Читать книгу: «Leander und die Stille der Koje», страница 7

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»Ariana Jeronski, Lärchenweg 17 hier in Wyk. Aber lassen Sie ihre Eltern aus dem Spiel, die kommen aus Polen, erz­katholisch, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Das heißt, Arianas Eltern mögen Sie nicht besonders? Vor allem Ihre abendlichen Touren mit dem Geländewagen?«, provozierte Dernau, der sich Namen und Adresse notiert hatte.

Maarten Rickmers nickte verlegen. »So kann man das sagen. Ariana soll ihr Abitur machen und dann einen Polen heiraten, am besten einen Bauern.« Er lachte auf und schüttelte verächtlich den Kopf.

»Gut, Herr Rickmers.« Bennings erhob sich von seinem Stuhl. »Sie halten sich bitte zu unserer Verfügung, falls wir noch Fragen haben. Das heißt, Sie verlassen die Insel nicht, ohne uns zu informieren. Und beim nächsten Mal leisten Sie weniger Widerstand, wenn wir Sie sprechen möchten. Das macht nämlich keinen guten Eindruck.«

»Aber Sie sind ja noch jung«, ergänzte Dernau grinsend. »Sie lernen das bestimmt noch.«

Die Kommissare sahen Maarten Rickmers an, dass er sich zusammenreißen musste, als er nun den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.

»Was meinst du?«, erkundigte sich Bennings bei seinem Kollegen.

»In dem brodelt es gewaltig. So grün der hinter den Ohren ist, so arrogant und aggressiv ist er auch. Gefährliche Mischung, wenn du mich fragst.«

»Und seine Einschätzung, was mögliche Verdächtige betrifft?«

»Weiß nicht. Die Sache mit dem Streit zwischen Arfsten und Rickmers scheint heftiger zu sein, als er sie darstellt. Auch ein Verhältnis zwischen seiner Mutter und Arfsten halte ich immer noch für möglich. Vielleicht weiß er nichts davon. Allerdings ist sein eigenes Alibi nicht gerade überzeugend. Und falls es doch stimmt, hat seine Mutter keines mehr.«

Bennings zuckte mit den Schultern. »Das sind im Grunde noch Kinder. Wenn die nicht wissen, wo sie hin sollen, kann es doch sein, dass sie den Rücksitz des Autos gewählt haben. Und dass sie dabei allein sein wollten, kann man ihnen nicht vorwerfen. Außerdem konnten sie nicht wissen, dass sie ein Alibi brauchen. Stell dir nur mal diese Konstellation vor: Arianas Eltern akzeptieren Maarten nicht, weil er ein großkotziger Filou ist, der die Unschuld ihrer Tochter gefährdet; und Maartens Eltern akzeptieren das zugewanderte Polenmädchen aus kleinen Verhältnissen nicht.«

»Drei Nachteile auf einmal, das geht nun wirklich nicht«, feixte Dernau im Tonfall der Überraschungseier-Werbung.

»Wieso drei Nachteile?«

»Na, Polin, Zugewanderte und dann noch unstandesgemäß. Wenn Wiese schon nach vierzig Jahren nicht dazu gehört, was muss wohl geschehen, dass Aussiedler hier akzeptiert werden?!«

»Da hast du recht. Schlimm, aber wahr. In solchen Momenten weiß ich, warum ich nicht auf einer Insel leben will.«

»Gut, lass uns Feierabend machen und etwas essen gehen. Ein frisches Bier auf der Promenade würde mir jetzt gefallen«, schlug Dernau vor. »Das Alibi von dieser Ariana kann auch einer unserer Chefs hier überprüfen. Sonst wird es den Inselsheriffs noch langweilig und die kommen auf dumme Gedanken. Und um Frau Rickmers kümmern wir uns, wenn Maarten Rickmers’ Alibi bestätigt wird. Morgen besuchen wir dann Frau Olsen und diesen Paulsen.«

Bennings stimmte zu und gab dem Kollegen Vedder den Auftrag, Maarten Rickmers’ Angaben bei Ariana Jeronski zu überprüfen. Auch den Zettel mit den Namen der Skatbrüder Brar Arfstens ließ er ihm von Dernau aushändigen, um das Alibi des Landwirts überprüfen zu lassen. Dann verließen sie die Zentralstation und umrundeten das Hafenbecken, um durch das Fluttor am Rathausplatz auf den Sandwall zu gelangen und den Abend dort mit einem guten Mahl und dem einen oder anderen Pils einzuläuten.

