, bestünde darin, es entweder zu vergessen oder gar nicht erst zu entwickeln, und das kann man beides nicht willkürlich tun.

Es ist indessen auch möglich, sich mit aller Kraft darum zu bemühen, die andere Komponente des Absurden zu beseitigen – indem man sein irdisches Leben als ein Individuum aufgibt und sich, so gut es eben geht, mit dem universalen Standpunkt zu identifizieren sucht, der das menschliche Dasein willkürlich und banal aussehen läßt. (Das scheint das Ideal einiger östlicher Religionen zu sein.) Gelingt einem dies, braucht man wenigstens nicht mehr dieses überlegene Bewußtsein durch die Niederungen des geschäftigen irdischen Lebens zu schleifen, und die Absurdität wird gemindert.

Aber insofern dieser Vergeistigungsprozeß infolge ständiger Bemühungen eines starken Willens und einer asketischen Lebensführung entsteht, macht er es wieder unumgänglich, daß man sich selbst als Individuum ernst nimmt – daß man bereit ist, erhebliche Schwierigkeiten auf sich zu laden, um weder wie ein Tier noch in der Absurdität zu leben. So kann man sich also von dem Ziel, die Welt hinter sich zu lassen, eher entfernen – statt sich ihm zu nähern – sobald man allzu kräftig darauf lossteuert. Es ist dennoch nicht ausgeschlossen, daß jemand, der das Tier in sich einfach gewähren und auf Reize reagieren läßt, ohne dabei die Bedürfnisbefriedigung zu einem zentralen bewußten Anliegen zu machen, ein Leben führt, das weit weniger absurd ist als das der meisten anderen – allerdings auf Kosten eines weitgehenden Zerfalls seiner Persönlichkeit.

Dergleichen wäre natürlich auch alles andere als ein sinnvolles Leben, aber immerhin würde dabei nicht länger das transzendente Bewußtsein für profane irdische Zwecke eingespannt werden. Und gerade darin besteht die entscheidende Voraussetzung für das Absurde – in der Knechtung des ungläubigen transzendenten Bewußtseins unter die Herrschaft eines so engstirnigen und beschränkten Unterfangens wie ein menschliches Leben.

Der allerletzte Ausweg heißt Selbstmord. Aber verfallen wir lieber nicht zu schnell auf vermeintliche Lösungen, bevor wir uns nicht sehr gründlich Gedanken darüber gemacht haben, ob die Absurdität unserer Existenz überhaupt ein Problem für uns darstellt, für das es dann eine Lösung zu finden gilt – also einen Weg, mit dem fertig zu werden, was auf den ersten Blick wie eine Katastrophe aussieht. Zweifellos hatte Camus diese Einstellung zu unserem Problem. Und die Tatsache, daß wir bei den bescheideneren Absurditäten, denen wir im Alltag begegnen, alles tun, um der Situation zu entfliehen, bestärkt einen noch darin, ihm hier zu folgen.

Camus lehnt – aus nicht immer zwingenden Gründen – den Selbstmord und die anderen Lösungen ab, die er für eskapistisch hält. Was er propagiert, ist Verachtung oder Auflehnung. Er glaubt anscheinend, daß wir unsere Würde wahren können, indem wir die Fäuste recken gegen diese Welt, die unsere Proteste ungehört verhallen läßt – und ihr zum Trotze weiterleben. Dadurch wird unser Leben nicht minder absurd, aber es wird ihm wenigstens eine gewisse Erhabenheit verliehen.3

Mir scheint dies romantisch und ein wenig von Selbstmitleid getragen. Die Absurdität unserer Existenz rechtfertigt weder soviel quälende Sorge noch soviel Auflehnung. Ich für mein Teil – auf die Gefahr hin, daß ich jetzt selber zu romantisieren beginne – würde sagen, daß die Absurdität vielmehr eine der für uns Menschen typischsten Eigenschaften ist: In ihr manifestieren sich unsere fortgeschrittensten und interessantesten Charakteristika. Genauso wie der erkenntnistheoretische Skeptizismus ist diese Absurdität nur möglich, weil wir über eine besondere Art des Verstehens verfügen – die Fähigkeit, in Gedanken uns selbst zu überschreiten.

