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1.3Falsche Frage, falsche Antwort

Die Bildungspolitik gibt ein falsches Leitbild vor. Ein gepanzertes Ich, das kalt berechnend nichts als den eigenen Interessen folgt. Am besten reich. Sonst muss es leider unten durch. Das falsche Ziel ergibt sich aus der falschen Frage. Zu unmenschlichen Antworten kommt, wer nicht nach Menschen und ihrem guten Leben fragt, sondern nur nach dem Funktionieren des Systems. Aber warum? Warum fragt unsere Zeit so falsch? Das ist die Frage hinter den Fragen. Hier liegt der Schlüssel. Wer versteht, warum er falsch fragt, wird frei von einer Bildungspolitik, der nichts Besseres einfällt als Anpassung, Effizienz und Kontrolle. Dann wird, wie vermutlich in Ihrer ersten Antwort, der Blick frei für das Werden lebendiger Menschen. Aus Fleisch und Blut.

Es gibt die Möglichkeit des Innehaltens. Der Selbstreflexion, des selbstkritischen Zurückkommens auf Ziele. Es gibt den Rückwärtsgang. Die Möglichkeit, die eigene Motivation besser zu verstehen, die keineswegs immer schon bekannt und verstanden ist. Dächte diese Gesellschaft ernstlich darüber nach, was sie tut, und warum sie es tut, könnte sie es nicht mehr tun. Dann könnte sie nicht mehr von Mensch und Selbstreflexion wegsehen und eine verantwortungslose Bildungspolitik betreiben. Freilich gibt es auch die Möglichkeit des besinnungslosen Weiter so! Die Reform ist gegeben, wir machen sie besser.1

Es ist nicht einmal schwer, zu zeigen, dass sich die Gesellschaft damit selbst schädigt, sogar ökonomisch.2 Aber eine Debatte über die Ziele der Bildungspolitik findet nicht statt. Gleichgültigkeit herrscht. Vor den Schweizer Nationalratswahlen 2015 rangierte Bildung an zwanzigster Stelle der politischen Prioritäten des Stimmvolkes. Alles Mögliche ist wichtiger. Mit menschenfreundlicher Bildung, scheint es, lässt sich kein Wahlkampf gewinnen.

Dies Buch nimmt Sie mit auf Entdeckungsreise in eine seltsam lichtlose Welt. Natürlich kann es keine Antwort geben, die für Sie, verehrte Leserin, gültig wäre. Es möchte Ihnen Fragen stellen; denen auch seine Antworten dienen: Warum sind die Verhältnisse, wie sie sind? Warum denken Sie in Bildungsfragen, wie Sie denken? Warum lassen Sie zu, dass die meisten Parteien so desinteressiert am Werden von Menschen sind? Warum wählen Sie sie? Welche Rolle spielen Sie als Lernende, Lehrende, Eltern, Verantwortliche in diesem Spiel? Welche möchten Sie spielen?

1.4Vergeblicher Widerspruch

Gegen die Knechtung des sich bildenden Ich unter die effiziente Abrichtung zum Marktverhalten wehren sich zahlreiche, zum Teil namhafte Schriftsteller. Sie schlagen eine bemerkenswerte Vielfalt von Wegen ein. Alle gehen von einer Erfahrung von Verlust aus. Der Ton ist besorgt; sie verbindet der Wunsch, etwas Kostbares vor der Vernichtung zu schützen: ein konservatives Anliegen. Ein wirksames Gegengift aber weiss niemand. Wer sich der Unterwerfung des werdenden Menschen unter Zähl- und Messbarkeit entgegenstellt, spricht im Schatten. Nicht dass die Autoren ihr Scheitern reflektierten. Doch Ton und Haltung zeigen auch Verzweiflung und Resignation, Rückzug auf den blossen Essay ohne normativen Anspruch3, Beschwören der Vergangenheit oder wütende Gegenangriffe.