6

Henning Leander ging die wenigen Meter von der Wilhelmstraße zur Mühlenstraße durch die Fußgängerzone. Die Mittelstraße war noch ziemlich belebt, was sicherlich an den sommerlichen Temperaturen lag, die inzwischen bis weit in die Nacht herrschten. Die Insel hatte Hochsaison, und außerdem hatte das bevorstehende Stadtjubiläum zusätzlich Urlauber hergelockt. Entsprechend fand sich auch in den Schaufenstern der Wyker Buchhandlung und der Buchhandlung Bücher und Mee(h)r noch mehr inselspezifische Literatur als sonst.

Am Nachmittag hatte Leander Lena Gesthuysen angerufen und ebenfalls auf die Insel eingeladen. Sie hatte ihm zunächst von ihrer Überarbeitung vorgestöhnt, sich aber schließlich doch darauf gefreut, ihn endlich einmal wieder zu sehen. Von dem Stanfour-Konzert hatte er ihr nichts gesagt, das sparte er sich als Überraschung auf, wenn sie am Samstag herüberkam.

Jetzt war er auf dem Weg zu seinem Skatabend im Kleinen Versteck, einer urigen Kneipe in der Mühlenstraße, mit der es eine ganz besondere Bewandtnis hatte. Die heutige Kneipe war bis vor ein paar Jahren noch eine Kirche gewesen, genauer gesagt die Kirche eines recht eigentümlichen Geistlichen. Pastor Dirk Wittkamp, den in Wyk alle nur Mephisto nannten, hatte seine ohnehin sehr überschaubare katholische Gemeinde durch seine spezielle ketzerische Art der Predigt zusätzlich dermaßen reduziert, dass die kleine Kirche in der Mühlenstraße bald maßlos überdimensioniert schien. Und da sich die Katholische Kirche in Schleswig-Holstein ohnehin quasi in der Diaspora befand und immer schaute, wo sie Kosten einsparen konnte, war der Beschluss gefasst worden, dass die Gemeinde in eine kleine Kapelle umziehen sollte. Dann brauchte sie auch keinen eigenen Seelsorger mehr. Der konnte am Sonntag vom Festland kommen, die Messe halten, die Beichte abnehmen und dann wieder mit der Fähre ablegen, um auf Amrum den nächsten Dienst anzutreten. Für den Bischof die willkommene Gelegenheit, den unbequemen Pastor Wittkamp von der Insel zu entfernen. Die Kirche in der Mühlenstraße war ausgesegnet und einem Makler übergeben worden. Dass ausgerechnet Wittkamp sie kaufen und darin eine Kneipe eröffnen würde, anstatt eine Gemeinde auf dem Festland zu übernehmen, hatte der Bischof nicht ahnen können.

In diesem Kleinen Versteck nun trafen sich wöchentlich ein paar merkwürdige Gestalten, angeführt von Mephisto und mit einer Ausnahme Aussteiger wie er, um nach eigenen Regeln einen gepflegten Skat zu spielen. Henning Leander gehörte seit dem letzten Winter zu dieser skurrilen Truppe und neben ihm noch der Maler Götz Hindelang, der seinen Lebensunterhalt mit Bildern verdiente, die von Touristen gerne als Mitbringsel gekauft wurden, und von dem bislang niemand wusste, wo er eigentlich herkam. Hindelang, das wusste Leander von Mephisto, war eines Tages auf der Insel erschienen, hatte sich eines der Häuser auf den Warften in Greveling zwischen Wyk und Nieblum gekauft und dort sein Atelier eingerichtet. Was er vorher gemacht hatte, wusste niemand, und Fragen danach pflegte er zu ignorieren. Der Vierte im Bunde war Tom Brodersen, der einzige Nichtaussteiger unter den Skatbrüdern. Brodersen war Lehrer am Wyker Gymnasium und nebenbei Heimatforscher und Vertreter der Grünen im Stadtrat.

Die Luft im Kleinen Versteck war mies wie immer. Mephisto lüftete offenbar nur, wenn es gar nicht mehr anders ging, und aus dem bundesweiten Rauchverbot machte er sich gar nichts. Entsprechend dicht waren die Nebelschwaden, die Leander zu durchdringen hatte, als er auf den Tisch in der Nische zusteuerte, an dem Mephisto, Hindelang und Brodersen schon vor ihren Biergläsern saßen. Die Karten lagen in der Mitte des Tisches und harrten des vierten Mannes, den es aus spieltechnischen Gründen nicht brauchte, aus gruppendynamischen aber sehr wohl.

