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Entbilden, einbilden, überbilden

Eckhart legt kein Programm vor, keine Zeiten des Übens, Fastens und Betens. Ihm steht ein Ich vor Augen, das sich wahrnimmt. In der Hoffnung, dass es nicht verbildet sei, durch Gewalt und Unrecht innerlich erstarrt, so dass es keinen Zugang mehr findet zu sich und aussen Halt suchen muss.73 Eckhart fasst Bilden in drei Aspekte, die wohl aufeinander aufbauen, aber nicht scharf abgrenzbar sind: entbilden, einbilden und überbilden, alle drei Wortschöpfungen Eckharts. Dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch im Dreischritt verlaufe, als Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung, war nicht neu. Neu war das Eintreten in die Selbstwahrnehmung.

Entbilden soll sich das Ich: frei werden von den greifbaren Vorstellungen, von aller înbildunge kreatürlicher bilde, von denen er meint, sie würden ihn glücklich machen: Wenn ich das habe, wenn dies eintritt, dann endlich … Der Mensch soll sich sozusagen entbildern, loslassen, woran er sein Herz hängt, soll werden vrî sîn selbes und aller dinge. Ein Ich kann in Illusionen und Phantasien leben. Will es sich finden, müssen sie sich – durch Ent-täuschungen – auflösen. Die wichtigste dieser Phantasien ist das Bild, das es sich von sich selbst macht. «Der Mensch muss lernen, in allem, was er gibt, sein Selbstbild aus sich herauszuschaffen und nichts Eigenes zu behalten und nichts zu suchen, weder Nutzen noch Lust noch Innigkeit noch Süssigkeit noch Lohn noch Himmelreich noch eigenen Willen. Gott gab sich nie in einen fremden Willen; nur in seinen eigenen Willen gibt er sich. Wo aber Gott seinen Willen findet, da gibt er und lässt er sich in ihn hinein mit allem, was er ist. Je mehr wir dem Unseren entwerden, umso wahrhafter werden wir in diesem. Darum ist’s damit nicht genug, dass wir ein einzelnes Mal uns selbst und alles, was wir haben und vermögen, aufgeben, sondern wir müssen uns oft erneuern, mit uns eins werden und uns in allen Dingen loslassen»74: Gelassenheit – auch dies Wort stammt von Eckhart – lernen.

Eckhart beschreibt das Entbilden mit 2 Kor 3 als Entblössen. Je mehr «der Mensch das Bild Gottes in sich entblösst, um so klarer wird Gott in ihm geboren. So ist das Gebären Gottes allzeit danach zu fassen, dass der Vater das Bild aufdeckt und in ihm leuchtet. Indem ein Ich bei sich ist, gleicht es sich Gott an.»75 Indem es sich lässt, weniger um sich selber kreist, sondern wagt, ungeschützt, entblösst anwesend zu sein, findet das Ich in Gott Stand.

In die Leere, die das Loslassen der Phantasien freisetzt, klingt die Auseinandersetzung mit der Bibel und dem Schicksal Jesu. Sich einbilden, Gott in sich erbilden, bedeutet, sich aktiv zu identifizieren. «Der Mensch soll sich innerlich in allen Dingen hineingebildet haben in unseren Herrn Jesum Christum, so dass man in ihm einen Widerschein aller seiner Werke und göttlichen Erscheinung finde; und es soll der Mensch in vollkommener Angleichung, soweit er’s vermag, alle Werke Christi in sich tragen. Du sollst wirken, und er soll Gestalt annehmen. Tu du dein Werk aus deiner vollen Hingabe und aus deiner ganzen Gesinnung; daran gewöhne dein Gemüt zu aller Zeit und daran, dass du dich in allen deinen Werken in ihn hineinbildest.» Die Phantasie, bildunge, die sich vorher wild hierhin und dorthin wandte, kommt zur Ruhe. Am Gegenüber findet sich das innere Wirbeln. Der Mensch lernt, «die Dinge durchbrechen und seinen Gott darin ergreifen und kraftvoll in sich hineinbilden. Wie einer schreiben lernen will: Soll er die Kunst beherrschen, muss er viel üben, wie sauer es ihm auch werde und wie unmöglich es ihn dünke: will er nur fleissig üben, lernt er’s doch.»76