Ist jenes Gefühl der Absurdität eine der Weisen, wie wir unsere wahre Lage erfassen (auch wenn unsere Lage erst durch diese Wahrnehmung absurd wird), warum sollten wir uns dann dagegen auflehnen oder ihm zu entkommen suchen? Wie unsere Fähigkeit zum erkenntnistheoretischen Skeptizismus ergibt sich dieses Gefühl aus unserer Fähigkeit zu begreifen, wo für uns Menschen die Grenzen liegen. Sind wir nicht eigens darauf aus, brauchen wir seinetwegen weder in Agonie zu verfallen noch müssen wir uns voller Verachtung gegen das Schicksal auflehnen, selbst wenn wir uns dadurch heldenhaft und stolz fühlen können. Solche Theatralik, auch wenn sie nicht offen zur Schau getragen wird, verrät nur das Unvermögen, die kosmische Belanglosigkeit unserer Lage wirklich einzusehen. Gibt es sub specie aeternltatls keinen Grund daran zu glauben, daß irgend etwas von Belang ist, so ist dies eben gleichermaßen belanglos, und wir tun gut daran, unserem absurden Leben von nun an mit Ironie zu begegnen, statt voller Heldenmut oder Verzweiflung.

Übersetzt von Karl-Ernst Prankel und Ralf Stoecker.

Moralische Kontingenz

Kant vertrat die Auffassung, Glück oder Pech dürften weder unsere moralische Bewertung eines Menschen und seiner Handlungen beeinflussen, noch unsere eigene moralische Selbsteinschätzung.

Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut, und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen, als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen, nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Absicht durchzusetzen; wenn bey seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freylich nicht etwa ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen.1

Vermutlich hätte Kant dasselbe über einen bösen Willen gesagt, daß es nämlich moralisch gar nicht relevant ist, ob er seine bösen Ziele tatsächlich verwirklicht. Ebensowenig kann eine Handlungsweise, die man tadeln würde, falls sie schlechte Folgen hätte, dadurch gerechtfertigt werden, daß sie sich zufälligerweise doch zum Guten wendet. Für Kant kann es also dergleichen wie moralisches Risiko nicht geben. Diese Auffassung scheint mir falsch zu sein. Allerdings reagiert sie auf ein fundamentales Problem im Hinblick auf moralische Verantwortung, für das wir keine befriedigende Lösung kennen.

Das Problem ergibt sich aus völlig alltäglichen Bedingungen moralischen Wertens. Bereits vor jeder ethischen Reflexion ist es intuitiv plausibel, daß niemand moralisch angeklagt werden kann für etwas, das nicht seine Schuld war, oder für etwas, das auf Faktoren zurückgeht, die sich seiner Kontrolle entziehen. Wertungen dieser Art unterscheiden sich von Einschätzungen, daß etwas eine gute oder schlechte Sache respektive ein guter oder schlechter Weltzustand sei. Solche Einschätzungen können zu einer moralischen Wertung noch hinzukommen, doch wenn wir jemanden wegen seiner Handlungen angehen, sagen wir nicht einfach bloß, es sei schlecht, daß sie sich ereignet haben oder daß es ihn gibt. Vielmehr verurteilen wir ihn selbst und sagen von ihm, er sei schlecht, was nicht einerlei damit ist, daß er etwas Schlechtes sei. Eine moralische Wertung läßt sich nur auf bestimmte Adressaten anwenden. Ohne genau angeben zu können warum, spüren wir immerhin, wie überaus leicht moralische Wertungen durch die Entdeckung ins Wanken geraten, daß jemandes Handlung oder seine persönlichen Eigenschaften, egal wie gut oder schlecht, nicht unter seiner Kontrolle stehen. Wenn auch andere Bewertungen standhalten, scheinen diese dann ihre Berechtigung zu verlieren. Jedes eindeutige Fehlen von Kontrolle, sei es verursacht durch eine unwillkürliche Bewegung, physischen Zwang oder Unwissenheit über die Umstände, entschuldigt vom moralischen Standpunkt aus, was getan wurde. Aber was wir tun, hängt noch auf vielerlei andere Weise von Faktoren ab, die wir nicht in der Hand haben – oder kantisch gesprochen: von etwas, das nicht von einem guten oder bösen Willen bewirkt wurde. Und doch gilt es uns normalerweise als ausgemacht, daß externe Einflüsse in diesem weiteren Sinne Handlungen nicht entschuldigen, daß sie die (positive oder negative) Wertung des Begangenen nicht ausschließen.

