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II

Im Alltag ist eine Situation absurd, sobald in ihr eine spürbare Diskrepanz zwischen Anspruch oder Erwartung und der Realität gegeben ist: Jemand hält eine weitschweifige Rede zugunsten eines Antrags, der bereits angenommen ist; ein Gewohnheitsverbrecher wird Vorsitzender einer bedeutenden Wohlfahrtsorganisation; telefonisch machen Sie eine Liebeserklärung – und zwar der Zeitansage; man schlägt Sie zum Ritter, und es senkt sich Ihre Hose.

Bemerkt jemand, daß er in eine absurde Situation geraten ist, wird er sie gewöhnlich zu verändern suchen, sei es, daß er seine Erwartungen modifiziert, sei es, daß er die Realität besser mit ihnen in Einklang zu bringen versucht, oder sei es, daß er sich der Situation einfach vollständig entzieht. Nicht immer sind wir bereit oder in der Lage, uns vollständig aus einer Situation zu winden, deren Absurdität uns klar geworden ist. Aber für gewöhnlich ist eine Veränderung denkbar, die diese Lebenslage zumindest von ihrer Absurdität befreit, ob wir diese Veränderung nun tatsächlich bewirken, ja auch nur bewirken könnten, oder nicht. Das Gefühl, das Leben im ganzen sei absurd, kommt auf, wenn wir – möglicherweise nur sehr vage – übersteigerte Ambitionen oder Sehnsüchte in uns wahrnehmen, die, untrennbar mit dem Gang eines menschlichen Lebens verbunden, es zugleich unausweichlich absurd machen – unausweichlich, es sei denn durch die Flucht aus dem Leben selbst.

Viele Menschen führen zeitweilig oder dauernd ein absurdes Leben, aus den vertrauten Gründen, die mit ihren besonderen Ambitionen, Lebensumständen und persönlichen Bindungen zusammenhängen. Soll es nun aber einen philosophisch relevanten Sinn von Absurdität geben, muß er sich auf eine vollkommen allgemeine Beobachtung zurückführen lassen, auf die Beobachtung, daß für uns alle in irgendeiner Hinsicht Anspruch und Realität unausweichlich aufeinanderprallen. Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese Bedingung in der Tat erfüllt ist, da der Ernst, mit dem wir unser Leben führen, und die Tatsache, daß es uns jederzeit frei steht, all das, was wir ernst nehmen, als willkürlich oder zweifelhaft anzusehen, miteinander in Widerspruch geraten.

Kein Mensch kann ohne ein Mindestmaß an Energie und Aufmerksamkeit leben und ohne Entscheidungen zu fällen, die zeigen, daß für ihn einiges wichtiger, anderes unwichtiger ist. Daneben ist es uns jedoch möglich, jederzeit eine Außenperspektive gegenüber unserer eigentümlichen Lebensführung einzunehmen, aus der heraus dieser Ernst dann restlos unbegründet erscheint. Diese beiden unverzichtbaren Perspektiven kollidieren in uns, und das ist es, was das menschliche Leben absurd werden läßt. Es wird absurd, weil wir die Augen vor jenen Zweifeln verschließen müssen, von denen wir wissen, daß wir sie nicht ausräumen können – absurd, weil wir ihrer ungeachtet mit kaum verminderter Ernsthaftigkeit weiterleben.

Diese Analyse gilt es in zweierlei Hinsicht abzusichern: im Hinblick auf erstens die Unvermeidlichkeit des Ernstes und zweitens die Unumgänglichkeit des Zweifels.

Wir nehmen uns ernst, ob wir nun ein ernstes Leben führen oder nicht, und unabhängig davon, worum es uns in erster Linie geht: ob um Ruhm, Vergnügen, Tugendhaftigkeit, Luxus, Erfolg, Schönheit, Gerechtigkeit, Erkenntnis, unser Seelenheil oder ums pure Überleben. Nehmen wir auch andere Menschen ernst und widmen wir uns ihnen, so vervielfacht sich das Problem nur. Das menschliche Leben ist voll von Anstrengungen, Plänen und Überlegungen, von Erfolg und Mißerfolg. Mit mehr oder minder großer Tatkraft oder Trägheit führen wir unser Leben.