Beschwören einer idealisierten Vergangenheit. Der Latinist Jochen Fuhrmann besteht gegenüber den Reformen auf der Vergangenheit. Bildung sei Bewahrung einer idealen Kultur. Sie «wird repräsentiert durch die Gebildeten; die Kultur ist eine Abstraktion, eine nur in der Vorstellung vollziehbare Synthese. Zwischen Bildung und Kultur besteht dasselbe ambivalente Verhältnis wie zwischen den wahrnehmbaren Dingen und den Ideen Platons. Der um Bildung sich Bemühende befindet sich der Kultur gegenüber im Nachteil: Er hat, so sehr er sich anstrengt, stets nur unvollkommen Anteil. Andererseits spiegelt Bildung ein Stück Kultur und weist auf den Quellgrund, der sie ermöglicht.»4

Darum habe die europäische Universität nicht auf berufliche Qualifikation gezielt, sondern auf geistige Orientierung, um der Realität und ihren Forderungen gegenüberzutreten. Die Jugend habe «ihr Leben im Blick auf Ideale einrichten (sollen), die gegeben waren, die nicht der jeweiligen Wirklichkeit entstammten».5 Die Humanisten seien stolz darauf gewesen, nicht der Nützlichkeit zu dienen, sondern einer idealen Gegenwelt. Gegen das Leitbild des nützlichen Spezialisten hätten Goethe und Schiller das Wachsen der Persönlichkeit durch harmonische Entfaltung aller Kräfte gestellt.

Unter dem Einfluss von Georg Picht und Ralf Dahrendorf habe die Bildungspolitik die ideale Gegenwelt durch gesellschaftspolitische Ziele ersetzt. An die Stelle von «Person, Geist und Kultur traten in unverhüllter Einseitigkeit Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit. Bildung wurde nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der das Individuum zu Selbständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen befähigen sollte, sie figurierte nur noch als Produktions- und Sozialfaktor.» In ähnliche Richtung zielt der Germanist Jochen Hörisch: Der heisse Kern der Universität Humboldts sei nicht das Wissen, sondern die Liebe zu ihm. Die Universität sei als alma mater, als mütterlicher Ort, der die Neugier schützte und förderte, intensiv geliebt worden. Heute hingegen erscheine sie als kühle Verwaltungsmaschine.6

Studentischer Protest. Die Studentenunruhen, die 2009/10 in ganz Europa und darüber hinaus als Demonstration und Besetzungen aufbrachen, sind schon fast vergessen. Ihr Ziel, in humaner Gegenseitigkeit über den Sinn von Bildung und die Ziele der Bildungsinstitution ins Gespräch zu kommen, haben sie nicht erreicht. Das System sass sie aus und wartete, bei punktuellen Zugeständnissen, einfach ab, bis ihr Elan erlahmte. Immerhin schreiben die grossen deutschsprachigen Zeitungen seitdem eher gegen Bologna. Allerdings ohne das System zur Rechtfertigung, Ministerinnen oder Rektoren zum Widerspruch nötigen und damit die fällige demokratische Debatte in Gang bringen zu können.

Die Proteste haben die Abschaffung der deutschen Studiengebühren erreicht, was einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Denn dieser ‹Erfolg› interpretiert die Proteste als Verteilungskampf. Zweifelhafter Berechtigung: Solange Kitas und Kindergärten Gebühren verlangen, sieht es so aus, als hätten sich die künftigen Privilegierten durchgesetzt. Die Proteste scheinen sich nahtlos in die wirtschaftliche Sprache einzufügen. Das verkürzt deren Ziele grob und bringt sie auf den kleinstmöglichen Nenner. Die Proteste waren zu wenig organisiert, ihr Atem nicht lang genug, die Vereinnahmung zu verhindern.

Künstlerischer Ungehorsam. Der Zuger Künstler und Pädagogikstudent Severin Hofer hat seine Bachelorarbeit7 als soziales Kunstwerk gestaltet, an dem sich die Geister scheiden sollten. Durch kreative, gezielte Provokationen macht Hofer augenscheinlich, wie die lebendige Erfahrung, sich zu bilden, am Punktehandel erstickt. Er erzählt von Erfahrungen neugieriger, authentischer, engagierter Bildung – unter Missachtung der wissenschaftlichen Objektivität. Er riskierte und erhielt die Ablehnung der Arbeit, was in der Innerschweiz einige öffentliche Debatten entzündete.