Ich möchte nun einige Beispiele geben und dabei mit der Art von Fällen beginnen, die Kant vor Augen hatte. Ob etwas, das wir versuchen, uns gelingt oder mißlingt, hängt nahezu immer in gewissem Maße von Faktoren ab, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Das gilt für Mord ebenso wie für Altruismus oder für Revolutionen; ja, es gilt sogar wenn wir eigene Interessen zum Wohle anderer hintanstellen – also für fast jede Handlung, die moralisch relevant ist. Was dann jeweils getan wurde, was mithin moralischer Wertung unterliegt, wird von externen Faktoren mitverursacht. Wie sehr der gute Wille auch für sich selbst gleich einem Juwel glänzen mag, besteht doch ein moralisch wesentlicher Unterschied zwischen der Situation, in der ich jemanden aus einem brennenden Gebäude in Sicherheit bringe, und einer Situation, in der ich ihn bei meinem Rettungsversuch aus einem Fenster im zwölften Stock fallen lasse. Und entsprechend besteht ein moralisch bedeutsamer Unterschied zwischen rücksichtslosem Fahren und fahrlässiger Tötung. Doch ob es tatsächlich dazu kommt, daß ein Fußgänger überfahren wird, hängt davon ab, ob er sich gerade an der Stelle befindet, an der ein rücksichtsloser Fahrer bei Rot durchrast. Und ebensogut hängt, was einer tut, von den Möglichkeiten und Alternativen ab, mit denen er konfrontiert ist, und diese sind wiederum großenteils von Faktoren mitdeterminiert, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. Einer, der faktisch Aufseher in einem Konzentrationslager wurde, hätte womöglich ein ruhiges und harmloses Leben geführt, wären die Nazis in Deutschland nie an die Macht gekommen. Oder umgekehrt: Jemand, der in Argentinien ein ruhiges und harmloses Leben verbracht hat, wäre vielleicht Scherge in einem Konzentrationslager geworden, hätte er Deutschland nicht aus geschäftlichen Gründen im Jahre 1930 verlassen.

Später werde ich näher auf diese und weitere Fälle eingehen. Ich führe sie an dieser Stelle ein, um eine allgemeine These deutlich zu machen: Wann immer ein wesentlicher Aspekt dessen, was ein Mensch tut, von Faktoren abhängt, die nicht seiner eigenen Kontrolle unterliegen, und wir ihn unbeschadet dessen in der betreffenden Hinsicht nach wie vor als Gegenstand moralischer Wertung behandeln, können wir von moralischer Kontingenz sprechen. Bei derlei Kontingenz kann es sich um moralisches Glück handeln oder um moralisches Pech. Die Schwierigkeit, die im Zusammenhang mit diesem Phänomen aufkommt (und Kant gar veranlaßte, die Möglichkeit des Phänomens selbst in Abrede zu stellen) besteht darin, daß der globale Bereich externer Einflüsse, von dem die Rede war, bei genauerer Prüfung eine moralische Wertung ebenso unbestreitbar untergräbt, wie der engere Bereich der uns vertrauteren Entschuldigungsgründe für eine Handlung. Wendeten wir durchgängig die Bedingung der Kontrollierbarkeit an, würden sich infolgedessen die meisten unserer moralischen Wertungen aufzulösen drohen, die wir für selbstverständlich halten. Dinge, für die Menschen moralisch beurteilt werden, hängen in weit erheblicherem Maße von Vorgängen ab, die gar nicht erst ihrer Kontrolle unterliegen, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Und sobald man die scheinbar so natürliche Bedingung von Schuld oder Verantwortlichkeit dann im Lichte all dieser Tatsachen betrachtet, bleiben nur wenige unserer präreflexiven moralischen Wertungen unberührt. Ja, letzten Endes scheint nichts oder annähernd nichts von dem, was ein Mensch tut, von ihm allein kontrolliert zu werden.