Die Situation wäre eine gänzlich andere, würden wir nicht über jene Fähigkeit verfügen, einen Schritt beiseite zu treten und den Prozeß zu reflektieren, sondern uns bloß von Impuls zu Impuls treiben lassen, bar jeden Bewußtseins unserer selbst. Aber Menschen lassen sich nicht bloß von Impulsen leiten: Sie sind vernunftbegabt, sie reflektieren, wägen Folgen gegeneinander ab und fragen sich, ob das, was sie tun, auch der Mühe wert ist. Es geht nicht nur darum, daß ihr Leben voller Einzelentscheidungen ist, die in übergreifenden, zeitlich strukturierten Aktivitäten einen Zusammenhang bilden: Sie treffen zudem auch im weitesten Rahmen Entscheidungen darüber, was man tun und was man lassen soll, wo Prioritäten bei den verschiedensten Zielen zu setzen sind, und ein welcher sie sein oder letztlich werden wollen. Einige sehen sich mit diesen Fragen konfrontiert, wenn es von Zeit zu Zeit darum geht, weitreichende Entscheidungen zu fällen, bei anderen spielen sie nur eine Rolle, wenn sie ihren aus zahllosen Alltagsentschlüssen hervorgegangenen Lebensweg reflektieren. Sie entschließen sich, eine bestimmte Person zu heiraten, irgendeinen Beruf zu ergreifen, Mitglied im Country Club zu werden oder sich der Resistance anzuschließen – oder fragen sich auch nur, warum sie ihren Job als Vertreter, Hochschullehrer oder Taxifahrer eigentlich nicht einmal an den Nagel hängen sollten – um dann nach einer Weile ertraglosen Reflektierens eben wieder mit dem Grübeln aufzuhören.

Auch wenn es die unmittelbaren Bedürfnisse des täglich gelebten Lebens sein mögen, die sie von Handlung zu Handlung motivieren, sind es doch die Menschen selbst, die zulassen, daß das Leben diesen Gang geht, indem sie sich der allgemeinen Lebensweise und den Verhaltensmustern unterordnen, innerhalb derer solche Motive erst ihren Ort haben, oder vielleicht auch nur, indem sie sich überhaupt ans Leben klammern. Sie stecken Unmengen an Energie, Risikobereitschaft und Denkanstrengung in beliebige Kleinigkeiten. Man vergegenwärtige sich bloß einmal, worüber der normale Mensch sich so alles den Kopf zerbricht: über sein Aussehen, seine Gesundheit, sein Sexual- und Gefühlsleben, seinen Beitrag zum Allgemeinwohl, sein Selbstbild, die Qualität seiner familiären Bindungen und Beziehungen zu Freunden oder Arbeitskollegen, sein berufliches Können, und schließlich auch über die Welt selbst und das Geschehen in ihr. Ein menschliches Leben ist ein Ganztagsjob, und jeder von uns widmet sich ihm jahrzehntelang mit der größten Intensität.

Weil dieser Tatbestand so klar auf der Hand liegt, fällt es uns schwer, ihn für besonders aufregend oder wichtig zu halten. Ein jeder von uns lebt das eigene Leben – lebt es mit sich vierundzwanzig Stunden am Tag. Was sollte er denn sonst tun? Etwa das Leben eines anderen leben? Doch verfügen Menschen über die besondere Gabe, einen Schritt beiseite zu treten, und aus solcher Distanz dann auch sich selbst und ihren Lebensweg mit dem gleichen Staunen zu mustern, mit dem sie auch den hindernisreichen Weg einer Ameise durch den Sand verfolgen. Ohne sich der Illusion hinzugeben, es könnte ihnen gelingen, ihre ganz besondere und höchst idiosynkratische Ausgangslage zur Gänze hinter sich zu lassen, können sie diese immerhin sub specie aeternitatis beobachten, und die gebotene Ansicht ist ernüchternd und belustigend zugleich.