Diese Identifikation ist nur eine Zwischenstation, wie ein Platzhalter. «Solange sich irgendetwas in dir erbildet, was das ewige (unsagbare, nur innen vernehmbare) Wort nicht ist, und mag es auch noch so gut sein, so ist es wahrlich nichts Rechtes damit. Da Gott niemand gleich ist, müssen wir dahin kommen, dass wir nichts sind, auf dass wir in dasselbe Sein versetzt werden können, das er selbst ist. Wenn ich dahin komme, dass ich mich in nichts einbilde und nichts in mich einbilde und alles hinaustrage und hinauswerfe, was in mir ist, so kann ich in das blosse Sein Gottes versetzt werden. Denn, bliebe irgendein Bild, irgendein Vergleich in dir, würdest du niemals eins mit Gott.»77

Nun ergreift eine Dynamik das Ich, überbilden nennt Eckhart sie. Das entbildete Ich wird «überbildet von gotes êwicheit und komen ist in ganze volkomen vergezzenlicheit zerganclîches und zîtlîches lebens und gezogen ist und übergewandelt in ein götlich bilde, gotes kint worden ist. Darüber hinaus gibt es keine Stufe, dort ist ewige Ruhe und Seligkeit, denn das Ziel des inneren Menschen ist: ewiges Leben.» Hier wird der Mensch durchleuchtet von der Gegenwart des Vaters, der ihn je neu hervorbringt. Er wird Sohn, Bild, von ihm selbst und den anderen erfahrbar. «Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt, und ich werde.» Statt überbilden verwendet Eckhart auch verwandeln.78

Dies Ergriffenwerden nennt Eckhart Geburt. «Des Vaters Name ist: gebären; er gebiert mich als sein Ebenbild». Recht kühn! Die Tradition nennt den Ursprung fast durchgängig Vater, das Hervorbringen des Sohns Zeugen. Das Neue Testament spricht zwar vom neugeboren Werden durch Gott79, doch selten. Eckharts «Vater» aber gebiert ohne Unterlass – ein Hinweis mehr auf beginisches Erleben und Sprechen.

Im steten Neuwerden begreift das Ich nicht, wie ihm geschieht. Es lässt die Kontrolle. Hat keinen Plan, nur Vertrauen, lässt geschehen. Und kann «Gott nicht begreifen. Der unermessliche Gott, der in der Seele ist, der nur begreift den Gott, der unermesslich ist. Dort begreift Gott Gott und zeugt Gott sich selbst in der Seele und bildet sie nach sich.»80

Eckhart beschreibt keine Selbstzurichtung und -disziplin wie die Antike, sondern das Wagnis, sich zu öffnen. Entbilden schliesst Selbstdisziplin ein – und setzt voraus, dass die vernünfticheit schon da ist, gegeben, nicht erst zu erarbeiten; dass es also möglich ist, seinen Standpunkt in ihr zu nehmen und Distanz zu allem zu gewinnen. Sich Einbilden setzt voraus, dass das Schicksal Jesu geschehen ist und erzählt wird, auch dies eine Gabe. Im Überbildetwerden scheint der menschliche Beitrag am unscheinbarsten. Doch ist der Kontrollverlust, das sich Anvertrauen, das Allerschwierigste. Bezeichnet bilden in den ersten beiden Schritten auch eine menschliche Aktivität (efficere), so steht es im dritten für creari oder transformari, für geschaffen und verwandelt werden.

Eckharts bilden will nicht hohe Ideale anstreben, sondern bei sich sein. Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Empathie mit sich selbst werden viel wichtiger als in der Antike. Hie zuo gehoeret vlîz und minne (Eifer und Hingabe) und ein wol warnehmen des menschen inwendicheit und ein wacker wâr vernünfitigez würklichez wizzen, war ûf daz gemüete stât81: ein waches, wahres, hörendes, wirksames Wahrnehmen, in dem das Ich Stand findet.

Der Streit um die beginische Sprache eskalierte. Kurz nach Eckharts Tod verurteilt der Papst wichtige Aussagen Eckharts. Behauptungen und Haltungen kann man mit Gründen zurückweisen. Aber eine Selbstkundgabe, das Zeugnis von einer Erfahrung mit sich selbst? Die Verurteilung verfehlt den Geltungsanspruch, den Eckharts introspektives Sprechen erhebt. Sie kann eine Erfahrung, wie sie etwa ein Coming-out kundgibt, nur verdrängen. Das Ich bleibt dennoch auf sie verpflichtet. Sie gehört auch dann weiter zu ihm, wenn es sie verleugnet und abspaltet. So geschah es mit Eckharts bilden: Es wirkte im Schatten weiter, unter den Namen seiner Schüler.