Warum dann nicht schließen, daß die Kontrollierbarkeitsbedingung eben falsch ist – daß es sich bei ihr um eine anfänglich plausible Hypothese handelt, die sich jedoch in Anbetracht zwingender Gegenbeispiele nicht mehr halten läßt? Dann könnte man nämlich nach einer differenzierten Bedingung suchen, die jene Arten eingeschränkter Kontrollierbarkeit namhaft machen würde, die wirklich bestimmte moralische Wertungen untergraben, und so der inakzeptablen Konsequenz ausweichen, die sich aus der globaleren Bedingung ergäbe, daß womöglich die meisten oder gar alle moralischen Wertungen, die wir tagtäglich vornehmen, illegitim sind.

Was uns diesen Ausweg verunmöglicht, ist, daß wir es hier nicht nur mit einer theoretischen Hypothese zu tun haben, sondern mit einem philosophischen Problem. Die Kontrollierbarkeitsbedingung empfiehlt sich nicht einfach bloß aufgrund einer Verallgemeinerung, die auf einer Reihe eindeutiger Fälle beruht. Sie scheint uns gerade auch angewandt auf Fälle, die außerhalb der anfänglichen Fallmenge liegen, von vornherein die korrekte Bedingung zu sein. Sobald man moralische Wertung außer Kraft setzt, indem man sich darüber klar wird, daß noch ganz andere, neue Faktoren der Unkontrollierbarkeit im Spiel waren, entdeckt man nicht einfach nur, was unter Voraussetzung jener allgemeinen Hypothese folgen würde, sondern man ist dann tatsächlich überzeugt davon, daß auch in den anderen Fällen das pure Fehlen der Kontrollierbarkeit bereits entscheidend ist. Zur Erosion moralischen Wertens kommt es nicht etwa als absurde Konsequenz einer womöglich zu grob vereinfachenden Theorie, sondern vielmehr als natürliche Konsequenz unserer alltäglichen Vorstellung moralischer Wertung selbst, nunmehr vor dem Hintergrund einer eben vollständigeren und präziseren Berücksichtigung der Tatsachen. Es wäre daher fehlerhaft, aus der Unannehmbarkeit der Konsequenzen schließen zu wollen, eine andersartige Theorie der Bedingungen moralischer Verantwortlichkeit werde nötig. Die Ansicht, daß moralische Kontingenz paradox ist, war ja kein Fehler – und zwar weder ein ethischer noch ein logischer – sondern eine genuine Einsicht in eine der Weisen, auf die eine intuitiv einleuchtende Bedingung der Möglichkeit moralischen Wertens in der Tat alles zu untergraben droht.