Bologna und Bildung versöhnen. Für den Berliner, dann Hamburger Rektor Dieter Lenzen macht Bologna Selbstbildung unmöglich. Die Reform sei «auf Kollisionskurs mit dem Menschen». Sie wolle europaweite Einheitlichkeit. Aber «da Einheitlichkeit dem Grundgedanken allgemeiner Bildung zuwiderläuft– Herausbildung einer mit sich (und nicht mit allen anderen) identischen Persönlichkeit –, musste es zu einer Orientierung an Inhalten kommen, die vergleichbar und messbar sind». So habe employability Persönlichkeitsbildung, Ausbildung Bildung ersetzt. Die Jugend werde entmündigt, indem Ziele und Struktur des Studiums nicht einmal in Ansätzen mir ihr diskutiert würden. Massenhafte Prüfungen und zu hoher Druck machten ein Studium über das eigene Fach hinaus fast unmöglich.

Da sich Bologna nicht mehr rückgängig machen lasse, will Lenzen die Reform mit dem Humboldt’schen Bildungsideal verbinden zu «Bologna 2.0». Es gelte, «der Aufgabe allgemeiner Persönlichkeitsbildung und Menschenbildung durch Wissenschaft wieder einen gleichrangigen Stellenwert neben der Ausbildung für ein berufliches Leben einzuräumen». Zudem denkt er über eine College-Stufe nach amerikanischem Vorbild nach, um nach dem entwerteten Abitur anfangs des Studiums Raum für Persönlichkeits- und Allgemeinbildung zu schaffen.8

Kritik der nur instrumentellen Vernunft. Der Philosoph und ehemalige Minister Julian Nida-Rümelin kritisiert die Reformen als bloss instrumentelle Vernunft. Sie liessen keine Idee humaner Persönlichkeitsentwicklung erkennen und wollten von «Rationalität nur in Hinblick gegebener Ziele des jeweiligen Akteurs sprechen». Die Ziele selbst entzögen sich jeder rationalen Beurteilung.9 Doch Humanität und Demokratie stünden und fielen damit, dass auch die Ziele der vernünftigen Kritik unterlägen. Nida-Rümelin packt die Reformen an ihrem Vernunftbegriff. In der Tat setzt die ökonomische Interpretation aller Lebensbereiche die These Gary Beckers voraus, alles menschliche Verhalten könne «betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen maximieren».10

Welche Bildung braucht die Wirtschaft? Diese Frage stellte 2016 eine Berner Tagung. Mit der Pointe, dass fünf hohe Kader der Wirtschaft darlegten, dass diese die stromlinienförmigen, angepassten Bologna-Absolventen gar nicht brauchen kann, da menschlich unreif und unerfahren in eigenständiger Verantwortung. Obwohl die Reformen im Namen der Wirtschaft durchgedrückt worden waren!11 Der Verfasser hat hier seine Kritik der Reformen auf Kant gestützt: Die Instrumentalisierung des Werdens junger Menschen für wirtschaftliche Zwecke verletze deren Würde. Der kategorische Imperativ erfordere zwingend, das selbstgesteuerte Werden des Ich ins Zentrum des Bildungswesens zu stellen.

Gegenangriff. Als einziger Kritiker findet der Philosoph Konrad Paul Liessmann in den Medien breit Gehör. Er besteht auf philosophischer, nicht bloss ökonomischer Sprache. «Der Mensch begreift sich seit der Renaissance als Wesen, das sich selbst entwerfen kann. Da ist es interessant zu fragen, nach welchen Kriterien wir uns entwerfen. Was sind die Ziele unserer Bildung?» Der Mensch sehe sich nicht mehr als unfertiges Wesen, «das sich entfalten, entwickeln und seine Talente pflegen soll, sondern als defizitär, auf allen Ebenen verbesserungsbedürftig». Nun werde optimiert, mit dem Ziel eines perfekten, transhumanen Wesens, «das reibungslos funktioniert und dem alles Menschliche fremd geworden ist. Doping in seinen Varianten zeigt, wie weit wir es bringen können.» Doch indem «ich das Beste anstrebe, habe ich mir eine Garantie für Frustration gegeben. Das Beste gibt’s nicht. Ich werde immer das Gefühl haben, zu scheitern. Ich habe einen Fehler gemacht, bin nicht der beste Vater. In der tollen Privatschule, für die ich viel zahle, passieren Dinge, nach denen mein Kind weinend nach Hause kommt. Gleichzeitig fordern wir die inklusive Gesellschaft, die alles, was anders und nicht optimal ist, freudig integrieren soll. Ich kann nicht sagen, nur das Beste zählt, und gleichzeitig fordern, dass jeder sein Herz ganz weit öffne für alle, die den optimierten Konzepten nicht entsprechen. Der Widerspruch muss in permanenten Selbstbetrug treiben.»12