Leander klopfte auf den Tisch, erntete dafür ein wortloses Gegenklopfen der anderen und setzte sich auf den freien Stuhl. Noch bevor er an den Tisch herangerückt war, stand bereits ein frisch gezapftes Bier vor ihm, denn die junge Bedienung hatte Anweisung, den Strom gerade an diesen Tisch niemals versiegen zu lassen.

»Sieh an, sieh an«, tönte der kleine, aber schwergewichtige Mephisto in seinem tiefen Bass und zog seine buschigen Augenbrauen über den kleinen, vorwitzigen Knopfaugen hoch. »Der ehemalige Angehörige einer Herde von Spaltfüßern kommt wieder einmal zu spät – oder gehören Bullen und andere Rindviecher zu den Paarhufern?«

»Viel wichtiger als derartige zoologische Betrachtungen«, wies ihn Götz Hindelang zurecht, »ist doch die Frage, auf welcher Weide er so lange gegrast hat. Sollte es die der hübschen Eiken gewesen sein?« Dabei griff er sich mit beiden Händen an seinen eigenen Pferdeschwanz und zog das Gummi stramm, das die langen grau melierten Haare zusammenhielt.

Tom Brodersen stöhnte laut auf. »So geht das schon die ganze Zeit«, beklagte er sich bei Leander. »Bevor du gekommen bist, hatten sie mich drauf. Nachher musst du mir ein paar Tricks verraten, wie man den perfekten Mord begeht. Wir beide schauen uns lieber nach neuen Skatbrüdern um, als dass wir uns dieser Zumutung weiter aussetzen.«

»Da muss ich dich enttäuschen, lieber Tom. Zum einen weiß ich nicht, wie man den perfekten Mord begeht, sonst müsste ich meiner Frau keinen Unterhalt zahlen, damit sie sich ihre Reduzierung auf eine halbe Stelle leisten kann. Zum anderen werde ich den Teufel tun, es mir mit Mephisto zu verderben. Der steht mit den finstersten Mächten im Bunde.«

»Da hast du’s, Tom: Pauker haben keine Freunde!«, wies Mephisto den Lehrer mit erhobenem Zeigefinger zurecht und nahm die Karten auf, um sie umständlich zu mischen. »Wird Zeit, dass du das begreifst und dich in dein Schicksal ergibst. Deinen guten Willen kannst du gleich beweisen, indem du heute Abend überzeugend verlierst.«

»Erste halbe Stunde Ramsch!«, ordnete Hindelang an. »Damit erst mal was in den Pott kommt.«

In der Mitte des Tisches stand nämlich ein kleines rotes Töpfchen, das immer dann ebenfalls bedient wurde, wenn jemand sein Spiel verlor und zahlen musste. Beim Ramsch wurde jedes Spiel auch in den Pott bezahlt, so dass er in der ersten halben Stunde rasch anwuchs. Dem Reglement entsprechend bekam derjenige den kompletten Inhalt des Topfes, der einen Grand Hand spielte und gewann. Verlor jemand einen Grand Hand, musste er nicht nur seine Mitspieler nach ordentlicher Berechnung bezahlen, sondern er musste auch den Inhalt des Töpfchens verdoppeln. Das konnte mitunter sehr teuer werden.

Der Ramsch lief an diesem Abend relativ ausgeglichen. Jeder verlor mal und gewann anschließend auch wieder, so dass zwischen den Spielern kaum Umsatz stattfand und allein der Pott anschwoll. Nach der halben Stunde wurde dann regulär gereizt. Mephisto mischte ausgiebig das erste normale Spiel.

»Sag mal, Mephisto, warst du das damals in Ohio?«, erkundigte sich Hindelang und starrte entgeistert auf dessen Mischkünste, bei denen nicht selten einige Karten auf den Tisch fielen.

»Wovon faselst du, Meister Klecks?«

»Von dem besagten Pokerspiel, bei dem sich einer totgemischt hat.«

»Ha, ha und nochmals ha!«, erwiderte Mephisto mit versteinerter Miene und legte Leander, der rechts neben ihm saß, den Kartenstapel hin, damit er abhob. Dann teilte er seinen drei Mitspielern die Karten aus und schaute selber in den Skat, denn der Geber musste bei vier Spielern aussetzen. »Oha!«, verkündete er, legte die beiden Karten verdeckt wieder auf den Tisch und klopfte mit seinem wurstigen Zeigefinger gewichtig darauf. »Der brummt!«

Leander hatte ein Blatt, mit dem er bestenfalls Fliegen verscheuchen konnte. Also sagte er bereits bei 18 »Weg!« und verfolgte entgeistert, wie sich Brodersen und Hindelang bis 48 hochreizten. Tom hätte weitersagen müssen, konnte dies aber nicht, so dass Hindelang das Spiel bekam. Er nahm den Skat auf, schaute hinein, warf ihn angewidert auf den Tisch, fixierte Mephisto abschätzig, der völlig unbeteiligt dreinschaute, nahm den Skat erneut auf, aber auch der zweite Blick in die beiden Karten gefiel ihm offensichtlich nicht besser.