Die Problemlage gleicht der in einer anderen Disziplin der Philosophie, nämlich der Erkenntnistheorie. Auch dort drohen Bedingungen, die vollkommen selbstverständlich zu sein scheinen und die aus alltäglichen Verfahren erwachsen, mit denen man Erkenntnisansprüche in Frage stellt oder verteidigt, alle diese Ansprüche zu untergraben, sobald man jene Bedingungen nur konsequent anwendet. Die meisten skeptischen Argumente haben die folgende Eigenschaft: Sie beruhen nicht etwa darauf, daß man willkürlich strenge Maßstäbe an menschliches Wissen heranträgt, die auf einem Mißverstehen solchen Wissens beruhen, sondern kommen unvermeidlich auf, sobald man die alltäglichen Maßstäbe nur konsequent anwendet.2 Darüber hinaus liegt aber auch inhaltlich eine genuine Parallele vor, denn auch der erkenntnistheoretische Skeptizismus erwächst ja aus der Betrachtung derjenigen Hinsichten, in denen unsere Meinungen und ihr Realitätsbezug von Faktoren abhängen, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Es sind sowohl äußere als auch innere Ursachen, die menschliche Meinungen generieren. Wir können zwar diese Prozesse in der Absicht, Irrtümer zu vermeiden, einer genauen Prüfung unterziehen, doch unsere Ergebnisse resultieren dann auf der jeweils nächsten Stufe ihrerseits zu einem wesentlichen Teil aus Einflüssen, die wir erneut nicht unmittelbar kontrollieren. Und das wird immer so bleiben, gleichviel, wie weit wir die Untersuchung vorantreiben. Unsere Meinungen werden immer und ausnahmslos auch von Ursachen abhängig sein, die jenseits menschlicher Kontrolle liegen, so daß die Unmöglichkeit, diese Faktoren zu überlisten, ohne uns zugleich wieder anderen auszuliefern, uns daran zweifeln läßt, ob wir überhaupt etwas wirklich wissen. Es sieht dann so aus, als handle es sich gar nicht erst um Wissen, sondern eher um schiere biologische Kontingenz, daß überhaupt eine Reihe unserer Überzeugungen wahr sind.

Moralische Kontingenz ist ein vergleichbarer Sachverhalt, denn obwohl die natürlichen Objekte moralischer Wertung in vielerlei Hinsichten entweder nicht unserer eigenen Kontrolle unterliegen oder doch durch Faktoren beeinflußt werden, die wir nicht unter Kontrolle haben, können wir diese Tatsachen nicht einbeziehen, ohne die Möglichkeit einzubüßen, an unseren moralischen Wertungen festzuhalten.

Im großen und ganzen unterliegen die natürlichen Adressaten moralischer Wertung in vier gleichermaßen beunruhigenden Hinsichten unbestreitbar der Kontingenz: Zum einen kennen wir das Phänomen der Kontingenz der eigenen inneren Konstitution. Hier handelt es sich darum, zu welcher Art Mensch man gehört, wobei dies eben nicht nur eine Frage dessen ist, was jemand absichtlich tut, sondern welche Neigungen, Fähigkeiten und Charakteranlagen er hat. Eine zweite Kategorie ist die der Kontingenz der eigenen Umstände, und damit die der Prüfungen und Situationen, auf die einer sich einstellen muß. Die dritte und vierte Kategorie haben beide mit den Ursachen und Wirkungen des Handelns zu tun: mit Kontingenzen darin, wie man durch vorausliegende Umstände bestimmt wird, und Kontingenzen dahingehend, wie die eigenen Handlungen und Projekte in der Folge ausgehen. Alle vier Kategorien führen auf ein ihnen gemeinsames Problem. Sie alle stehen quer zu der ethischen Vorstellung, daß jemand nur für jenen Bruchteil der Ereignisse gelobt oder getadelt werden kann, der wirklich seiner Kontrolle unterliegt und für nichts sonst. Ihr will es geradezu irrational scheinen, daß wir überhaupt Lob oder Tadel entgegennehmen oder spenden für Dinge, auf die ein Mensch keine Kontrolle ausübt, oder für ihren Einfluß auf Folgen, die er nur zu einem Teil mitkontrolliert hat, da dergleichen zwar die Bedingungen menschlichen Handelns generieren mag, doch dieses Handeln selbst sich nur in dem Maße werten läßt, als es über solche Bedingungen gerade hinausgeht und sich nicht einfach nur aus ihnen ergibt.