Eckharts Synthese von sich Lassen ins Nichts, tätigem Leben und kritischem Denken brach in Stücke. Die Theologie identifizierte sich mit dem Urteil. Und gab den Anspruch auf, Spiritualität authentisch auszudrücken und Lernende auch im menschlichen Werden zu stützen. Theorie wollte nicht mehr Ausdruck und Zeugnis spiritueller Erfahrung sein. Der Nominalismus bestritt, dass Worte überhaupt etwas mit Erfahrung zu tun hätten. Theologie fand nur noch im Kopf statt, allem Emotionalen und Existentiellen fremd. Das Wort bilden spielte keine Rolle mehr. Aus dieser erfahrungslosen Perspektive hat man die Bewegung um Eckhart, viel später, Deutsche Mystik genannt. Verquere Bezeichnung! Sie versteht das Christentum gegen Paulus als blosse Theorie, nicht als lebendige Erfahrung des Geistes. Was Röm 8,15 f. als unmittelbares Erleben aller Christen voraussetzt, steht nun auf einem elitären Sockel. Vom Selbstverständnis der Christen ferngehalten, was zur Anpassung an die Priester und Professoren nötigt.

Dennoch! Die Achtsamkeit für den inneren Raums wirkte fort. Gebrochen, verstümmelt: Die Geschichte des Wortes bilden ging weiter. Jahrhunderte verbringt es am Rand der Gesellschaft, in kontemplativen Klöstern. Bei Eckharts Schülern Seuse und Tauler tritt es als Herzensbildung in scharfem Gegensatz zu kalter Gelehrsamkeit und weltläufiger Weite. Luther liest das gern. Bilden lebt im Pietismus weiter, als emotionales Engagement, in Spannung zu den Worten der Theologen. Und wie aus dem Nichts – tritt es bei den Aufklärern wieder in die Mitte.82 Gelehrsamkeit und Herzensbildung finden wieder zusammen, nun ins Aktive gewendet.

Ertrag

Bilden bezeichnet eine Dynamik, eine lebendige Beziehung. Geheimnis und Ich spiegeln sich ineinander. Das eine wird im anderen Gegenwart. Das Ich erfährt Verwandlung. Diese Erfahrung, in einem steten Prozess des sich Empfangens, des Geborenwerdens zu stehen, ist nur in der ersten Person zugänglich, als radikaler subjektiver Einsatz. Dem Aussenblick, der unbeteiligten dritten Person entzieht sie sich: ein Werden des Ichs, das man niemand zugänglich machen kann, der nicht auf eigene Erfahrung zurückgreift. Wer nicht selbst in diese Erfahrung hineingerät und eintritt, dem bleibt sie verschlossen. Die Gegenwart hingegen, schon das spontane Sprachgefühl, möchte bilden durch Bildung ersetzen. Möchte objektiv zupacken und ein System organisieren. Eckharts Wortschöpfung sperrt sich dagegen. Sein bilden lässt sich nicht herstellen. Im Gebildeten schwingt bis heute dieser subjektive Kern, dieses Engagement mit, das nicht machbar ist.

Wer ist Subjekt des Bildens? Vom Gesichtspunkt der Institution – damals der Kirche – aus betrachtet, entscheidet der Einzelne über seine Bildung. Es gibt keine Zwangsmittel, man muss das Ich im Guten überzeugen. Nicht umsonst verzichtet Eckhart auf Höllendrohungen. Aus der Sicht des Einzelnen indes geht es um ein Innehalten und Öffnen, dann um ein gebildet Werden, passiv. Die göttliche Gegenwart ist es, die bildet. Eckhart spricht ausdrücklich von Spiritualität, von einem Erleben, in dem Passivität und Empfangen die Führung haben. Von einem Kontrollverlust. Das heisst nicht, solche Erfahrungen wären nur innerhalb eines christlichen Bekenntnisses und Gebetslebens möglich. Aber Eckharts bilden geht verloren, wenn das Passive, wenn Hören und Empfangen verdrängt werden.