Die heutige Bildungspolitik sei Ideologie ohne Inhalt. «Das Bekenntnis zur Reform ist die Ideologie unserer Tage. (Es) ersetzt alle Programme, Ideen und die Moral. Tugendhaft ist, wer Reformbereitschaft signalisiert, einem Laster verfallen, wer Reformen verweigert. Nachweisen zu müssen, ob und wenn ja wie reformiert werden soll, wäre wahrlich zu viel verlangt. Eine Reform ist stets dringend geboten, weil Reformen stets dringend geboten sind.» Liessmann trifft die Flucht nach vorn genau. Doch bleibt unklar, was sie motiviert. Ohne Inhalt findet das Ich nicht die Orientierung im Unübersichtlichen, die Ideologien attraktiv macht.

Bildung als formale Kompetenz zu fassen, an beliebigen Inhalten zu erwerben, verleugne die Neugier. «Kinder und Jugendliche werden um die Faszination gebracht, die von einem Thema, einem Namen, einer Frage ausgehen kann.» Bildung gründe im Verstehen der überlieferten Wahrheit; sie sei ein «zweckfreies, zusammenhängendes, an den grossen Kulturen ausgerichtetes Wissen, das befähigt, einen Charakter zu bilden» und «Freiheit gegenüber den Diktaturen des Zeitgeistes gewährt». Ja: ohne Vokabeln, Grammatik, Wissen keine Sprachfähigkeit. Aber die Zuspitzung überzieht. Man lernt Mathematik oder Latein auch, um klar denken zu lernen. Wissen und Fähigkeit (Kompetenz) wachsen miteinander. Auch Liessmann muss schliesslich «Techniken und Fähigkeiten» fordern.13

Bildung sei der «Versuch, Menschen zum Menschsein zu begaben»; ihre Ziele seien «Eingliederung in eine vorgegebene Welt» und «Formung der mündigen Person». Sprachlich, also auch gedanklich, ist der Mensch hier nur Objekt; die Eigendynamik des sich bildenden Ich verschwindet. – Der Vielzahl der Sichtweisen, den Anstrengungen des Dialogs steht Liessmann unversöhnt gegenüber. «Wer Teamfähigkeit, Flexibilität und Kommunikationsbereitschaft als Bildungsziele verkündet, weiss schon, wovon er spricht: von der Suspendierung jener Individualität, die einmal Adressat und Akteur von Bildung» war: Teamfähigkeit, mit Nietzsche, als Verlust an Selbstsein. Polemik gegen die Achtundsechziger zeigt den Wunsch, die Autorität des Lehrers zu restaurieren. Eine Vision für das pluralistische 21. Jahrhundert ist das nicht. Kein Wunder, dass resignierte Töne fallen. Dabei wäre alles ganz einfach lautet der Refrain eines Buchs: ein Irrealis. Die fremden Regeln haben gesiegt. «Viel wäre gewonnen, wenn man sich mit Schiller hin und wieder daran erinnerte, was Freiheit und Wissenschaft einmal miteinander zu tun gehabt hatten.»14

Not for profit: Why democracy needs humanties. Die Philosophin Martha Nussbaum zeigt, dass das Bildungssystem der USA und Indiens hinter den Erfordernissen der Demokratie immer weiter zurückbleibt. «Wie steht es um die Erziehung zur Demokratie? Sehr schlecht, befürchte ich.» Denn «überall haben die Erfordernisse des Weltmarkts dazu geführt, dass naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse als Kernkompetenzen gelten, während Kunst und Geisteswissenschaften für nutzlosen Schnickschnack gehalten werden, auf den man verzichten kann, um sicherzustellen, dass das eigene Land wettbewerbsfähig bleibt. Sofern Kunst und Geisteswissenschaften im Fokus stehen, werden sie auf handwerkliche Fähigkeiten umdeklariert, die mit quantitativen Multiple-Choice-Prüfungen getestet werden können; dabei werden Fantasie und kritisches Denken, die ihren Kern ausmachen, links liegen gelassen.»15