Betrachten wir zunächst den Fall der Kontingenz im Hinblick darauf, wie die Dinge letztlich ausgehen – mag es sich dabei nun um Glück oder Pech handeln. Kant denkt in dem eingangs zitierten Passus an ein Beispiel dieser Kategorie, die allerdings ein weites Feld abdeckt: etwa den LKW-Fahrer, dem zufällig ein Kind ins Fahrzeug läuft, oder den Künstler, der eine Schar von fünf Kindern samt Ehefrau verläßt, um sich nur noch der Malerei zu widmen3, ganz zu schweigen von Möglichkeiten, in denen der Erfolg oder Mißerfolg noch weitaus weltbewegender ausfallen können. Dort, wo der LKW-Fahrer sich nicht das mindeste hat zuschulden kommen lassen, wird er sich dennoch furchtbar elend fühlen wegen seines Anteils an dem Unfall. Doch moralische Vorwürfe wird er sich keine machen müssen, und deshalb wird es sich hier zwar um ein Beispiel für jenes typische Bedauern handeln, das ein Akteur dem eigenen Handeln gegenüber empfinden mag, aber noch nicht um den Sonderfall spezifisch moralischen Pechs. Hätte sich der LKW-Fahrer indes nur im mindesten der Fahrlässigkeit schuldig gemacht – etwa weil er es verabsäumt hätte, turnusgemäß seine Bremsen überprüfen zu lassen – würde er sich, sofern dieses Versäumnis zum Tod des Kindes beigetragen hätte, nicht allein elend fühlen, sondern er würde sich moralische Vorwürfe wegen des toten Kindes machen. Und was dies zu einem Fall moralischer Kontingenz macht, ist der Umstand, daß er sich wegen seiner Fahrlässigkeit kaum schuldig fühlen müßte, wäre er nicht in jene Unfallsituation geraten, die ihn zwang, plötzlich und heftig seine Bremsen zu beanspruchen, um abzuwenden, daß ein Kind überfahren wird. Doch ist die Fahrlässigkeit in beiden Fällen eine und dieselbe, und der LKW-Fahrer hat keinerlei Kontrolle darüber, ob ihm ein Kind in den Weg läuft.

Dasselbe gilt auch für Fälle gravierenderer Fahrlässigkeit. Hat einer zuviel getrunken und schlittert er daraufhin mit seinem Auto über einen Bürgersteig, kann er in moralischer Hinsicht von Glück reden, wenn sich dort gerade keine Fußgänger befinden. Sonst würde man ihn nämlich für deren Tod verantwortlich machen müssen und ihn vermutlich wegen fahrlässiger Tötung strafrechtlich verfolgen. Verletzt er hingegen niemanden, macht er sich, wiewohl seine Rücksichtslosigkeit in beiden Fällen genau dieselbe ist, einer viel leichteren Straftat schuldig. Er wird sich dann sicherlich geringere Vorwürfe machen und auch von anderen weit weniger streng beurteilt werden. Oder um ein schlagendes Beispiel aus dem rechtlichen Bereich anzuführen: Das Strafmaß für versuchten Mord ist bedeutend weniger hoch als das für vollendeten Mord, wie sehr sich die Absichten und Motive des Täters in beiden Fällen auch gleichen mögen. Selbst das Ausmaß der Schuld kann also davon abhängen, so sieht es doch offenbar aus, ob das Opfer zufällig eine kugelsichere Weste trägt oder ob gerade ein Vogel in die Flugbahn der Kugel hineinfliegt – von Umständen, die schwerlich der Kontrolle des Handelnden unterliegen.

