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Alle diese Fragen haben etwas mit der Zeit zu tun. Zweifellos gibt es Dinge (darunter mancherlei Freuden und Schmerzen), die für einen Menschen einfach aufgrund des Zustands, in dem er sich zu dieser Zeit befindet, gut oder schlecht sind. Doch gilt dies nicht von allem und jedem, das wir als gut oder schlecht für einen Menschen erachten. Häufig müssen wir erst seine Geschichte kennen, um sagen zu können, ob etwas ein Unglück für ihn ist oder nicht, vor allem, wenn es sich darum handelt, daß sich seine Situation verschlechtert oder daß er einen Verlust oder Schaden erlitten hat. Ja, in einigen Fällen ist es hierfür sogar ziemlich uninteressant, wie es ihm momentan gerade geht – so etwa im Falle des Mannes, der sein Leben damit vergeudet, quietschvergnügt nach der Spargelsprache zu suchen. Wer die Meinung vertritt, daß nur Zustände einer Person, die ihr mit Angabe eines Zeitpunkts zugeschrieben werden können, gut oder schlecht seien, könnte solchen Problemfällen natürlich dadurch Rechnung tragen wollen, daß er auf die Freuden oder Leiden hinwiese, die durch diese komplizierteren Fälle verursacht würden. Dieser Ansicht zufolge wäre es schlecht, etwas zu verlieren, verraten, betrogen und verspottet zu werden, weil der Betroffene darunter leidet – so er davon erfährt. Wir sollten uns aber fragen, welche Vorstellungen davon, was für den Menschen welchen Wert hat, es uns erlauben würden, mit diesen problematischen Fällen statt dessen auf direktem Wege fertig zu werden. Das hätte unter anderem den Vorteil, daß wir erklären könnten, warum einer eigentlich leidet, wenn er erfährt, wie glücklos er ist, und es auf eine Weise erklären könnten, die dieses Leiden als gerechtfertigt erscheinen ließe. Denn für gewöhnlich sagt man ja, daß das Aufdecken eines Verrats uns unglücklich macht, weil es schlecht ist, verraten zu werden, und nicht etwa, daß es schlecht ist, verraten zu werden, weil die Entdeckung uns unglücklich macht.

Deshalb scheint es mir einen Versuch wert zu sein, die Ansicht zu untersuchen, daß das Subjekt fast jeden Glücks oder Unglücks eine Person ist, die nicht durch den kategorischen Zustand, in dem sie sich im betreffenden Augenblick befindet, sondern durch die Geschichte ihres Lebens und all das, was ihr in diesem Leben möglich ist, identifiziert wird – so daß sich zwar das Subjekt räumlich und zeitlich exakt lokalisieren ließe, nicht aber unbedingt auch alles Gute und Schlechte, das ihm widerfahren kann.2

Diese Überlegungen lassen sich gut am Beispiel einer Privation veranschaulichen, die fast so schwer wiegt wie der Tod. Angenommen eine intelligente Person verletzte sich am Gehirn so stark, daß sie den Geisteszustand eines zufriedenen Säuglings zurückfällt. Alle ihr noch bleibenden Bedürfnisse können von einem Pfleger befriedigt werden, sie hat also keine Sorgen. Nahezu jedermann würde diesen Vorgang als schreckliches Unglück ansehen, und zwar nicht nur für ihre Verwandten und Freunde oder für die Gesellschaft, sondern in erster Linie für sie. Damit ist freilich nicht gesagt, daß ein zufriedener Säugling etwa unglücklich ist. Das Subjekt des Unglücks ist vielmehr die intelligente erwachsene Person, die in diesen Zustand zurückgefallen ist. Sie ist es, die wir bedauern, obgleich ihr dieser Zustand natürlich nichts ausmacht. Ja, es regen sich sogar gewisse Zweifel, ob wir dann überhaupt sagen können, daß es sie immer noch gibt.

Sobald aber jemand davon überzeugt ist, ein solcher Mensch sei Opfer eines Unglücks geworden, lassen sich hiergegen dieselben Einwände vorbringen, die im Zusammenhang mit dem Tod erhoben wurden: Der betreffende Mensch leidet ja nicht unter seinem Zustand. Es ist derselbe Zustand, in dem er sich im Alter von drei Monaten befunden hatte, nur daß er jetzt etwas größer ist. Damals haben wir ihn nicht bedauert, warum bedauern wir ihn eigentlich jetzt? Und wie dem auch sei, wen bedauern wir eigentlich? Den intelligenten Erwachsenen gibt es ja nicht mehr, und für ein Wesen, wie wir es jetzt vor uns haben, besteht alles Glück dieser Erde in einem vollen Magen und einer trockenen Windel.