»Warum falle ich eigentlich immer wieder auf den verlogenen Schwarzrock herein?«, fragte er fassungslos.

»Man reizt ja auch nicht auf den Stock«, belehrte Leander ihn.

»Solltest du dereinst das Mysterium der Gutgläubigkeit vor allem Kirchenvertretern gegenüber ergründen, teile mir das Ergebnis bitte mit«, erwiderte Brodersen, der sichtlich damit zufrieden war, dass er die Karten nicht bekommen hatte, denn nach Lage der Dinge waren sie offenbar so schlecht, dass sie bestenfalls in Leanders Blatt gepasst hätten.

»Ich will es euch erklären«, hob Mephisto dozentenhaft an. »Der Homo sapiens allgemein, der Insulaner im Besonderen und Skatbrüder sowieso glauben gerne an das Gute im Menschen, weil sie dann reinen Gewissens dem Irrglauben unterliegen können, sie selbst seien im Grunde gut und edel. Ich aber, vor allem in meiner Eigenschaft als Seelsorger, habe es mir zur Aufgabe gemacht, den Menschen ihr wahres Ich zu spiegeln. Das fällt mir in meiner eigentlich grenzenlosen Güte zugegebenermaßen unendlich schwer, aber ich betrachte es nun mal als meine Pflicht, die Welt zu retten. Also halte ich das aus.«

Brodersen legte seine Hände gebetsartig zusammen, hob sie vor seine Stirn und bewegte den Kopf langsam auf und nieder. »Dank, großer Meister, hab Dank!«, wiederholte er mehrmals in einem Singsang, der an hinduistische Tempelgebete erinnerte.

Mephisto winkte bescheiden ab, lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen in seinem Stuhl zurück, schloss huldgewohnt die Augen und entgegnete: »Da nicht für.«

Hindelang hatte inzwischen mehrfach zwei Karten gedrückt, sie wieder aufgenommen, in sein Blatt zurück gesteckt und zwei andere gedrückt, wobei sein Gesichtsausdruck immer verzweifelter wurde. Schließlich sagte er mit der Miene eines Mannes, der geradewegs auf dem Weg zur Guillotine war, einen Grand an.

»Kontra!«, entgegnete Tom Brodersen triumphierend.

»Re!«, donnerte Hindelang dagegen.

Leander wurde schwindelig angesichts der Tatsache, dass Brodersen das Spiel nicht nur gewinnen musste, sondern er musste es mit ihm zusammen gewinnen. Mephisto beugte sich nach rechts und blickte in Toms Karten. Dabei erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht, das diabolischer nicht hätte sein können.

»Jetzt verliert einer, der weiß das noch gar nicht!«, verkündete er zufrieden und empfing dafür einen verschwörerischen Blick Brodersens, der sich seiner Sache offenbar absolut sicher war.

Hindelang hatte das Aufspiel. Er zog zunächst den Kreuz-Buben und entlockte Brodersen damit seinen Karo-Jungen. Leander hatte nur kleines Kroppzeug, das er völlig wirkungs- und damit auch gefahrlos dazuwerfen konnte. Dann folgte Hindelangs Pik-Bube, und mit Brodersens Herz-Buben waren nun alle Trümpfe aus dem Spiel. Tom Brodersen begriff schlagartig, was geschah: Hindelang hatte zwei starke Farben – Kreuz und Herz –, die er nun von oben ausspielen konnte. Da nützte Brodersen sein Blatt, das genau das Gegenblatt zu Hindelangs war – Pik und Karo von oben – gar nichts. Im Ergebnis spielte Hindelang Tom Brodersen und Leander schwarz, was in etwa dieselbe Wirkung auf die beiden hatte wie Stalingrad auf General Paulus.