Es geht nicht um eine elitäre Erfahrung. Blickt ein Mensch zurück auf den durchwanderten Teil seines Lebens, so wird er beides finden: eigene Entscheidungen, eine selbstgeformte Gestalt – und das Geformtwerden durch Ereignisse, Begegnungen und Gefühle, die er sich nicht ausgesucht hätte. Mag er sie noch so ästhetisch zurechthauen: Die Biografie eines Menschen ereignet sich, entsteht aus unplanbarer Kommunikation in einem unabsehbaren Horizont. Im Rückblick scheint das selbstverständlich. Im Vorblick aber kann es die Illusion geben, es komme nur auf Leistung und Effizienz an. Dann scheint die Zukunft ganz der Aktivität aufgeladen. Unter solcher Überlast verkümmern Frische und Lebendigkeit. Es macht einen Unterschied, ob ein Ich mit dem Geformtwerden einverstanden ist, ob es sich lässt in die schweigende Offenheit einer Geschichte, die es gestaltet, ohne ihrer je Herr zu werden.

Die Begriffe der Universität beruhen auf Worten und Unterscheidungen. Die Erfahrung aber, um die es dem Prediger geht, ist âne mitel und âne underscheit. Grundverschiedene Welten, die bei Eckhart doch zwanglos miteinander sprechen. Er sieht keinen Gegensatz zwischen bilden und Gelehrsamkeit. Bilden hält Gedanken und Gefühl im Gespräch. Es ergreift und fordert alle Kräfte, Wahrnehmen, schlussfolgernde Vernunft, Selbstreflexion und Empathie mit sich selbst.

Zweckrationalität, gezielte Kontrolle der Ergebnisse will Eckhart loslassen, um sich zu finden. Wer «sich selbst und alle Dinge gelassen hat, des Seinen nichts an irgendwelchen Dingen sucht und alle Werke ohne Warum und nur aus Liebe tut: (der) lebt in Gott und Gott in ihm.» «Er will nichts und sucht nach nichts, da er kein Warum kennt, um dessentwillen er irgendetwas täte, so wie Gott ohne Warum wirkt und kein Warum kennt. So wie das Leben um seiner selbst willen lebt und kein Warum sucht, um dessentwillen es lebe, so kennt auch der Gerechte kein Warum, um dessentwillen er etwas tun würde.»83

Bilden schliesst ein Ja zur Vielfalt ein. «Es können nicht alle einem Wege folgen. Gott hat es mehr abgesehen auf unsere Liebe als auf unsere Werke. Wir sollen ihm je auf eigene Weise nachfolgen.» Ein jeder soll «merken und gemerket haben», wahrnehmen und reflektieren, «wozu er von Gott am stärksten gemahnt sei». «Ein jeder behalte seine gute Weise und beziehe alle anderen Weisen darin ein und ergreife in seiner Weise alles Gute und alle Weisen.»84 Dies bilden muss mit zentralistischer Vereinheitlichung in Konflikt geraten. Das ist wichtig, weil die romanischen und angelsächsischen Sprachen mit formation und éducation das Werden des Ich als Aktivität des Erziehers beschreiben. Darum sind sie unbefangen bereit, den Werdeprozesses von aussen zu planen. Anders als die deutsche wird die französische Aufklärung an der Kontrolle durch den Erzieher festhalten. Rousseaus Emile betont wohl die Individualität, aber bei Leitung von aussen. Man müsse die besonderen Anlagen des Kindes genau kennen, «um zu wissen, welche Lebensordnung ihm angemessen ist. Jeder Geist hat seine besondere Form, nach der er geleitet werden muss.» Der Wunsch zu lernen sei der Schlüssel zum Erfolg. Aber den solle der Erzieher erwecken, nicht etwa suchen. Der Erzieher solle Situationen so manipulieren, dass der Zögling es nicht merke. Wohl solle man ihm zuerst zuhören. Aber das Ganze findet nur am Schreibtisch statt! «Ich lege die Hand nicht ans Werk selber, sondern greife zur Feder. Statt das Notwendige zu tun, will ich es sagen. Ich habe mich also entschlossen, mir einen Zögling vorzustellen, mir selber aber Alter, Gesundheit, Kenntnisse und alle Gaben, die man zu seiner Erziehung braucht, anzudichten, um ihn von der Geburt bis zu der Stunde zu führen, wo er Mann und sein eigener Führer ist.»85 Im Kern keine Reflexion eines dialogischen Prozesses, sondern autoritärer Idealismus auf der Spur Platons. Bologna wird von der französischen Regierung ausgehen.