Dieser so entscheidende Schritt beiseite ist nun keinesfalls die – vergebliche – Suche nach noch einem weiteren Glied in der Rechtfertigungskette. Was sich gegen jenen Einwand sagen ließ, war bereits ausgesprochen: Rechtfertigungen finden ein Ende. Doch eben dies ist es, was dem universellen Zweifel sein Objekt verschafft. Wir vollziehen den Schritt beiseite, um dann zu entdecken, daß das gesamte System des Infragestellens und Rechtfertigens, das unseren Entscheidungen zugrunde liegt und ohne das unser Anspruch auf Rationalität in sich zusammenfiele, auf Verhaltensweisen und Reaktionen beruht, die wir ihrerseits niemals in Frage stellen, von denen wir auch nicht wüßten, wie man sie stützen sollte, ohne dabei in einen Zirkel zu geraten, und an denen wir selbst dann noch festhalten, wenn sie solcherart in Zweifel gezogen werden.

Was wir indessen, ohne Gründe mitzubringen und auch ohne Gründe nötig zu haben, tun oder wollen (all jene Dinge, die allererst festlegen, was für uns ein Grund sein kann und was nicht), markiert stets einen Angriffspunkt für den Skeptizismus. Wir betrachten uns aus der Außenperspektive, und mit einem Mal wird uns die ganze Kontingenz und Eingeschränktheit unseres Sinnens und Trachtens klar. Nehmen wir diese Perspektive ein und erkennen unser Tun als kontingent, entbindet uns das nicht vom Leben, und hierin liegt unsere Absurdität: Nicht in der Tatsache, daß wir aus dieser Außenperspektive heraus beobachtet werden können, sondern darin, daß wir sie selbst einnehmen können, ohne damit schon aufzuhören, diejenigen zu sein, deren letzte Belange so von oben herab taxiert werden.

III

Man kann alledem zu entgehen versuchen, indem man nach übergeordneten letzten Belangen sucht, denen gegenüber man dann keinen Schritt mehr beiseite treten kann – dieser Strategie liegt die Überlegung zugrunde, daß es zum Absurden kommt, weil es die in Wirklichkeit unerheblichen, unbedeutenden und auf den einzelnen beschränkten Dinge sind, die wir ernst nehmen. Wer seinem Leben auf diesem Wege Sinn verleihen will, wird gewöhnlich eine Rolle oder Funktion im Gefüge eines größeren Ganzen vor Augen haben. Er sucht seine Erfüllung im Dienst an Gesellschaft oder Staat, an der Revolution oder dem Gang der Geschichte, am Fortschritt in den Wissenschaften – oder an der Religion und der Herrlichkeit Gottes.

Aber eine Funktion im Gefüge eines größeren Ganzen kann Sinn nur dann stiften, wenn dieses Ganze bereits seinerseits Sinn hat. Und dieser Sinn muß uns einsichtig sein, er muß von uns verstanden werden können, andernfalls kann ja noch nicht einmal der Anschein aufkommen, wir hätten gefunden, was wir suchten. Nehmen wir einmal an, wir fänden heraus, daß wir nur deshalb auf die Welt gekommen und in ihr aufgewachsen sind, weil es irgendwelche fremdartigen Wesen mit einer besonderen Vorliebe für Menschenfleisch gibt, deren Grundnahrungsmittel wir bilden und nach deren Plänen wir, noch bevor wir alt und zäh sind, in Koteletts verwandelt werden sollen. Selbst wenn wir entdeckten, daß die Spezies Mensch obendrein von solchen menschenfressenden Viehzüchtern einzig zu diesem kulinarischen Zweck erschaffen wurde, würde dergleichen unserem Leben aus zwei Gründen noch immer keinen Sinn verleihen: Erstens bliebe uns nach wie vor im Dunkel, wie wichtig denn nun das Leben dieser fremden Wesen ist; und zweitens wäre nicht klar, wie der zugegebenermaßen schmackhafte Sinn, den unser Leben für sie hat, diese Wesen für uns überhaupt wichtig machen könnte.