Gefährlich. Denn so «vernachlässigen Bildungssysteme die Fähigkeiten, die Demokratien lebendig halten. Wenn sich der Trend fortsetzt, werden die Nationen überall Generationen von nützlichen Maschinen produzieren statt allseits entwickelter Bürger, die selbständig denken, Kritik üben und den Stellenwert der Leiden und Leistungen anderer begreifen können. Die Demokratie steht weltweit auf der Kippe.» Faktenwissen bedürfe keiner geisteswissenschaftlichen Bildung. Verantwortungsbewusste Bürger brauchten «wesentlich mehr: die Fähigkeit, historische Fakten zu bewerten, kritisch über Wirtschaftsmodelle nachzudenken, Konzeptionen von sozialer Gerechtigkeit zu bewerten, eine Fremdsprache zu sprechen, die komplexen Inhalte der Weltreligionen zu verstehen. Aneinanderreihung von Fakten ohne zu bewerten oder zu begreifen, wie eine Darstellung aus Fakten konstruiert wird, ist fast so schlimm wie Unkenntnis, da der Schüler nicht in der Lage sein wird, Vorurteile von der Wahrheit oder aus der Luft gegriffene Behauptungen von begründeten zu unterscheiden.» «Wenn das Bildungsziel technisch qualifizierte, willige Arbeiter sind, die Pläne von Eliten umsetzen, denen es um Investitionen und technologische Entwicklung geht», müssten Selbständigkeit und Freiheit als Gefahr gelten. «Folglich wird eigenständiges Denken nicht gefördert.»16

Mit Pestalozzi gibt es für Nussbaum ohne Einbezug der Gefühle keine Bildung. Verwandle sie nicht auch das Fühlen, sei die Demokratie zum Scheitern verurteilt, die «auf Respekt und Anteilnahme basiert und diese wiederum auf der Fähigkeit gründen, andere Menschen als menschliche Wesen und nicht nur als Objekte zu sehen». Nur verbunden mit bewusstem und selbstkritischem Fühlen, wie es musische Bildung vermittle, werde die aufklärerische Vernunft wirksam. «Pädagogen, die nur Wirtschaftswachstum im Sinn haben, ignorieren die Kunst nicht nur, sondern fürchten sie: denn entwickelte Empathie ist ein gefährlicher Feind der Stumpfheit, und moralische Stumpfheit ist notwendig, um ökonomische Entwicklung zu organisieren, die sich um Ungleichheiten nicht schert. Es ist leichter, Menschen als manipulierbare Objekte zu behandeln, wenn man nie gelernt hat, sie anders zu sehen.» Ohne Empathie seien die Menschen dem Pluralismus der Weltgesellschaft nicht gewachsen. Das Bildungssystem solle die Jugend befähigen, «sich als Mitglieder einer heterogeneren Nation (alle Nationen sind heterogen) und einer noch heterogenen Welt zu betrachten und etwas über Geschichte und Charakteristik der Gruppen zu wissen, die in ihr leben».17

Die Ziele des Bildungswesens seien eine ethische Frage. «Bildung, die auf Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt ausgerichtet ist, produziert habgierige Beschränktheit und technisch gebildete Gefügigkeit. Das ist eine unmittelbare Bedrohung der Demokratie und wird verhindern, eine anständige Weltkultur zu entwickeln. Wenn der tatsächliche Kampf der Kulturen, wie ich glaube, ein Kampf in der menschlichen Seele ist, da Gier und Narzissmus im Widerstreit mit Respekt und Liebe liegen, verlieren alle modernen Gesellschaften diesen Kampf schnell, wenn sie die Kräfte nähren, die zu Gewalt und Entmenschlichung führen, und die Kräfte schwächen, die zu einer Kultur von Gleichheit und Respekt führen.» Mit Kunst und Geisteswissenschaft lasse sich zwar kein grosses Geld machen. «Sie leisten viel Wertvolleres: Sie schaffen eine lebenswerte Welt, sie ermöglichen Menschen, andere als vollwertige menschliche Wesen mit eigenen Gedanken und Gefühlen zu betrachten, die Respekt und Empathie verdienen, und sie lassen Angst und Misstrauen zugunsten eines verständnisvollen und vernunftgeleiteten Diskurses überwinden.»18