2.3Das starke Ich bildet sich: Aufklärung
Kopf, Herz und Hand: Heinrich Pestalozzi (1746–1827)

In Pestalozzis Leben pflügte die Aufklärung tiefe Wunden. Rousseaus ideale Erziehung von Emile wandte er Punkt für Punkt auf die Erziehung seines Sohns Hans Jakob (Jean Jacques) an. Und scheiterte tragisch. Als Landwirt wollte er mit neuen Pflanzen und Methoden verarmten Bauern ein Beispiel geben. Es ging unter hohem Verlust schief. Dann nahm er 40 Kinder auf seinem Landgut auf. Sie lernten spinnen, weben und gärtnern, erhielten Schule, ethische und religiöse Erziehung. Der Verkauf der Produkte sollte es finanzieren. Es misslang, Pestalozzi geriet in Schulden und musste schliessen. An diesen Schlägen gereift, wurde er als Schriftsteller europaweit bekannt. 1800 gründete er mit Erfolg das Erziehungsinstitut in Burgdorf. Doch es belastete Mut und Leidensfähigkeit aufs Äusserste. «Ich ermüdete in Burgdorf bald wie in Stans. Freund! Wenn du jemals einen Stein nicht ohne Hülfe zu heben vermagst, so probiere es keine Viertelstunde ohne diese Hülfe. Ich tat ohne Vergleich mehr, als ich schuldig war, und man glaubte, ich sei mehr schuldig, als ich tat; meine Brust war vom Schulhalten vom Morgen bis in die Nacht so angegriffen, dass ich das Äusserste gefährdete.»86 Trotz solcher Zustände, oder gerade in ihnen, entwickelte Pestalozzi seine eigenständige Lehr- und Erziehungsart.


Die Natur des Menschen ist gut: weil von Gott geschaffen! Darin folgt Pestalozzi Rousseau – und verinnerlicht ihn. Bei Rousseau war die Eigenart des Zöglings von aussen zu erkennen; alles kam auf den Erzieher an. Bei Pestalozzi liegt alles an der Haltung zu sich selbst. «Glaube an dich selbst, Mensch, glaube an den inneren Sinn deines Wesens, so glaubest du an Gott und an die Unsterblichkeit.» Gottvertrauen begründet Selbstvertrauen. Natur bedeutete noch nicht das naturwissenschaftliche Objekt exakter Erforschung und Beherrschung. Natur hiess unbefangen das, was von allein wächst, was nährt, auch wovor der Mensch sich schützen muss, Unkraut, Wolf, Überschwemmung. Der bedrohliche Sinn fällt bei Pestalozzi weg. Er teilt den Optimismus seiner Zeit. Der «Glaube an die Möglichkeit einer Veredlung des Menschengeschlechts» treibt ihn, doch gebrochen, differenzierter als Rousseau. Erziehung kann kein für alle gleiches Programm sein – das hat ihn Jakobli gelehrt. Sie soll beim Hören beginnen, auf die Dynamik, in der ein jeder immer schon steht. Pestalozzi vertraut darauf, dass in jedem eine Kraft, die Natur, da ist, die alles zusammenführt und zum Guten wendet – wenn das Ich auf sie hört. «Die Menschen wissen nicht, was Gott (als Schöpfer ihrer Natur) für sie tat, und geben dem unermesslichen Einfluss der Natur auf unsere Bildung kein Gewicht.»87

In Wie Gertrud ihre Kinder lehrt verkörpert eine Arbeiterin Mütterlichkeit und Bodenständigkeit. Sie ermutigt zu eigenen Schritten, als Gegenüber einer tragfähigen Beziehung. Die Aufklärung bedarf als Gegengewicht der Empathie, der Quelle und belebenden Kraft menschlichen Wachsens. Sie lebt in der Liebe der Familie, nicht in der Schule. «Im Unterschied zu Sokrates und Rousseau ist Gertrud liebevoll und legt Wert darauf, Kinder nicht nur kritikfähig zu machen, sondern auch emotional zu entwickeln.»88 Pestalozzi verzichtet auf den Allmachtsanspruch vernünftiger Planung. An der kritischen Herausforderung keine Abstriche – aber ohne mütterliche Wärme geht der Samen nicht auf. Die Schule hängt von Beziehungen ab, die sie nicht herstellen kann.