Ich gestehe gern zu, daß das nicht die übliche Art und Weise ist, einem höheren Wesen zu dienen. So erwartet man etwa, Gottes Herrlichkeit in einer Weise zu erschauen und ihrer teilhaftig zu werden, die dem Hühnchen in Ansehung der Herrlichkeit eines Coq au vin gewiß auf immer versagt bleiben wird. Dasselbe gilt für den Dienst am Staat, einer politischen Bewegung oder der Revolution. Menschen, die ein Teil eines erheblicheren Ganzen sind, können im Laufe der Zeit das Gefühl bekommen als sei dieses größere Ganze auch ein Teil ihrer selbst. Diese Menschen kümmern sich nicht mehr vorrangig um ihre persönlichen Eigenarten und Belange, sondern identifizieren sich in so hohem Maße mit dem umfassenderen Unternehmen, daß sie sich durch ihre Funktion darin befriedigt fühlen.

Dennoch läßt sich auch jedes dieser globaleren Anliegen in der gleichen Weise und aus denselben Gründen in Zweifel ziehen wie die persönlichen Ziele des einzelnen. Es ist genauso legitim, in diesen höheren Zwecken die letzte Rechtfertigung zu sehen, wie sie schon eher, irgendwo im Leben des einzelnen anzusiedeln. Aber das alles ändert nichts an der Tatsache, daß die Rechtfertigungen dort enden, wo wir bereit sind, sie enden zu lassen – dort, wo wir die Suche nach weiteren Rechtfertigungen für überflüssig halten. Können wir gegenüber unseren persönlichen, individuellen Belangen einen Schritt beiseite tun und sie in Zweifel ziehen, warum sollten wir uns nicht ebenso von der Geschichte der Menschheit distanzieren können oder von den Wissenschaften oder den sozialen Errungenschaften oder dem Reich, der Macht und der Herrlichkeit Gottes? Was hindert uns daran, auch all dies in Zweifel zu ziehen? Erweckt etwas den Anschein, als könne es uns Sinn, Rechtfertigung und Wichtigkeit bieten, so nur aufgrund des Faktums, daß wir von einem gewissen Punkt an einfach keiner Gründe mehr bedürfen.

Was dazu führt, daß der Zweifel an unseren beschränkten persönlichen Belangen niemals ganz auszuräumen ist, läßt auch den Zweifel an den höheren, umfassenderen Zwecken nicht verstummen, die uns doch gerade darin bestärken, das Leben für sinnvoll zu halten. Hat der fundamentale Zweifel erst einmal sein Werk begonnen, läßt er sich nicht mehr zur Ruhe bringen.

Camus behauptet im Mythos von Sisyphos, das Absurde komme auf, weil diese Welt es nicht schaffe, unser Verlangen nach Sinn zu befriedigen. Das legt den Gedanken nahe, die Welt könnte dieses Verlangen prinzipiell befriedigen, wäre sie nur anders beschaffen. Aber wir haben gerade gesehen, daß das keineswegs der Fall ist: Es hat nicht den Anschein, als sei eine Welt vorstellbar, eine Welt, zu der auch wir gehörten, in der es keine unausräumbaren Zweifel gäbe. Folglich entsteht die Absurdität unserer Situation auch nicht durch die Kollision unserer Ansprüche mit der Welt, sondern durch eine Kollision in uns selbst.