Geht diese Einrede fehl, dann aufgrund einer irrigen Annahme über die zeitliche Beziehung zwischen dem Subjekt des Unglücks und den für das Unglück verantwortlichen äußeren Umständen. Hören wir also auf, uns ausschließlich auf das überdimensionale Baby vor uns zu konzentrieren, und denken wir an den, der er einmal war, und daran, wer er in diesen Tagen hätte sein können, dann ist sein Rückfall in diesen Zustand und der abrupte Abbruch seines natürlichen Erwachsenenlebens der klare Fall einer Katastrophe.

Das sollte uns davon überzeugen, daß es aus der Luft gegriffen ist, all das, was gut oder schlecht für einen Menschen sein kann, auf nichtrelationale Eigenschaften der Person, die ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeschrieben werden können, beschränken zu wollen. In Wahrheit würden wir mit einer solchen Restriktion nicht nur Fälle hochgradiger Degeneration wie den oben geschilderten ausschließen, sondern darüber hinaus auch einen Großteil dessen, was über jemandes Erfolg oder Mißerfolg und all jene anderen Charakteristika seines Lebenslaufes entscheidet, die Prozesse sind. Ja, wir können sogar noch weiter gehen: Es gibt Güter oder Übel, die irreduzibel relational sind – Merkmale der Beziehung zwischen äußeren Umständen und einer in der gewohnten Weise raumzeitlich bestimmten Person –, die weder zu ihren eigenen Lebzeiten eintreten müssen noch an demselben Ort, an dem sie sich befindet. Zum Leben eines Menschen gehört vieles, das sich außerhalb der Grenzen seines Körpers und Geistes abspielt, und zu dem, was ihm widerfährt, kann auch mancherlei gehören, das sich außerhalb der Grenzen seiner Lebensdauer abspielt. Beispielsweise werden diese Grenzen bisweilen überschritten, wenn jemandem das Unglück widerfährt, getäuscht, verachtet oder betrogen zu werden. (Sollte sich diese Position als haltbar erweisen, können wir auch mühelos erklären, was unrecht daran ist, ein Versprechen zu brechen, das man am Sterbebett gegeben hat: Es ist eine Kränkung des Verstorbenen. Bisweilen ist es möglich, in der Zeit nur eine andere Form von Distanz zu sehen). Das Beispiel psychischer Degeneration zeigt, daß es manchmal vom Kontrast zwischen der Wirklichkeit und alternativen Möglichkeiten abhängt, ob etwas ein Übel ist. Für einen Menschen kann etwas nicht nur schlecht (oder gut) sein, weil er fähig ist zu leiden (oder sich zu erfreuen), sondern weil er auch Hoffnungen hat, die in Erfüllung oder nicht in Erfüllung gehen könnten, und Anlagen, die er entfalten oder nicht entfalten könnte. Ist der Tod ein Übel, werden wir uns an diesen Aspekt zu halten haben, und es sollte uns dann erst gar nicht stören, daß man das Übel nicht länger innerhalb des betreffenden Lebens zu lokalisieren vermag.

Stirbt jemand, so ist alles, was von ihm übrig bleibt, sein Leichnam. Nun kann ein Leichnam zwar zu Schaden kommen, ganz wie ein Möbelstück, doch wäre es völlig unangemessen, einen Leichnam zu bedauern. Bedauern kann man aber den Menschen. Er hat sein Leben verloren, und wäre er nicht gestorben, würde er dieses Leben heute noch immer führen und im Besitz all dessen sein, was es an Gutem ermöglicht. Wenden wir die Überlegung, die wir im Falle unseres Debilen angestellt haben, auf den Tod an, so können wir zwar ziemlich klar die räumliche und zeitliche Lokalisierung dessen, der den Verlust erlitten hatte, angeben, nicht aber so leicht die seines Unglücks. Wir müssen uns mit der Feststellung zufrieden geben, daß sein Leben aus und vorbei ist und es auf ewig bleiben wird. Dieses Faktum, und nicht etwa irgendein Zustand, in dem er sich jetzt befindet oder einst befand, macht sein Unglück aus, wenn es denn eines ist. Wenn es sich indes um einen Verlust handelt, muß es allemal jemanden geben, der ihn erleidet und der mithin existieren und einen genauen Ort in Raum und Zeit haben muß, selbst wenn dies für den Verlust nicht gilt.