Einen Gegensatz von Bildung und Natur kann es nicht geben, so dass man Gewalt anwenden müsste. Jeder strebt doch nach Bildung! «Der Mensch ist gut und will das Gute; er will nur dabei auch wohl sein, und wenn er böse ist, so hat man ihm sicher den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte. Schreckliches Wegverrammeln! Es ist so allgemein, der Mensch ist deshalb so selten gut.» Obwohl die Menschen fühllos zueinander sind, verdirbt der gute Kern nicht leicht. «Soweit Menschen Einfluss hatten, fand ich namenlose Erschlaffung; aber hinter (ihr) war die Natur nicht getötet. Es geht unbegreiflich lang, eh Irrtum und Wahnsinn eines Kindes Herz ganz erstickt hat.»89

Dies Vertrauen lässt vernichtend über die Schule urteilen, die auf blinden Zwang und Gewalt setzt. «Der Unterricht, wie ich ihn ausgeübt sah, taug(t)e für das Allgemeine und die unterste Volksklasse gar nichts.» Jedes Sehen mit Kinderaugen fehlt. «Stell dir das Entsetzen dieses Mordes vor. Man lässt die Kinder bis ins fünfte Jahr im vollen Genuss der Natur; sie fühlen ihre Kraft. Nachdem sie die Seligkeit des sinnlichen Lebens genossen, macht man auf einmal die Natur verschwinden; stellt den reizvollen Gang ihrer Zwanglosigkeit tyrannisch still; wirft sie in Haufen zusammengedrängt in eine stinkende Stube; kettet sie Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre unerbittlich ans Anschauen elender, reizloser Buchstaben und an einen mit ihrem vorherigen Zustand zum rasend werden abstechenden Gang.» So bleiben die aufklärerischen Ideale unwirksam; die Kinder sind weiter von Bildung entfernt als zuvor, da sie arbeiten mussten. «Man baut Schlösser in die Luft und brüstet sich Vernunft und Selbstständigkeit, die nur auf dem Papier sind und in den Schulen mehr als selbst auf Schneider- und Webstühlen mangeln.»90

Es gilt die ursprüngliche Integrität zu wahren. «Bildung zum reinen Sinn der Einfalt und Unschuld, Vatersorge, dass die unverdorbenen Grundlagen des Herzens seine Entwicklung schützen und leiten.» Erziehung soll der Eigendynamik des Ich die Hindernisse aus dem Weg räumen. Diese «psychologische Unterrichtsmethode ist für einen jeden ein Spiel, sobald er den Faden ihrer Anfangspunkte in die Hand kriegt, der ihn sichert, sich nicht mehr in die Abwege zu verirren, welche die Kunst schwer machen, indem sie ihre Fundamente in ihm selbst verhunzen und ihn von der Natur wegführen, die nichts von uns fordert, das nicht leicht ist, wenn wir es nur auf dem rechten Wege und nur an ihrer Hand suchen.»91

Bildung geht vom Vertrauten aus. Schule darf nicht auf Kosten des Bei-sich-Seins gehen. «Du kannst nicht alle Wahrheit brauchen. Der Kreis des Wissens, durch den der Mensch in seiner Lage gesegnet wird, ist eng und muss bei jeder Dehnung sich nach dem Mittelpunkt aller Segenskraft richten.» Nur was Lebendiges berührt, bildet, nicht «das zerstreute Gewirr des Vielwissens». Dies Lebendige ist nicht für alle gleich. Es ist immer schon inhaltlich bestimmt, ohne dass das Ich es gewählt hätte. Es wird vorgefunden. Kein Kind ist eine tabula rasa, die alles Mögliche lernen kann, sondern ein Gefüge lebendigen Berührtseins. «Der Mensch ist an sein Nest gebunden, und wenn er es an hundert Fäden hängt und mit hundert Kreisen umschreibt, was tut er mehr als die Spinne? Sie sitzen alle im Mittelpunkt des Kreises, den sie umschreiben. Der Mensch wählt den Mittelpunkt, in dem er wallt und webt, nicht selbst, und erkennt alle Wahrheit nur nach dem Mass, als die Gegenstände, die ihm zur Anschauung kommen, sich dem Mittelpunkt nähern.» Ohne Achtsamkeit fürs Eigne kein Wachsen! «Lerne erst deine Anschauungen ordnen und das Einfache vollenden, eh du zu Verwickeltem fortschreitest.» Aus innerem Berührtsein soll’s kommen; Antrainiertes interessiert nicht. Pestalozzi will Herzblut spüren. Wie weit das führt, ist unwichtig. «Wer nicht in seinen inneren Kräften Mensch ist, dem fehlt Grundlage zur Bildung seiner besonderen Lage, die keine äussere Höhe entschuldigt.»92