»Lieber Herr Oberlehrer«, hob Mephisto nun im Ton eines eben solchen an, »beim nächsten Mal achte er darauf, wer das Aufspiel hat! Du hättest deinen Grand genauso verloren. Das heißt, ohne den Stock, denn der hätte dich wieder nach vorne katapultiert.«

»Wie jetzt?«, erkundigte sich Brodersen und erkannte an dem Grinsen Hindelangs, dass dieser ein grandioser Schauspieler war. »Sag bloß, da war doch etwas Gutes drin?«

»Genial«, antwortete Hindelang. »Kreuz-Ass und Herz-Ass. So wurde aus meinem Kreuz-Schneider, den ich eigentlich hatte spielen wollen, ein sauberer Grand. Aber eben auch nur, weil ich das Aufspiel hatte.«

Mephistos Hände lagen nun gefaltet auf seinem vorgewölbten Bauch, sein Gesicht hatte den Ausdruck eines zutiefst betroffenen, weil zu Unrecht beschuldigten kleinen Jungen. »Ich habe doch gesagt, dass der Stock brummt. Wieso glaubt mir denn keiner?«

»Spielen wir hier eigentlich Skat, oder pokern wir?«, protestierte Brodersen.

»Also, wir anderen, lieber Tom, wir spielen Skat«, antwortete Hindelang.

»Willst du damit sagen, dass mein Kontra nicht gerechtfertigt war?«, wehrte sich Brodersen.

»Angesichts meines Aufspiels nicht«, belehrte ihn Hindelang.

»Ein Pokerspieler. Quod erat demonstrandum«, dozierte Mephisto und deutete mit seiner rechten Hand auf Brodersen.

»Liebe Freunde«, mischte sich nun Leander ein, »beendet bitte diesen fruchtlosen Disput. Lasst uns zahlen und das Spiel vergessen, bevor ich begreife, dass ich gerade für die Dummheit eines Geschichtslehrers in Mithaftung genommen werde. Sonst probiere ich heute Abend doch noch den einen oder anderen Mordtrick aus.«

Sie zahlten Hindelang die stolze Summe von einem Cent pro Punkt, was auf 4,80 Euro pro Person hinauslief. Das würde den ganzen Abend über nicht mehr hereinzuholen sein, auch wenn nach dem ungeschriebenen Reglement dieser verbal schlagenden Verbindung, die sich Skatrunde nannte, nach Kontra und Re nun für den Rest des Abends Bockrunden folgen würden, in denen die Beträge grundsätzlich verdoppelt wurden.

»Apropos Mord«, setzte Mephisto nun an. »Ihr solltet morgen aufmerksam die Zeitung lesen, denn da wird von einem solchen die Rede sein.«

»Rickmers«, bestätigte Brodersen, und Hindelang nickte wissend.

»Wie jetzt?«, erkundigte sich Leander, der offenbar wieder als Einziger uninformiert war.

»In der letzten Nacht ist unser allseits bekannter und wenig geliebter Chefjäger Nahmen Rickmers, seines Zeichens Leiter der Kreisjagdabteilung auf Föhr und amtierendes Oberarschloch, in der Boldixumer Vogelkoje ermordet worden«, klärte Mephisto ihn auf. »Erschlagen, um genau zu sein. Ich wage zu behaupten, dass das kein perfekter Mord war.«

»Woher weißt du davon, wenn es erst morgen in der Zeitung steht?«, erkundigte sich Leander, der sich in seiner aktiven Zeit als Hauptkommissar immer wieder über den schnellen Buschfunk geärgert hatte, weil Überraschungsmomente für die Ermittler dadurch häufig verhindert wurden.

»Einer der Inselpolizisten ist Katholik«, erklärte Mephisto, »und als treues Schäfchen weiß er, was er seinem neugierigen Ex-Hirten schuldig ist.«

»Und ihr? Woher wisst ihr das schon?«, fragte Leander Tom und Götz.

»Rickmers’ Sohn ist einer meiner Schüler in der Oberstufe«, sagte Tom Brodersen leichthin. »Er ist heute nicht zum Unterricht erschienen und hat im Sekretariat ausnahmsweise mal den wahren Grund dafür angegeben. Und unsere Sekretärin ist mir in inniger Zuneigung verbunden – rein platonisch, versteht sich.«

»Einer meiner Nachbarn ist Jäger«, ergänzte Hindelang. »Ich habe ihn heute Vormittag beim Hinausschieben der Mülltonnen getroffen und gefragt, warum er so blass sei. Da hat er mir von der Sache erzählt. Du siehst, Reinlichkeit zahlt sich aus.«

»Lieber Henning«, Mephisto legte Leander mitleidig eine Hand auf seinen Arm, »das hier ist eine Insel. Hier spricht sich alles herum, noch bevor es wirklich passiert ist. Wenn du oder deine Nachfahren dereinst dazugehören werden, in etwa zweihundertfünfzig Jahren also, werdet ihr auch immer alles erfahren.«

»Dann weißt du ja auch, wer der Mörder ist«, folgerte Leander.