Das Faktum, daß Beethoven keine Kinder hatte, mag uns veranlassen, ihn zu bedauern, und mag traurig für die Welt sein, aber niemand kann sagen, es sei ein Unglück für die möglichen Kinder, die er nicht gehabt hat. Ich glaube, jeder von uns ist glücklich zu schätzen, das Licht der Welt erblickt zu haben, aber solange es unmöglich ist, von einem Embryo oder erst recht von einem noch nicht verschmolzenen Paar von Keimzellen zu sagen, sie hätten Glück oder Pech, solange kann man auch nicht davon sprechen, daß es ein Unglück sei, nicht geboren zu werden. (Solche Faktoren spielen eine entscheidende Rolle, wenn es zu entscheiden gilt, ob Abtreibung oder Empfängnisverhütung womöglich etwas mit Mord zu tun haben könnten.)

Diese Überlegungen erlauben es nun, das Problem der zeitlichen Asymmetrie zu lösen, auf das Lukrez hingewiesen hat. Ihm fiel auf, daß niemand es beunruhigend findet, über jene Ewigkeit zu grübeln, die seiner eigenen Geburt voranging. Diese Feststellung schien ihm zu beweisen, daß es irrational sei, den Tod zu fürchten, da dieser doch nichts weiter sei als das Spiegelbild der dem Leben vorausliegenden Unendlichkeit. Das ist jedoch schlicht nicht wahr, und was beide Sachverhalte voneinander unterscheidet, liefert uns auch die Erklärung dafür, warum wir sie mit gutem Grund unterschiedlich behandeln. Es stimmt zwar, daß niemand in dem Zeitraum vor seiner Geburt oder nach seinem Tod existiert. Doch die Zeit nach unserem Tod ist die Zeit, die uns der Tod raubt. Wären wir nicht gestorben, wären wir zu dieser Zeit ja noch am Leben. Deshalb führt der Tod stets zum Verlust irgendeiner Lebensspanne, die sein Opfer noch erlebt hätte, wäre es nicht zu dieser oder einer früheren Zeit gestorben. Wir wissen nur zu genau, wie es für ihn gewesen wäre, wenn ihm dieses Leben noch geblieben wäre, das er verloren hat, und es bereitet uns keinerlei Mühe, denjenigen zu identifizieren, der diesen Verlust erlitten hat.

Aber es ist nicht möglich zu sagen, die Zeit vor der Geburt sei ebensogut eine Zeit, die dieser Mensch erlebt hätte, wäre er nur früher geboren worden. Denn abgesehen von einem unerheblichen Spielraum, der sich durch die Möglichkeit vorzeitig eintretender Wehen ergibt, hätte er gar nicht früher auf die Welt kommen können als zu der Zeit zu der er geboren wurde: Jeder, der wesentlich früher als er geboren worden wäre, wäre ein anderer gewesen. Folglich gilt für die Zeit vor seiner Geburt keineswegs, daß das zu späte Eintreten der Geburt etwa schuld daran war, daß er sie nicht erlebt hat. Gleichgültig wann einer das Licht der Welt erblickt, verliert er dadurch keine Sekunde seines Lebens.

Die Zeitrichtung ist entscheidend, sobald wir einem Menschen oder überhaupt einem Individuum Möglichkeiten zuschreiben. Verschiedene mögliche Leben einer einzelnen Person können, ausgehend von einem gemeinsamen Anfang, divergieren, aber sie können schwerlich aus unterschiedlichen Anfängen in einem gemeinsamen Ende zusammentreffen. (Im letzteren Fall würde es sich nicht um eine Reihe verschiedener möglicher Leben ein und desselben Individuums handeln, sondern um eine Reihe verschiedener möglicher Individuen, deren Leben gegen ein gemeinsames Ende konvergierten.) Wir können uns also für jedes identifizierbare Individuum unzählige mögliche Fortsetzungen seines Lebens vorstellen und uns immerhin vor Augen führen, wie es für dieses Individuum wäre, unendlich lange weiterzuexistieren. Wie unausweichlich es auch immer sein mag, daß dieser Fall nie eintreten wird, besteht doch diese beständige Möglichkeit als die Möglichkeit, daß das Gute am Leben kontinuierlich fortdauert (wenn sein Leben tatsächlich so gut ist, wie wir unterstellt haben).3

