Читать книгу: «Leander und die Stille der Koje», страница 3

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»Scheiße!«, fluchte Polizeioberkommissar Hinrichs und knallte den Hörer auf die Gabel. »Wenn uns da einer verarscht, dann kann er sich warm anziehen.«

»Was ist denn los?«, fragte Polizeihauptmeister Jens Olufs gelassen, der derartige Ausbrüche seines Chefs schon gewohnt war.

»Eine Leiche in der Boldixumer Vogelkoje«, antwortete Hinrichs knapp.

»Ja, klar. Warum nicht gleich ein Amoklauf mit fünfzehn Toten in der Lembecksburg?«

»Vorsicht, Jens. Treib’s nicht zu weit«, knirschte Hinrichs mit einem gefährlichen Unterton, so dass Olufs schlagartig den Ernst der Lage erkannte.

In diesem Moment klingelte die Mikrowelle. Hinrichs öffnete die Tür und zog einen Teller mit dem Backfisch heraus, den er sich gerade aufgewärmt hatte. Er bugsierte das heiße Fischfilet direkt vom Teller zurück zwischen die beiden Baguettehälften auf dem Tisch, zupfte das Salatblatt zurecht und wickelte die Serviette drum herum. Jetzt sah das Backfischbrötchen wieder aus wie vor zwei Stunden, als er es im Fischerhus in der Mühlenstraße gekauft hatte. Und es war wieder exakt genauso heiß, denn auch da war es aus der Auslage zuerst in die Mikrowelle gewandert.

Hinrichs angelte den Autoschlüssel vom Schreibtisch, warf ihn Olufs zu und setzte sich die Dienstmütze auf. »Du fährst«, bestimmte er. »Sonst wird mein Abendessen wieder kalt.«

Während der Fahrt im blau-silbernen Passat durch die Marsch biss Hinrichs herzhaft in sein Backfischbrötchen und störte sich nicht im Mindesten daran, dass sich die Remoulade auf seinen Wangen, dem Doppelkinn und im Schnauzbart verteilte. Erst als sie fett auf sein Hemd tropfte, quetschte er ein »Scheiße, Mann!« zwischen Fisch- und Brötchenstücken heraus, wodurch sich das Tropfen beschleunigte und die Sauce auf dem Hemd eine stückige Konsistenz annahm. An der Boldixumer Vogelkoje angekommen, stieg er aus dem Auto und wischte mit der fettigen Serviette an seinem Hemd herum. Das machte alles noch schlimmer, so dass Hinrichs das Papiertuch zerknüllte und wütend in den Graben warf.

»Vorsicht, Chef«, sagte Olufs. »Das ist ein Tatort. Nachher findet die Spusi die Serviette, und die Spuren auf Ihrem Hemd führen dann direkt zu Ihnen.«

Er fing sich einen vernichtenden Blick seines Vorgesetzten ein, der nun in die Knie ging und die Serviette schnaufend wieder aus dem Graben angelte. Dann schritt Hinrichs gefolgt von Olufs über die Brücke und betrat als Erster das in tiefem Dunkel gelegene Gelände der Vogelkoje. Vor den Beamten erstrahlte das Kojenwärterhaus hell erleuchtet unter den nächtlich schwarzen Bäumen. Sie erkannten eine zitternde Gestalt, die ohne Schuhe neben der offenen Tür auf der Erde kauerte und sich nun erhob.

»Na endlich!«, rief der Mann und machte humpelnd ein paar Schritte auf sie zu. »Wissen Sie eigentlich, was es heißt, neben einer Leiche hier in der Dunkelheit zu warten?«

»Sie haben uns angerufen?«, überhörte Hinrichs routiniert die Kritik.

»Baginski«, stellte der Mann sich vor. »Heinz Baginski aus Bottrop. Da drin liegt ein Toter.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe ihn gesehen!«

»Nein, ich meine, woher wissen Sie, dass er tot ist?«

Heinz Baginski stutzte. Die Frage war berechtigt. Er hatte der Leiche wirklich nicht den Puls gefühlt. Aber dann sah er das scheußliche Bild im Geiste wieder vor sich. »Das Blut«, stammelte er. »Überall ist Blut.«

»Na gut, Sie warten hier, wir sehen uns das mal an.«

Hinrichs machte ein paar vorsichtige Schritte auf die offene Tür zu, Jens Olufs folgte ihm. Und dann sahen auch sie, dass es da keinen Zweifel gab. Der Tote musste ein geradezu klaffendes Loch im Hinterkopf haben, denn er lag in einer Blutlache, die mit gelbweißen Stücken vermischt war. Hinrichs hatte zwar noch nie Gehirnmasse gesehen, aber so hatte er sie sich immer vorgestellt. Und dann erkannte er etwas, das ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, und er wusste, dass er handeln musste. Schließlich hatte er als Chef der Inselpolizei eine Verantwortung für das große Ganze.

Auch Jens Olufs trat nun einen Schritt näher heran, da sein Vorgesetzter ihm mit seiner Leibesfülle den Blick versperrte.