»Tja, mein Lieber, auch auf Inseln hat das Mitteilungsbedürfnis von Mördern und deren Mitwissern seine Grenzen. Und meine zuverlässigen Quellen in höheren Sphären« – er deutete gen Himmel, respektive auf das Gewölbe der ehemaligen kleinen Kirche – »haben bislang geschwiegen.«

»Götz gibt«, erinnerte Brodersen sie an den eigentlichen Grund ihres Treffens. »Oder sollten wir heute nur ein richtiges Spiel machen?«

»Angesichts des Umsatzes, den du damit provoziert hast, würde das in der Tat reichen«, stichelte Mephisto.

»Nichts da«, protestierte Brodersen. »Das hole ich mir alles zurück. Jeden einzelnen Cent. Also los jetzt!«

Nachdem Leander zwei Spiele später ausgeteilt hatte und folglich nun aussetzen musste, griff er noch einmal das eben unterbrochene Thema auf: »Weiß sonst noch jemand etwas über den Mord in der Vogelkoje?«

»Er lässt nicht locker!«, stöhnte Hindelang.

»Das ist wohl das, was man eine ›deformation professionelle‹ nennt«, vermutete Brodersen.

»Na bitte, weiß er doch etwas, unser kleiner Lehrer«, stichelte Mephisto. »Er kann zwar kein Latein, aber er mag es gern französisch.«

»Womit wir dann beim Thema wären«, fuhr Brodersen unbeeindruckt von derartigen Sticheleien fort.

»Wie meinen?«, erkundigte sich Leander.

»Na, wie ich bereits andeutete. Es sollte mich nicht wundern, wenn dem Morddrama ein Liebesakt vorausgegangen wäre, so richtig klassisch mit Dreiecksbeziehung, Überraschung in flagranti, verschmähte Liebe und dergleichen.«

»Verzeih mir meine mangelhafte literarische Bildung, Herr der Bücher, aber du sprichst für mich in Rätseln.«

»Nun gut, dann will ich mal nicht so sein und mich auf dein Niveau herablassen. Die Boldixumer Vogelkoje ist eine Fanganlage der ganz besonderen Art. Da werden nicht nur Enten geringelt, wenn du verstehst, was ich meine«, führte Brodersen aus und fuhr auf Leanders leeren Blick hin fort: »Na, da wird auch so manches menschliche Täubchen des Nachts um seine Unschuld gebracht.«

»So unschuldig wird wohl keine der Damen mehr sein, wenn sie sich in die Vogelkoje schleppen lässt«, wandte Hindelang ein.

»Der Malermeister weiß offenbar, wovon er spricht«, feixte Mephisto.

»Irrtum, zu den Herren, die die Vogelkoje für ihre Schäfer­stündchen, oder soll ich sagen für ihre vögelkundlichen Exkursionen nutzen, gehöre ich nicht. Ich habe da nämlich keinen Zugang. Und nein, bevor ihr fragt, ich bin darüber nicht traurig.«

»Jetzt mal Tacheles«, forderte Leander Brodersen gereizt auf. »Manchmal geht ihr mir mit eurem fragmentarischen Geschwätz nämlich furchtbar auf die Nerven.«

»Also, im Rathaus nennt man die Boldixumer Vogelkoje auch Vögelkoje, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand«, berichtete Tom Brodersen.

»Aber, aber, Herr Stadtrat«, tadelte Mephisto ihn betont empört. »Hüte er seine verleumderische Zunge. Schließlich ist er unser Repräsentant im Hohen Hause der Inseldemokratie.«

»Deiner doch wohl eher nicht, Schwarzrock! Ihr Katholiken wählt doch alle CDU«, entgegnete Brodersen unbeeindruckt. »Gott sei Dank gibt es von euch nicht ganz so viele auf Föhr. Außerdem kennst du deine Schäfchen mindestens genauso gut wie ich und weißt, was sie außerhäuslich so treiben.«

»Heißt das, dort gehen unsere Honoratioren und Abgeordneten mit ihren außerehelichen Liebschaften ein und aus?«, hakte Leander fassungslos nach.