Es stellt sich mithin die Frage, ob die Nichtverwirklichung dieser Möglichkeit in jedem Falle ein Unglück sein muß, oder ob dies davon abhängt, was vom Weiterleben überhaupt noch zu erhoffen war. Das scheint mir die in Wahrheit gravierendste Schwierigkeit für die Position zu sein, daß der Tod jederzeit ein Übel sei. Selbst wenn es uns gelänge, das Befremden abzuschütteln, ob man überhaupt von einem Übel reden kann, wenn das Unglück nie erlitten wird oder einer Person nicht zu Lebzeiten zugeschrieben werden kann, bliebe nämlich noch die Frage, wie aussichtsreich dann eine Aussicht zum mindesten zu sein hat, damit als Unglück aufgefaßt werden kann, daß sie nicht verwirklicht wird (oder als Glück, falls es sich um die Aussicht auf etwas überaus Schlimmes gehandelt hat). Gewöhnlich gilt Keats' Tod im Alter von nur vierundzwanzig Jahren als eine Tragödie, nicht aber Tolstois Tod als Zweiundachtzigjähriger. Obwohl beide bis in alle Ewigkeit tot sind, wurde Keats ja vieler Lebensjahre beraubt, die Tolstoi noch beschieden waren. Keats mußte also ganz eindeutig einen komparativ größeren Schaden erleiden (obwohl dies freilich nicht der Sinn von »größer« ist, mit dessen Hilfe unendliche Quantitäten normalerweise in der Mathematik verglichen werden).

Indessen kann so nicht bewiesen werden, daß Tolstoi etwa nur einen unbedeutenden Verlust erlitten hat. Denn womöglich verhält es sich lediglich so, daß wir erst dann Protest einzulegen pflegen, wenn das Unausweichliche noch durch üble Dreingaben unnötig vermehrt wird. Jedenfalls nimmt die Tatsache, daß es entschieden schlechter ist, mit vierundzwanzig als mit zweiundachtzig Jahren zu sterben, dem Tod eines Zweiundachtzigjährigen nichts von seinem Schrecken – ebensowenig wie dem Tod eines Achthundertsechsjährigen. In Frage steht dann, ob wir eine Beschränkung, die wie die Sterblichkeit für eine Spezies normal ist, überhaupt für ein Unglück erachten können. Blind oder fast blind zu sein, ist für den Maulwurf schließlich kein Unglück und wäre es auch nicht für den Menschen, würde es von Natur aus zur Beschaffenheit seiner Spezies gehören, daß er nicht sehen kann.

Das Mißliche hieran ist, daß uns das Leben immer schon vertraut macht mit all dem Guten, das der Tod uns dann raubt. Wir sind deshalb, im Unterschied zum Maulwurf, der die Fähigkeit zu sehen erst gar nicht würdigen kann, in der Lage, den Wert dieses Guten zu erkennen. Lassen wir die Zweifel beiseite, ob es sich überhaupt um etwas Gutes handelt, und gestehen wir außerdem zu, daß das Ausmaß des Guten zu einem Teil davon abhängt, wie lange es andauert, verbleibt uns die Frage, ob gesagt werden kann, daß der Tod, völlig gleichgültig wann er eintritt, sein Opfer der im relevanten Sinne möglichen Fortsetzung seines Lebens beraubt.