Hand, Fuss, Kopf und Herz dürfen nicht stillstehen, soll’s wohlgehen. Übt und braucht einer «wider seine Natur nur eins allein, wird er eine verkünstelte Maschine und muss viel lange Zeit», also depressive Zustände haben. «Es ist das Gleichgewicht der Kräfte in unserm Innersten, was uns sanft zu allem hinführt, was wir sein und tun sollen und was die Langeweile heilt.» «Eine sich in allen Verhältnissen bewährende Wahrheit: nur was den Mensch in der Gemeinkraft der Natur, als Geist, Herz und Hand ergreift, ist wirklich bildend. Was nur einseitig, in Herzens-, Geistes- oder Kunstkraft ergreift, untergräbt und stört das Gleichgewicht.» Das führt zu Missbildung und Verkünstelung. Was das Herz erhebt, bildet nicht den Geist. «Der Mensch ersetzt mit dem Kopf das Herz und mit der Hand den Kopf nicht.» Ein Menschenkenner, der hinschaut und kein Blatt vor den Mund nimmt! «Jede einseitige Entfaltung einer unserer Kräfte ist nur Scheinbildung, führt zum Selbstbetrug grundloser Anmassungen, zur Misskennung seiner Schwächen und zur harten Beurteilung aller, die nicht mit (der) Einseitigkeit übereinstimmen. Das ist bei Menschen, die Herzens und Glaubens halber überschnappen, ebenso wahr als bei denen, die ihrer Geisteskraft in liebloser Selbstsucht einen ähnlichen Spielraum der Unnatur und ihres Verderbens eröffnen. Alles Übergewicht einer Kraft führt zu Aufgedunsenheit ihrer Ansprüche, die im Innern lahm und tot ist.»93

In Pestalozzis aufgeklärter Erziehung spiegelt sich die Tradition. Die Sprache, die das Chaos seines Lebens und Erziehens ordnet, geht auf Eckhart zurück. «Wo eine der drei Kräfte gelähmt, unentfaltet und ungebildet und noch mehr verbildet dasteht, mangelt der Gemeinkraft die Basis.» Die drei Aspekte «Geistes, Herzens und Kunst halber» entsprechen den drei klassischen Gestalten des Heiligen, dem Wahren, Guten und Schönen. Die Beziehungsfähigkeit, Herzensbildung, ist Pestalozzi die Wichtigste. Alle Menschenweisheit «beruht auf der Kraft eines guten, der Wahrheit folgsamen Herzens und aller Menschensegen auf diesem Sinne der Einfalt und Unschuld». Das entspricht Eckharts vernünfticheit. Das Verhältnis von Natur und Bildung bei Pestalozzi folgt jenem von Natur und Gnade bei Thomas von Aquin: gratia supponit naturam. Menschlicher Umgang mit sich selbst und seinesgleichen lebt von einer langen Geschichte, einer breiten Erfahrung und ihrer Reflexion. Wo Macher daherstürmen, nur noch eines gelten lassen, das Alte vom Tisch wischen, geht die Menschlichkeit verloren, das vielschichtige Hören auf das wunderbar vielfältige Wesen Mensch. Das Vertrauen auf das Potential jedes Einzelnen verlangt, dass die Ansprüche der individuellen Natur denen der Kollektivexistenz vorgehen.94 Bildung ist für die Entfaltung des Einzelnen da, nicht umgekehrt.

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