»Wer die Vogelkoje nächtens aufsucht, weiß ich nicht. Ich sage nur, dass man hinter vorgehaltener Hand darüber tuschelt. Die Kollegen im Rat bekommen hinter den Kulissen ihrer Dörfer ja so einiges mit. Und außereheliche Liebschaften sind auf unserer schönen Insel so etwas wie Tradition. Man spricht nur nicht darüber, und bisher hat deswegen auch noch keiner einen Mord begangen.«

»Das heißt, in der Vogelkoje könnte sich ein außereheliches Drama abgespielt haben«, fasste Leander zusammen. »Weiß die Polizei davon?«

»Na, wenn das einer wissen wird, dann Torben Hinrichs«, erklärte Tom Brodersen lachend. »Der hat sein Ohr am Mund der Inselbevölkerung. Außerdem würde es mich bei dem nicht wundern, wenn er gelegentlich auch ganz gerne jagen würde, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Moment mal, der Hinrichs könnte also selbst in das Umfeld verwickelt sein, in dem er ermitteln soll?«

Tom Brodersen zog die Augenbrauen vielsagend hoch und machte eine Geste, die ausdrücken sollte, dass er alles für denkbar hielt.

»18!«, unterbrach Hindelang grimmig. »Sind wir jetzt zum Skatspielen hier oder zum Quatschen?«

»Du bist gar nicht dran! Ich sage, und zwar 18!«, meckerte Brodersen zurück.

»Jau!«, antwortete Mephisto, dem das Reizen galt.

»20!«

Es sollte noch ein langer Skatabend werden. Da bis zum Schluss niemand einen Grand Hand spielte, wurde aus dem Pott ein Teil der Getränkerechnung beglichen.

Als sich schließlich eine allgemeine Aufbruchstimmung andeutete und niemand an etwas Böses dachte, erhob sich Mephisto plötzlich. »Liebe Freunde«, begann er theatralisch, »bevor wir uns nun in alle vier Himmelsrichtungen zerstreuen, lasst uns zum wahren Höhepunkt dieses Abends kommen.«

Die Augen der sonst eher unernsten Skatbrüder richteten sich angesichts der Dramatik in Mephistos Stimme andächtig auf den kleinen Mann in Schwarz.

»Brüder in Lukullus!«, fuhr der fort und faltete ehrfurchtsvoll die Hände über seinem Bauch. »Wie ihr alle wisst, seid nicht nur ihr einem guten Tropfen und einer deftigen Bauernplatte herzlich zugeneigt, nein, ich gestehe es rundheraus, ich bin es zuweilen auch.« Er hob beide Hände gen Himmel und ließ seine Augen unter den buschigen Brauen um Nachsicht heischend folgen.

»Rundheraus, das hast du treffend formuliert«, stimmte Brodersen zu und deutete auf Mephistos Bauch.

»Komm zur Sache, Orator, ich will ins Bett«, warf Götz Hindelang gequält ein, vollzog aber sogleich mit beschwichtigender Geste der rechten Hand einen bedingungslosen Rückzug, als Mephistos grimmer Augenpfeil ihn traf.

»Wie ihr ebenfalls wisst – denn ich habe vor meinen Freunden nur die nötigsten Geheimnisse –, habe ich mir im Frühjahr einen alten Bauernhof in Oevenum gekauft, den ich nun die bisweilen zweifelhafte Freude habe, renovieren zu dürfen. Vor ein paar Tagen nun, als ich im Schweiße meines edlen Angesichtes im Garten das Unkraut rodete, um der Sonne die Chance zu geben, meinen Altersruhesitz in angemessener Weise zu beleuchten, da stieß ich in der hintersten Ecke des Grundstücks auf etwas schier Unfassbares. Und ihr alle, die ihr mir mit Recht so andächtig lauscht, tut gut daran, nun besonders aufmerksam zuzuhören, denn ich stieß hinter einem Berg alter Bretter und Balken auf ein Gartenhäuschen.« Er schaute triumphierend in die Runde und ließ seine Neuigkeit gebührend wirken, was zu seiner sichtlichen Enttäuschung nicht zu dem erwarteten Erfolg führte.

»Manchmal geht mir der alte Mann sowas von auf den Sack!«, kommentierte der Maler das Gehörte.