IV

Man könnte einwenden, daß es den Standpunkt gar nicht gibt, auf dem einem angeblich solche Zweifel kommen – daß wir bei dem Schritt beiseite, der uns so ans Herz gelegt wird, schlicht den Boden unter den Füßen verlieren, und uns überhaupt keine Grundlage mehr bleibt, von der aus wir noch die unbefangenen ›vorkritischen‹ Antworten und Reaktionen werten können, um deren Prüfung es uns hier geht. Bleiben wir bei unseren gewöhnlichen Standards für Wichtigkeit und Unwichtigkeit, dann lassen sich die Fragen nach dem Sinn dessen, was wir mit unserem Leben anfangen, auch in der gewöhnlichen Weise beantworten. Geben wir diese Standards indessen auf, werden auch diese Überlegungen für uns sinnlos sein müssen, weil wir dann die Vorstellung davon, daß etwas Sinn hat, jeglichen Inhalts beraubt haben – und mithin auch die Vorstellung davon, daß etwas egal ist.

Aber diesem Einwand liegt ein falsches Verständnis dessen zugrunde, was den Schritt beiseite eigentlich ausmacht. Er soll uns ja nicht darüber aufklären, was wirklich wichtig ist, so daß wir uns dann genötigt sehen, in Antithese hierzu die Unwichtigkeit unseres irdischen Daseins anzuerkennen. Wir geben im Verlaufe dieser Überlegungen nirgends die gewöhnlichen Standards auf, nach denen wir alle unser Leben führen. Wir schauen uns vielmehr an, wie diese Standards funktionieren, um festzustellen, daß uns dann, wenn sie in Zweifel gezogen werden, nichts anderes übrig bleibt, als sie nur durch Rückgriff auf ebendiese Standards selbst zu rechtfertigen – und das bringt natürlich nichts ein. Wir bleiben diesen Standards treu, weil wir nun einmal so beschaffen sind, wie wir es sind; was uns wichtig oder bedeutend oder wertvoll erscheint, würde uns nicht so erscheinen, wenn wir anders beschaffen wären.

Es ist klar, daß wir im alltäglichen Leben eine Situation nur dann für absurd halten, wenn wir bestimmte Standards dafür vor Augen haben, wann etwas ernst zu nehmen, wichtig oder harmonisch ist, vor deren Hintergrund das Absurde gestellt werden kann. Die philosophische Behauptung der Absurdität dagegen setzt diese Art eines kontrastierenden Hintergrunds nicht voraus, und das könnte einen dann zu der Vorstellung verleiten, als sei der Begriff ›Absurdität‹ gar nicht geeignet, diesem Urteil Ausdruck zu verleihen. Das stimmt aber nicht, weil ja das philosophische Urteil auf einem anderen Kontrast beruht, durch den es dann zur natürlichen Weiterentwicklung des alltäglichen Urteilens wird. Der Unterschied liegt nur darin, daß im philosophischen Urteil die Ansprüche und Anmaßungen unseres Daseins mit einem umfassenderen Kontext konfrontiert werden, in dem überhaupt keine Standards mehr zu entdecken sind, und nicht wie im Alltagsurteil, mit einem Kontext alternativer Standards, welche die anderen ausstechen.

V

In dieser Hinsicht wie auch in anderen gleicht die philosophische Sicht des Absurden dem erkenntnistheoretischen Skeptizismus. Hier wie dort wird der letzte philosophische Zweifel nicht irgendeiner unanfechtbaren Gewißheit gegenübergestellt – obgleich dieser Zweifel infolge einer Extrapolation aus Einzelfällen entstanden ist, in denen innerhalb eines Systems von Indizien und Rechtfertigungen Zweifel aufkommt und in denen der Kontrast zu anderen Gewißheiten tatsächlich vorausgesetzt ist. Und hier wie dort trifft unsere Begrenztheit und Endlichkeit auf das Vermögen, diese Grenzen im Denken zu überschreiten (und sie so erst als Grenzen, und zwar als unaufhebbare Grenzen zu erkennen).