Lebendige Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Für den Pädagogen Volker Ladenthin lässt sich Bildung nicht objektiv definieren. Das Wort erhalte Sinn nur durch den Verweis auf eine ursprüngliche Selbsterfahrung. Es sei nur durch Selbstreflexion erreichbar, durch die Besinnung auf ein immer schon gegebenes Erleben. Ladenthins Sprache ist einladend und aphoristisch; meditativ, nicht analytisch. Kurze Gedanken wollen zum Denken bringen. Und ebenso Quellen: Ladenthin versammelt klassische Texte zur Theorie der Bildung von Demokrit über Comenius bis Lyotard.19

Bildung entstehe aus der Erfahrung einer Differenz: Reibung an der Welt, an Geschichte, Gesellschaft und Natur. Am stärksten aber werde die Differenz des Menschen mit sich selbst erlebt: wenn Erfahrung und Selbstbild auseinanderklafften. Hier entzünde sich die Auseinandersetzung mit sich selbst. Bildung sei ein Gespräch zwischen dem Erleben der Gegenwart und dem absoluten Ziel in seinen drei Dimensionen Wahrheit, Sittlichkeit und Sinn. «Die Geschichte schon verlassen, die Zukunft noch nicht erreicht: das ist Lernen. Lernen lässt sich nicht fixieren, weil es sich ereignet.» Diese Auseinandersetzung sei mit dem Menschen gegeben; «darum kann man das Lernen nicht lernen», im Unterschied zum Handeln. «Der Lehrende leitet den Lernenden an, sich selbst zu belehren. Lehren ist Aufforderung zu Selbsttätigkeit. Lernen ist Selbsttätigkeit in Ahnung einer Differenz, bei der man nie auf beiden Seiten zugleich und auch in der Mitte sich nicht aufhalten kann. Man denkt unter Anleitung der Sache. Denken kann man immer nur selbst. Bildendes Lernen ist zwanglose Nötigung. Vorausgesetzt ist Freiheit des Denkens. Alles könnte auch ganz anders gedacht und gemacht werden.» Selbständige und verantwortungsbewusste Orientierung in einer offenen Welt, mit dem Ziel gelingenden Lebens.

Bildung sei stete Suche nach dem richtigen Ausdruck, unabschliessbar: Kein Sprechen genüge dem Richtigen. Immer sei neuer Fortschritt möglich. Bildung könne darum nie totalitär sein; Bildung und Macht widersprächen sich. Hieraus ergibt sich eine logisch zwingende Kritik der Reformen. «Im Bildungswesen findet heute ein Umbau statt. Das ‹Man› will keine Bildung mehr, sondern Kompetenz, auf die hin sich Qualifikationsprozesse selbst organisieren sollen. Von der Administration wird nicht mehr Vernunft und Einsicht bei Schülern, Lehrern, Schulleitung, Eltern angesprochen, sondern systemadäquates Verhalten erwartet. Das System setzt Ziele und prüft, ob die Ziele erreicht werden (nicht, ob sie als vernünftig akzeptiert werden). Die Steuerung erfolgt über Zielvereinbarungen und Output-Kontrolle. Nicht mehr das berufsständige Wissen (pädagogische Grundsätze, Lehrpläne, Methoden) handelt argumentativ die Umsetzung des Richtigen aus, sondern durch die Kontrolle des Outputs (Erreichung von Qualitätszielen) wird Verhalten erzwungen. Es wird nicht mehr gefragt, ob pädagogisches Handeln in personalen Bezügen gelingt, sondern gemessen, ob der Output stimmt. Die Begründung wird durch die Messung ersetzt.

Auf der einen Seite überlässt man das System dem angeblich freien Markt. Wettbewerb von Schulen, öffentliches Ranking, selbständige Schule mit Leitbildentwicklung. Auf der anderen Seite wird der drohende Kontrollverlust der Verwaltung durch zentralistische Evaluation kompensiert. Autonomisierung meint in Wirklichkeit intelligente Steuerung. Eine Normierung und Vereinheitlichung bisher unbekannten Ausmasses wird als Freiheit deklariert. Eine um Bildung verkürzte ‹Bildungspolitik› ist Gewalt gegen Menschen.»