Die Problemlage ist doppeldeutig. Aus der externen Perspektive besehen haben menschliche Wesen unbestreitbar eine natürliche Lebenserwartung und können unmöglich wesentlich älter werden als hundert Jahre. Doch das interne Bewußtsein, das jemand von seinem eigenen Erleben hat, schließt gerade nicht diese Vorstellung ein, daß die Natur seinem Leben eine Grenze gesetzt hat, vielmehr konkretisiert sich ihm das Dasein des Individuums als eine virtuell endlose Zukunft mit den gewohnten Wechselfällen von Gutem und Schlechtem, die ihm in der Vergangenheit so erträglich erschienen sind. Nun da er durch eine geradezu überflüssige Verkettung natürlicher, historischer und sozialer Kontingenzen auf die Welt gekommen ist, findet er sich als das Subjekt eines Lebens wieder, dem eine unbestimmte und nicht mit Notwendigkeit befristete Zukunft offensteht. Wie unvermeidlich der Tod auch sei, löscht er aus dieser Perspektive auf abrupte Weise all das mögliche Gute aus, das andernfalls in unbestimmtem Umfange hätte eintreten können. Daß unser Tod normal ist, hat damit offenbar nicht das Mindeste zu tun, denn aus der Tatsache, daß ein jeder von uns unausweichlich nach ein paar Dutzend Jahren sterben wird, folgt ja keineswegs, daß es nicht gut wäre, weiterzuleben. Gesetzt, es sei unausweichlich für uns alle, vor unserem Tod in Agonie zu verfallen – in eine sechs Monate anhaltende physische Agonie. Würde diese Aussicht auch nur um ein Jota weniger unangenehm aufgrund irgendeiner Unausweichlichkeit? Und warum sollte es sich dann mit dem beschriebenen Verlust eigentlich anders verhalten? Bei einer mittleren Lebenserwartung von tausend Jahren wäre es ja nachgerade eine Tragödie, im Alter von nur achtzig Jahren zu sterben. Vielleicht steht es so, daß diese Tragödie unter unseren heutigen Bedingungen nur um einiges verbreiteter ist. Gibt es kein Alter, von dem an es sich nicht mehr zu leben lohnt, mag es sein, daß uns allen ein schlechtes Ende bevorsteht.

Übersetzt von Karl-Ernst Prankel, Ralf Stoecker und Michael Gebauer.

Das Absurde

Die meisten beschleicht hin und wieder das Gefühl, das Leben sei absurd, und einige Menschen haben dieses Gefühl ständig und mit großer Intensität. Allein, die Gründe, die man für gewöhnlich anführt, um diese Überzeugung zu rechtfertigen, sind gelinde gesagt unzureichend: Sie können gar nicht wirklich erklären, weshalb das Leben absurd ist. Warum machen sie sich dennoch als der natürliche Ausdruck unseres Gefühls geltend, daß es sich in der Tat so verhält?

I

Vergegenwärtigen wir uns ein paar typische Reflexionen. Oft hört man, daß nicht das Mindeste dessen, was wir so alles tun, in einer Million Jahren nicht egal sein wird. Wenn dem so ist, läßt sich der Spieß aber doch ebenso leicht umdrehen, und dann ist auch nicht das Mindeste dessen, was in einer Million Jahren sein wird, heute von Bedeutung. Unter anderem wäre es dann insbesondere auch egal, daß alles von dem, was wir heute tun, dereinst egal sein wird. Ja, und selbst wenn es so wäre, daß unser heutiges Tun jemandem in einer Million Jahren tatsächlich nicht egal Sein würde? Dann bliebe noch immer die Frage, warum hierdurch etwas, das uns heute beschäftigt, davor bewahrt würde, absurd zu sein: Was könnte es uns denn nützen, wenn etwas davon in einer Million Jahren für jemanden nicht egal wäre, wenn noch nicht einmal der Tatbestand, daß es heute nicht egal ist, ausreichte, unser Tun vor Absurdität zu retten?

Die Frage, ob etwas, das wir heute tun, in einer Million Jahren bedeutend ist, markiert nur dann die entscheidende Differenz, wenn seine Bedeutsamkeit in einer Million Jahren von seiner Bedeutsamkeit schlechthin abhängt. Stellt man jedoch von vornherein in Abrede, daß irgend etwas dessen, was sich in unseren Tagen zuträgt, in einer Million Jahren von Bedeutung ist, begeht man eine Petitio principii gegenüber dieser zweiten Frage: Man verneint sie immer schon. Denn in diesem Sinne kann man gar nicht sicher sein, daß es in einer Million Jahren egal ist, ob (zum Beispiel) heute jemand glücklich oder unglücklich ist, wenn man nicht immer schon sicher ist, daß es schlechthin egal ist.