Der Skeptizismus setzt dort ein, wo wir uns selbst als Teil der Welt verstehen, über die wir Erkenntnis beanspruchen. Wir stellen fest, daß bestimmte Formen der Evidenz uns überzeugen, und wir durchaus bereit sind, Rechtfertigungen unserer Überzeugungen einmal zu einem Ende kommen zu lassen. Und zugleich stellen wir fest, daß wir eine ganze Menge zu wissen glauben, wiewohl wir nicht wissen – ja noch nicht einmal Gründe mitbringen für unsere Überzeugung –, daß viele der skeptischen Möglichkeiten unverwirklicht sind, die unsere Erkenntnisansprüche in ihrem Grundfesten erschüttern würden, wären sie hinter unserem Rücken am Ende doch verwirklicht.

Ich weiß zum Beispiel, daß ich auf ein Blatt Papier blicke, habe aber keine adäquaten Gründe für die Behauptung, ich sei sicher, daß ich nicht träume; falls ich aber träume, blicke ich jetzt nicht aufs Papier. In diesem Beispiel wird eine ganz alltägliche Vorstellung davon aufgeboten, wie Schein und Wirklichkeit auseinanderklaffen können, um zu zeigen, daß wir darauf vertrauen, unsere Welt sei zum überwiegenden Teil authentisch. Die Gewißheit, daß wir das alles nicht bloß träumen, läßt sich schlechterdings nicht anders als zirkulär rechtfertigen: mittels eben jener Erscheinung, die in Zweifel gezogen wird. Die Vermutung, ich könnte träumen, ist fraglos ziemlich weit hergeholt, doch dient sie auch nur zur Illustration. Sie zeigt, daß unsere Erkenntnisansprüche darauf beruhen, daß wir es nicht für nötig erachten, bestimmte damit unvereinbare Alternativen auszuschließen. Die Traumhypothese oder auch die Hypothese, wir würden die ganze Zeit nur halluzinieren, stehen für eine unendliche Vielzahl derartiger Möglichkeiten, von denen wir uns die meisten nicht einmal vorstellen können.1

Haben wir erst einmal den Schritt beiseite getan und sind wir damit zu einer abstrakten Sicht unseres gesamten Meinungs-, Indizien- und Rechtfertigungssystems gelangt, und haben wir dann festgestellt, daß dieses System trotz aller Ambitionen nur funktioniert, wenn es von vornherein der Authentizität unserer Welt weitgehend vertraut, so sind wir nicht in der Lage, all diese Erscheinungen mit einer anderen, alternativen Wirklichkeit zu konfrontieren. Wir können nicht aufhören, so zu reagieren und uns Antworten auf unsere Fragen zu bilden, wie wir es gewöhnlich tun, und selbst wenn wir es könnten, hätten wir nichts mehr in der Hand, womit sich eine Wirklichkeit, gleich welcher Art, erkennen ließe.

Dasselbe gilt im Bereich der praktischen Vernunft. Wir schlüpfen nicht etwa aus unserem Leben und erklimmen einen Aussichtspunkt, von dem aus wir einen genauen Überblick haben, was nun wirklich und objektiv wichtig ist. Wir bleiben uns unserer Lebensführung auch weiterhin zu einem großen Teil sicher, während wir zugleich sehen, daß alle unsere Entscheidungen und alle unsere Gewißheiten nur möglich sind, weil es uns nichts ausmacht, eine Unmenge von Erwägungen und Zweifeln von vornherein auszusondern und abzutun.