Ladenthin begreift Bildung schlüssig als lebendige Erfahrung. Das Wort gewinnt seinen Sinn nur aus der lebendigen Erfahrung des Ich. Hieraus ergibt sich seine politische Kritik. Auch dass Bildung dem Menschen zustösst, als Ereignis, sieht Ladenthin wunderbar klar: Obwohl es Denken nur als Selbstaktivität gebe, gerate der Mensch mehr in es hinein, als dass er es aktiv betreibe. Auch für das Ich sei Bildung nicht machbar. Es werde passiv gebildet durch die Zumutungen der Lebensgeschichte.20

Bildungsqualen. Dieser Titel der Erziehungswissenschaftler Sandra Rademacher und Andreas Wernet drückt «diffuses Unbehagen an der Welt der Bildung» aus. Es sei «flächendeckend, weil das Spiel heillos unaufrichtig ist», bestimmt von «unkritische(r) Kritik, die Kritisierten und Kritikern gleichermassen zugutekommt». Letztere baden «in selbstgefällige(r) Attitüde des gegen-den Strom-Schwimmens». Ihre «Rolle ist im Drehbuch der Gesellschaft nicht die schlechteste. Sie beruht auf hintergründige(m) Agreement mit den Kritisierten; der vermeintliche Sand (wird) zum Schmiermittel». Die Reformpädagogen wüssten um ihren «kulturindustriellen Kitsch. Bei jeder Gelegenheit sind sie hinter der Bühne bereit, ihre Visionen bzw. diejenigen, die sie ernst nehmen, zu belächeln». Und die Technokraten «bestätigt die Kritik in ihrer Bedeutsamkeit», «sich in wohlwollender Herablassung gefallen(d)». Sie «wissen besser als ihre Kritiker, dass ihre Position politisch wie forschungslogisch auf Sand gebaut ist.»

Aufgabe der Erziehungswissenschaft wäre, den «Verblendungszusammenhang aufzudecken». Doch auch wo sie nicht in Betroffenheit, Weltverbesserung oder «intellektueller Servilität» gegenüber der Macht steckenbleibe, sei sie Teil des Syndroms. Der Einwurf der beiden Autoren lässt einen lichten Augenblick zu, der die Atmosphäre in Pädagogik und Erziehungswissenschaft wahrnimmt.21 Sie passt, so wird sich zeigen, genau in Habermas’ Analyse: die lebensweltliche Perspektive muss diffus bleiben, wo systemische Interessen sie ausbeuten. Denn ihr fehlen schon die Ressourcen, ihre Qualen klar wahrzunehmen.

«Sich bilden – das ist wie Aufwachen.» Der Philosoph Peter Bieri, der 2007 im Dissens über Bologna seine Professur niederlegte, sieht Selbstbestimmung des aufgeklärten Ich von aussen bedroht durch Manipulation, die ein Übel darstelle, weil das Selbstbild sie nicht kontrolliere. Sie entfremde vom Selbstbild und zerreisse das Ich. Die Person werde übergangen und verliere an Würde, etwa durch Werbung ohne Chance des Bemerkens oder taktisches Ausnutzen von Gefühlen. Aber «am tückischsten sind die unauffälligen Manipulationen durch akzeptierte Bilder, Metaphern und rhetorische Formeln. Es gibt Arten, über die Welt und uns Menschen zu reden, die jede Ausbildung eines eigenen, differenzierten Selbstbilds und selbstbestimmten Lebensstils verhindern. Fernsehen, Zeitungen und politische Reden sind voll davon, und es gibt jede Menge Mitläufer.»22 Dem könne das Ich nur die Selbstreflexion entgegensetzen, die stete Frage: Stimmt das eigentlich? Ist das recht beschrieben? Möchte ich in dieser Weise sehen und sprechen?