»Und womit?«, fragte Leander und beantwortete die Frage dann selbst: »Mit Recht!«

Doch Mephisto war Derartiges gewohnt und fuhr unbeeindruckt fort: »Besagtes Gartenhäuschen nun war aber gar kein solches. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht, jedenfalls nicht, bevor ich durch die Holzberge bis zur Tür vorstoßen konnte.«

Götz Hindelang beugte sich nun etwas vor und fuhr in Mephistos Tonfall fort: »Und wie er nun Schicht für Schicht die Bretter abtrug, kam ihm schon ein erster Verdacht. Nennt es Intuition, wenn ihr schon nicht an einen Pakt mit höheren Mächten glauben wollt.«

Mephisto ignorierte den Frevel und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Und dann, nach schier endloser Plackerei, erkannte ich, welch ein Schatz sich dort vor den Augen der Welt und bis dato sogar vor meinen verborgen hatte. Mit einem Schlage war die Qual der Mühen vergessen. Und nun recht gründlich aufgemerkt, die Herren: Das vermeintlich schlichte Gartenhäuschen entpuppte sich als ein …«, er machte eine ausgedehnte Pause, trank ausgiebig aus seinem Bierglas und stieß dann triumphierend »Backhaus!« hervor.

»Ein Backhaus«, echote Brodersen begeistert. »Ein Steinbackofen, den man mit Holz befeuert?«

»Just!«, bestätigte Mephisto Brodersens Vermutung und konzentrierte sich nun ganz auf den Lehrer und Heimatforscher, der als Einziger die Tragweite seiner Erzählung gebührend zu erfassen schien. »Und dieses kleine Backhäuschen ist noch dazu in einem glänzenden Zustand! Ganze Generationen hart arbeitender Bauern und Feldarbeiter wird es gespeist haben, wöchentlich angefeuert durch unermüdliche Bäuerinnen, die unzählige Laibe feinsten Bauernbrotes darin gebacken haben.«

»Nun, das Brot wird eher grob gewesen sein, Vollkorn halt«, wandte Brodersen ein. »Aber nichts desto trotz war es ein wesentlicher Bestandteil der täglichen Nahrung.«

»Sag ich doch, sag ich doch!«, fuhr Mephisto ungeduldig fort. »Oder jedenfalls hätte ich es noch gesagt, wenn ihr mich nicht unterbrochen hättet – du, Tom, mit deinem Redeschwall und ihr Banausen mit eurem beschränkten Schweigen. Also, wie Tom bereits auszuführen sich nicht enthalten konnte, kann man sich mit einem solchen Backhaus quasi selbst versorgen, und genau das gedenke ich von nun an auch zu tun. Da ich aber derart von einem sozialen Gewissen geplagt bin, dass ich mich nicht daran erfreuen könnte, wenn ich es allein in stiller Klause täte, lade ich euch hiermit für Samstagabend zur Einweihung meines Steinbackofens ein!«

Er breitete seine Arme aus wie dereinst Jesus bei der Speisung der Armen und setzte sich dann mit einem selbstgefälligen Lächeln und über der Bauchwölbung gefalteten Händen wieder auf seinen Stuhl.

»Das heißt, es gibt nur Brot?«, erkundigte sich Hindelang mit angewidert hinabgezogenen Mundwinkeln.

»Natürlich nicht, du Schmarotzer«, erwiderte Mephisto aufgebracht. »Natürlich werde ich zu meinem selbst gebackenen Brot Schlachtplatten bislang nie dagewesenen Ausmaßes auffahren.«

»Das ist aber nett von ihm«, wandte sich Brodersen an Leander.

»Wenn ich nur wüsste, was er dafür von uns verlangt«, bestätigte dieser skeptisch.

»Nichts!«, spuckte Mephisto aus.

»Nichts?«, hakte Leander nach.

»Nichts!«, bestätigte Mephisto.

»Nichts«, wunderte sich Brodersen und nickte Hindelang erstaunt zu.

»Gut«, zeigte sich der besänftigt. »Aber zu Leberwurst und Bauernbrot gehört ein frisch gezapftes Landbier, am besten selbst gebraut.«

»Nun lass mich erst einmal das Brotbacken erlernen, zum Bierbrauen komme ich dann später. Zum Glück sitze ich, was das Dionysische anbelangt, an der Quelle.« Er deutete mit beiden Armen um sich und erfasste damit die gesamte Gaststube.

»So, Freunde«, erklärte Tom Brodersen nun und erhob sich. »Ich bin müde und muss ins Bett, morgen früh ist Schule. Gehabt euch wohl, ihr faulen Greise.«

»Schlaf schön, mein Kleiner«, verabschiedete Mephisto den Lehrer.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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592 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839264584
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