Und schließlich gibt es noch jene Fälle, in denen eine Handlungsentscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit getroffen wird – und es gibt sie im öffentlichen Leben wie im Privatleben. Anna Karenina brennt mit Vronsky durch, Gauguin läßt seine Familie hinter sich, Chamberlain unterzeichnet das Münchner Abkommen, die Dekabristen überreden die unter ihrem Kommando stehenden Truppen, sich gegen den Zaren zu erheben, die amerikanischen Kolonien erklären ihre Unabhängigkeit von England, oder du selbst stellst in dem Bemühen, eine Heirat zu vermitteln, zwei Menschen einander vor. Man ist hier versucht zu wähnen, daß es in allen diesen Fällen bereits im Lichte dessen, was zu dem jeweiligen Zeitpunkt bekannt ist, einfach möglich sein muß, irgendeine Entscheidung zu treffen, die auch unabhängig davon, wie die Dinge ausgehen, gegen moralische Vorwürfe immun bliebe. Das ist jedoch schlicht nicht wahr, denn wer in der einen oder anderen Weise so handelt, nimmt sein Leben mitsamt seinem moralischen Ansehen in die eigenen Hände; was jemand dann begangen hat, hängt nunmehr davon ab, welche Wendung die Ereignisse nehmen werden. Es ist natürlich auch möglich, die Entscheidung aus der Perspektive dessen zu werten, was zu dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurde, über die Umstände bekannt sein konnte, aber damit hat die Sache schwerlich schon ein Ende. Hätten die Dekabristen Erfolg gehabt, hätten sie also Nikolaus den Ersten 1825 gestürzt und eine konstitutionelle Regierungsform durchgesetzt, wären sie zu Helden geworden. So, wie die Dinge aber wirklich ausgingen, scheiterten sie nicht allein und mußten dafür büßen, sondern sie trugen auch ein gewisses Maß an Mitverantwortung für die schreckliche Bestrafung der Truppen, die sie für ihre Ziele gewonnen hatten. Wäre die amerikanische Revolution ein blutiger Mißerfolg gewesen, der in noch weit größerer Unterdrückung geendet hätte, dann wäre Jefferson, Franklin und Washington zwar nach wie vor ein anerkennenswerter Versuch zugute zu halten, den sie womöglich auf ihrem Weg zum Schafott noch nicht einmal bedauert hätten, doch hätten sie sich dann andererseits auch Vorwürfe dafür machen müssen, was ihretwegen ihren Landsleuten angetan wurde. (Vielleicht hätten ja auch friedliche Reformbestrebungen letzten Endes zum Erfolg geführt.) Oder wäre Hitler nicht über ganz Europa hergefallen und hätte er nicht Millionen von Menschen vernichten lassen, sondern wäre er kurz nach der Besetzung des Sudetenlandes an Herzversagen gestorben, dann wäre Chamberlains Unterzeichnung des Münchener Abkommens zwar immer noch ein schwerer Verrat an den Tschechen gewesen, nicht aber die moralische Katastrophe, aufgrund derer sein Name in aller Munde war.4

Oft genug können wir bei vielen schwierigen Entscheidungen die Auswirkungen nicht mit hinreichender Sicherheit vorhersehen. Eine Art der Bewertung einer Entscheidung mag jeweils antizipiert werden, bei einer anderen aber ist das Ergebnis abzuwarten, da von den Folgen ja abhängt, was letztlich begangen wurde. Ein und derselbe Grad von Schuld oder Verdienst bei Absichten, Motiven und Interessen ist hier kompatibel mit den unterschiedlichsten endgültigen Wertungen, sowohl positiver als auch negativer Art, die von Ereignissen abhängen, die erst eintreten, nachdem die Entscheidung gefällt worden ist. Die Gründe moralischen Wertens erschöpfen sich keinesfalls in jener mens rea, die auch ohne alle Folgen existiert haben könnte. In sehr vielen Bereichen, die fraglos allesamt Fälle ethischer Wertung sind – ihr Spektrum reicht von Fahrlässigkeit bis hin zu politischen Prinzipienentscheidungen – hängen Schuld oder Verdienst von den tatsächlich eingetretenen Folgen ab.