Auch von innen sei die Selbstbestimmung bedroht. «Erinnerungen können ein Kerker sein, wenn sie uns immer wieder überwältigen oder als verdrängte Vergangenheit unser Erleben aus tückischem Dunkel einschnüren. Wir können ihre Tyrannei nur brechen, wenn wir sie zu Wort kommen lassen. Als erzählte werden sie zu verständlichen Erinnerungen, denen wir nicht wehrlos ausgeliefert sind. Erinnerungen sind nicht frei verfügbar: Wir können ihr Entstehen nicht verhindern und sie nach Belieben löschen. In diesem Sinne sind wir als erinnernde Wesen keine selbstbestimmten Wesen.» Doch aufmerksames Zuhören könne dieses Fremde in ein zusammenhängendes Ich einbinden. Dazu genüge Wahrnehmen, nach Art der Esoterik, nicht. Hinzutreten müsse sprachliche Differenzierung. «Aus Gefühlschaos kann durch sprachliche Artikulation emotionale Bestimmtheit werden.» So gewinne das Ich die Initiative zurück. «Selbstbestimmt werden wir durch die Position des Verstehens: Indem wir ihre Wucht und Aufdringlichkeit als Ausdruck unserer seelischen Identität sehen lernen, verlieren die Erinnerungen den Geschmack der Fremdbestimmung und hören auf, uns als Gegner zu belagern.» Das Fremde werde sprachlich, gewinne Zusammenhang, gehöre nun zum Ich und seiner Geschichte. Die Kontinuität des sprachlichen Selbstbildes zu wahren, sei das Ziel des Menschen. «Das erzählerische Selbstbild lässt sich dann in die Zukunft fortschreiben. Um nicht von Tag zu Tag in die Zukunft hineinzustolpern, sondern Zukunft als etwas zu erleben, dem wir mit einem selbstbestimmten Entwurf begegnen, brauchen wir ein Bild von dem, was wir sind und was wir werden wollen – ein Bild, das in einem stimmigen Zusammenhang mit der Vergangenheit stehen muss, wie wir sie uns erzählen.» Selbstbestimmung sei nur als Integration des inneren Fremden möglich.23

Im Zentrum steht das bewusste, kritische Ich der Aufklärung. Es sei sprachlich; in steter Auseinandersetzung müsse es sich selbst zusammenhalten. Bildung sei Selbstbestimmung, die sich gezielt in verschiedene Richtungen entfalte. «Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere; bilden kann jeder nur sich selbst. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Weise in der Welt zu sein.»24

Die Selbstentfaltung fasst Bieri in neun Richtungen. «Bildung beginnt mit der Neugierde. Man töte die Neugierde, und man stiehlt die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch zu erfahren, was es alles gibt.» So entsteht Wissen in sprachlicher Gestalt. Naturereignisse, fremde Handlungen oder eigenes Erleben sind nur sprachlich verständlich. Zweitens sei Bildung aufgeklärtes Denken, dem «zwei Fragen zur zweiten Natur geworden sind: ‹Was genau heisst das?› Und: ‹Woher wissen wir, dass es so ist?›» Drittens das Bewusstsein der geschichtlichen Bedingtheit jedes Standpunkts. Sodann Lesen, Begegnung mit anderen Standpunkten, die zu einem genaueren, differenzierten Selbstbewusstsein führe. Fünftens Selbsterkenntnis, Auseinandersetzung mit intuitiv eingenommenen Positionen. Dann Selbstbestimmung durch Integration des inneren Fremden. Weiter moralische Sensibilität, Empathie: die Fähigkeit, den Standpunkt des anderen einzunehmen und darum etwas zu tun oder zu unterlassen. Achtens die Fähigkeit, Glück zu empfinden. «Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns ‹fit für die Zukunft› zu machen.» Schliesslich leidenschaftlicher Einsatz; dem Gebildeten gehe es immer um alles.25

Bieris Ehrlichkeit beeindruckt. In seiner Sprache klingt therapeutische Erfahrung mit; sie ist nicht nur durchdacht, sondern auch empfunden. Die Auseinandersetzung mit den Gefühlen macht Bieris Sprache kraftvoll und farbig. Abstrakte Begriffe vermeidet er und versucht so erfahrungsnah wie möglich zu sprechen, lieber von Selbstbestimmung statt von Freiheit. Dem Leser wird klar: Es geht um seine Erfahrung, nicht um ein abstraktes ideales Ich. «Es gibt zwei Arten von Philosophen, denen ich misstraue. Die einen sind Techniker, die sich die Genauigkeit der Mathematik zum Vorbild nehmen und glauben, die Klarheit liege in der Formel.» In den Händen der anderen werde Philosophie zur endlosen Auslegung heiliger Texte. Aber Einsicht müsse anders entstehen: «durch ein Nachdenken, dessen Klarheit, Genauigkeit und Tiefe in der Nähe zur Erfahrung bestünde, die ein jeder mit sich selbst macht, ohne sie recht zu bemerken und ohne sie zu verstehen.»26

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9783035515695
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