Was wir vorbringen, wenn wir anderen die Absurdität unseres Lebens vor Augen führen wollen, kann häufig auch mit Raum oder Zeit zu tun haben: Schließlich sind wir doch alle nur winzige Staubkörnchen in den unendlichen Weiten des Alls; die Spanne unseres Lebens ist doch selbst nach erdgeschichtlichen, ganz zu schweigen von kosmischen Maßstäben nicht mehr als ein bloßer Augenblick; ja, wir werden doch alle jeden Moment tot sein. Aber natürlich kann keine dieser evidenten Tatsachen zur Folge gehabt haben, daß unser Leben absurd geworden ist, wenn es denn absurd ist. Nehmen wir dafür einmal an, wir lebten ewig. Wäre denn ein Leben, das bei einer Dauer von siebzig Jahren absurd ist, bei ewiger Dauer – nach Adam Riese – nicht: unendlich absurd? Und falls unser Leben bei unserer jetzigen Größe absurd ist, warum wäre dieses Leben weniger absurd, wenn wir statt dessen das ganze Universum ausfüllten (sei's, weil entweder wir größer, oder sei's, weil das Universum kleiner wäre als jetzt)? Derlei Reflexionen über uns kurzlebige Zwerge scheinen uns irgendwie in engem Zusammenhang mit dem Gefühl zu stehen, das Leben sei sinnlos, doch bleibt dabei völlig im Dunkel, worin dieser Zusammenhang überhaupt bestehen könnte.

Ein drittes und nicht minder inadäquates Argument bringt vor, daß, weil wir ja alle einmal sterben werden, jede Rechtfertigungskette notgedrungen in der Luft hängen muß: Man lernt und arbeitet, um Geld zu verdienen, um sich damit Obdach, Nahrung, Kleidung und Vergnügen leisten zu können, um sich jahrein, jahraus also am Leben zu halten, vielleicht auch um eine Familie zu ernähren, eine Laufbahn einzuschlagen – aber was dann? All das, um dann letztendlich welchen Zweck zu erreichen? Das ganze ist eine kunstvoll gestaltete verschlungene Reise und führt doch – nirgendwohin! (Zugegeben, all das hat Auswirkungen auf das Leben anderer, aber dann wiederholt sich das Problem ja nur, da auch sie sterben müssen.)

Auch dem läßt sich mancherlei entgegnen. Erstens geht das Leben nämlich nicht nur in einer Reihe von Aktivitäten auf, von denen jede eine weitere, spätere bezweckt. Rechtfertigungsketten finden im wirklichen Leben immer wieder ein Ende, und die Frage, ob sich der Lebensprozeß als ein Ganzes rechtfertigen läßt, spielt für die Endgültigkeit dieses Endens nicht die mindeste Rolle. Es bedarf schlicht keiner weiteren Rechtfertigung dafür, daß es vernünftig ist, gegen Kopfschmerzen eine Aspirintablette zu nehmen, die Ausstellung eines bewunderten Malers zu besuchen oder ein Kind daran zu hindern, den heißen Herd anzufassen. Auch ohne weiteren Kontext oder zusätzlichen Zweck sind derlei Handlungsweisen nicht sinnlos.

Selbst wenn jemand noch weitere Rechtfertigungen für all das im Leben liefern wollte, was gewöhnlich als durch sich selbst gerechtfertigt angesehen wird, müßten auch diese irgendwo ein Ende finden. Könnte nichts eine Rechtfertigung liefern, ohne seinerseits durch etwas anderes gerechtfertigt zu sein, das nicht minder gerechtfertigt wäre, ergäbe sich ein Regreß ins Unendliche – und keine Rechtfertigungskette könnte jemals vollendet werden. Schlimmer noch: Könnte keine endliche Kette von Gründen etwas rechtfertigen, was würde eine unendliche Kette dann überhaupt leisten, bei der jedes Glied durch etwas außer ihr gerechtfertigt sein müßte?

Weil also Rechtfertigungen nun einmal irgendwo ein Ende haben müssen, ist nichts damit gewonnen, daß bestritten wird, daß sie enden, wo sie anscheinend enden, nämlich im Leben – und auch nichts damit, daß man versucht, die Vielzahl von meist trivialen Alltagsrechtfertigungen unseres Handelns unter einem einzigen, leitenden Lebensplan zu einen. Wir sind schon mit viel weniger zufrieden. In der Tat erhebt dieses Argument, indem es den Rechtfertigungsprozeß entstellt, bloß eine hohle, nichtssagende Forderung. Indem man insistiert, daß all die Gründe, die uns das Leben bietet, nicht vollständig sind, suggeriert man, alle einmal endenden Gründe seien unvollständig. Das macht es dann aber unmöglich, überhaupt noch Gründe anzuführen.

Dem Anschein nach sind die üblichen Argumente mithin als Argumente zum Scheitern verurteilt. Und dennoch glaube ich, daß sie etwas auszudrücken suchen, das sich zwar nur mit Mühe sagen läßt, im Grunde genommen aber zutreffend ist.

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9783863935108
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