Daß es sich gleichwohl um genuin moralische Wertungen handelt und nicht etwa nur darum, einer zeitweiligen Einstellung Ausdruck zu verleihen, läßt sich aus der Tatsache ersehen, daß man ja bereits im voraus angeben kann, in welcher Weise unser moralisches Urteil später von den eingetretenen Folgen abhängen wird. Hat jemand leichtsinnigerweise ein Baby in einer vollaufenden Badewanne allein gelassen, wird ihm, noch während er die Treppe zum Badezimmer hinaufeilt, mit einem Male klar, daß er etwas Schreckliches getan hat, falls das Kind ertrunken ist, während er andernfalls bloß unachtsam gewesen ist. Und wer eine gewaltsame Revolution gegen ein autoritäres Regime vom Zaun bricht, weiß von vornherein, daß er für eine Menge vergeblichen Leids verantwortlich sein wird, falls sie mißlingt, doch ebensogut weiß er, daß er, wenn er Erfolg hat, durch das Ergebnis sehr wohl gerechtfertigt sein wird. Ich sage damit keinesfalls, daß jede Tat rückwirkend durch den Gang der Geschichte gerechtfertigt werden kann. Gewisse Handlungen sind bereits für sich betrachtet dermaßen schlimm oder riskant, daß kein Ergebnis sie je wiedergutmachen könnte. Aber auch dort, wo moralische Wertungen von den Folgen abhängen, bleiben sie allemal objektiv und zeitlos gültig und ihre Gültigkeit hängt nicht etwa von einem durch den Erfolg oder Mißerfolg produzierten Perspektivenwechsel ab. Die Wertung post festum ergibt sich aus einem hypothetischen Urteil, das immer schon im voraus möglich ist und ebensogut vom Handelnden selbst wie von einem anderen hätte gefällt werden können.

Beharrt man hingegen auf dem Standpunkt, daß Verantwortlichkeit an Kontrollierbarkeit gebunden ist, scheint dies alles absurd zu sein. Wie sollte es denn möglich sein, daß einen Menschen eine schwerere oder eine leichtere Schuld trifft, je nachdem, ob ihm ein Kind in den Weg läuft oder ein Vogel in die Flugbahn der Kugel fliegt? Es mag ja wahr sein, daß das, was begangen wurde, von mehr abhängt als dem geistigen Zustand und den Absichten des Akteurs. Dann stellt sich aber das Problem, weshalb es denn nicht geradezu irrational sein sollte, moralische Wertung auf all das zu gründen, was Menschen in diesem weiten Sinne tun, denn das liefe doch darauf hinaus, sie sowohl für jenen Beitrag verantwortlich zu machen, der auf das Konto des Schicksals geht, als auch für den, der auf ihr eigenes Konto geht – wenn sie denn überhaupt etwas beigetragen haben, das rein auf ihr eigenes Konto geht. Denken wir an Fälle von Fahrlässigkeit oder an Attentatsversuche, scheint es sich im allgemeinen so zu verhalten, daß die Gesamtschuld das Produkt aus dem vorsätzlichen oder absichtlichen Vergehen und der Tragweite der Auswirkungen ist. Fälle von Entscheidung unter Bedingungen der Ungewißheit lassen sich auf diese Weise nicht so einfach erklären; denn hier scheint es, daß sich die Gesamtwertung je nach den Auswirkungen sogar vom Positiven zum Negativen wenden kann. Aber selbst hier hat es doch den Anschein der Vernünftigkeit, von den Wirkungen der auf eine Entscheidung folgenden Ereignisse, die zu dem betreffenden Zeitpunkt bloß möglich waren, abzusehen. Es scheint vernünftig, die moralische Wertung statt dessen auf die eigentliche Entscheidung im Lichte der zu diesem Zeitpunkt bekannten Wahrscheinlichkeiten zu konzentrieren. Ist der Adressat moralischer Wertung stets die Person, würde es unbeschränkter Haftung entsprechen, sie für all das verantwortlich machen zu wollen, was sie in jenem weiteren Sinne getan hat. Ein solches Prinzip mag zwar in der juridischen Sphäre seinen guten Sinn haben, doch als Standpunkt der Moral eignet ihm ein Nimbus der Irrationalität.

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9783863935108
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