Man kann sowohl zum erkenntnistheoretischen Skeptizismus wie auch zu einem Gefühl der Absurdität auf dem Wege über die eigentlichen anfänglichen Zweifel gelangen, die sich noch ganz im Rahmen des von uns akzeptierten Indizien- und Rechtfertigungssystems halten; und man kann sie auch beide in Worte fassen, ohne damit unserer gewöhnlichen Begrifflichkeit auch nur im mindesten Gewalt anzutun. Wir können nicht nur die Frage stellen, warum wir denn glauben sollten, daß es den Boden unter unseren Füßen tatsächlich gibt, sondern auch die Frage, warum wir unseren Sinnen überhaupt trauen sollten und es werden sich solche Fragen bis zu dem Punkte spinnen lassen, wo es dann keine Antwort mehr auf sie gibt. Entsprechend können wir nicht nur fragen, warum wir eine Aspirintablette nehmen sollten, sondern auch, warum wir uns überhaupt Sorgen um unser Wohlergehen machen sollten. Allein die Tatsache, daß wir die Aspirintablette nehmen werden, ohne eine Antwort auf diese letzte Frage abzuwarten, zeigt noch nicht, daß es sich dabei um eine unwesentliche Frage handelt. Wir werden auch weiterhin daran glauben, daß es den Boden unter unseren Füßen gibt, ohne auf die Beantwortung der anderen Frage zu warten. In beiden Fällen ist es dieses grundlose, aber tief verwurzelte Vertrauen, das zu jenem skeptischen Zweifel Anlaß gibt. Deshalb kann es auch nicht dazu aufgeboten werden sie auszuräumen.

Der philosophische Skeptizismus führt nicht dazu, daß wir unsere gewöhnlichen Meinungen aufgeben, aber er versieht sie mit einem eigentümlichen Beigeschmack. Nachdem wir feststellen mußten, daß die Wahrheit dieser Meinungen in Widerspruch zu möglichen Sachverhalten steht, von denen wir nicht begründet sagen können, sie seien nicht der Fall – es sei denn, wir suchten die Gründe gerade in denjenigen Meinungen, die wir in Frage gestellt haben – nun da wir dies feststellen mußten, ist unsere Rückkehr zu den altvertrauten Überzeugungen nicht ohne einen Hauch von Ironie und Resignation. Unfähig wie wir es sind, unsere gewöhnlichen Reaktionsweisen aufzugeben, auf denen diese Überzeugungen beruhen, nehmen wir sie eben wieder auf, ganz wie ein Ehegatte, der mit jemand anderem auf und davon geht und sich dann entschließt, doch wieder zurückzukehren. Aber wir sehen sie jetzt mit ganz anderen Augen (auch wenn damit keineswegs gesagt sein soll – weder im einen noch im anderen Fall –, daß die neue Einstellung geringer zu schätzen sei als die alte).

Genau die gleiche Situation entsteht, sobald wir erst einmal das Gewicht, das wir unserem Leben – und dem menschlichen Leben überhaupt – beimessen, in Frage gestellt und ganz und gar voraussetzungslos unter die Lupe genommen haben. Wir kehren dann gleichwohl wieder zum Alltagsleben zurück, wir können ja gar nicht anders, aber von nun an ist unsere Ernsthaftigkeit mit einem Schuß Ironie versetzt. Damit will ich nicht sagen, daß uns Ironie etwa der Absurdität entrinnen läßt. Es hat keinen Zweck bei allem, was wir tun, zu murmeln: »Das Leben ist sinnlos, das Leben ist sinnlos...« Allein dadurch, daß wir uns weiterhin durch dieses Leben schlagen, zeigen wir in unserem Handeln, daß wir uns ernst nehmen – was immer wir auch sagen mögen.

Was uns so unerschütterlich an unseren Meinungen und unserem Handeln festhalten läßt, sind weder Gründe noch Rechtfertigungen, sondern es muß sich um etwas Tieferliegendes, etwas Fundamentaleres handeln – andernfalls würden wir, nachdem wir zu der Einsicht gelangt sind, daß uns die Gründe sehr schnell ausgehen, schwerlich noch so weiterleben können wie bisher.2

Würden wir versuchen, ausschließlich auf Gründe zu bauen, und nur hartnäckig genug darauf bestehen, fiele das ganze Gebäude unseres Lebens und unserer Meinungen wie ein Kartenhaus in sich zusammen – als eine Form geistiger Verwirrung, die auch wirklich eintreten kann, wenn uns die Trägheit des Vertrauens auf die Authentizität unserer Welt irgendwie abhanden gekommen ist. Verlieren wir diesen Halt, wird ihn uns die Vernunft bestimmt nicht wiedergeben können.

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9783863935108
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