»Pass auf das Blut auf«, ranzte Hinrichs. »Latsch da bloß nicht rein!«

Olufs achtete genau darauf, wo er hintrat, und versuchte, das zur Seite gedrehte Gesicht des Toten zu erkennen.

»Mann«, entfuhr es ihm dann. »Das ist ja der Rickmers. Was macht der denn nachts in der Vogelkoje?«

»Genau die Frage stellt sich«, brummte Hinrichs und fügte wie nur für sich selbst bestimmt hinzu: »Und deshalb müssen wir jetzt handeln. Der Mann hat einen Ruf zu verlieren. Nahmen Rickmers ist nicht irgendwer!«

»Ich glaube, sein guter Ruf ist im Moment seine geringste Sorge«, wandte Olufs ein.

»Und Hilke?«, brüllte Hinrichs.

»Welche Hilke?«

»Hilke Rickmers, verdammt noch mal! Was glaubst du wohl, was das hier für sie bedeutet?«

In einem musste Jens Olufs seinem Vorgesetzten recht geben: Die Familie Rickmers hatte einen Namen auf der Insel. Wie man den allerdings schützen sollte, nachdem der Mann nun einmal unwiderruflich tot war, leuchtete ihm nicht so ganz ein. »Was haben Sie vor, Chef?«, erkundigte er sich unsicher.

»Lass das meine Sorge sein«, erwiderte Hinrichs abweisend. »Bring diesen … wie heißt der doch gleich?«

»Baginski«, antwortete Olufs.

»Bring diesen Baginski zum Auto und warte da auf mich.«

Olufs sah seinen Vorgesetzten fragend an, folgte dann aber dem Befehl und ging hinaus. »Kommen Sie, Herr Baginski«, forderte er den zitternden Zeugen auf. »Setzen Sie sich in unseren Dienstwagen, bis wir hier einen ersten Überblick haben.«

Heinz Baginski wankte hinter dem Polizisten her. Jeder Meter, den er zwischen sich und die Leiche brachte, konnte für sein seelisches Gleichgewicht nur gut sein. Aber dann fiel ihm etwas ein. »Meine Schuhe«, rief er, »und meine Ausrüstung.«

»Wie bitte? Welche Ausrüstung?«

»Meine Kamera ist noch am Teich. Deshalb bin ich doch hier. Ich wollte Enten fotografieren. Und die Kamera lasse ich nicht einfach so zurück.«

Olufs überlegte kurz. »Gut«, bestimmte er dann. »Holen Sie den Krempel. Ich warte am Auto.«

Heinz Baginski lief zum Kojenteich, zog sich seine Schuhe an und baute seine Kamera und sein Stativ ab. Dann schulterte er alles und stolperte den Weg zurück. Als er an der offenen Tür des Kojenwärterhäuschens vorbeikam und einen vorsichtigen Blick hinein warf, sah er den anderen Polizisten vor der Leiche knien. Schnell setzte er seinen Weg fort, um nicht noch einmal länger als nötig mit dem schrecklichen Anblick des Toten konfrontiert zu werden. Olufs stand neben der offenen Beifahrertür und half dem verstörten Zeugen auf den Sitz. Dann drückte er sanft die Tür zu und wartete, wie sein Vorgesetzter es angeordnet hatte.

Der kam einige Minuten später und steuerte diensteifrig auf den Wagen zu. Schon aus einigen Metern Entfernung wedelte er heftig mit den Armen. »Wo ist die Kamera?«, fragte er. »Ich mache ein paar Tatortfotos. Dann verständigen wir die Kollegen aus Flensburg. Das ist eine Sache für die Mordkommission.«

»Chef«, druckste Olufs herum. »Die Kamera …«

»Was ist damit?«

»Der Akku ist leer.«

»Woher willst du das wissen?«

»Die Geburtstagsfeier gestern.«

»Mann, kannst du nicht einmal in ganzen Sätzen reden? Welche Geburtstagsfeier?«

»Von meiner Schwiegermutter«, erklärte Olufs verlegen, wurde aber dann deutlicher, als er das gefährliche Glimmen in Polizeioberkommissar Hinrichs’ Augen sah. »Die hatte gestern Geburtstag, und da habe ich ein paar Fotos … und, na ja, ich bin noch nicht dazu gekommen, den Akku wieder …« Er machte einen Schritt zurück, weil Hinrichs’ Gesicht jetzt die Züge Frankensteins annahm.

»Das ist eine Dienstkamera, verdammt noch mal! Wie kannst du es wagen …?«

»Baginski«, fiel Olufs ihm ins Wort und wurde mit einem Mal sehr diensteifrig.

»Wie, Baginski?« Hinrichs platzte fast der Kragen.

»Unser Zeuge!«, erklärte Olufs und deutete auf die kauernde Gestalt auf dem Beifahrersitz.

»Was ist mit dem?«, brüllte Hinrichs.

»Der hat doch eine Kamera. Die borge ich mir aus.«

Bevor Hinrichs nachfragen konnte, hatte Olufs schon die Tür aufgerissen und sprach leise auf den Zeugen ein, der immer noch am ganzen Körper zitterte. Als Olufs ihn bat, noch einmal mit in die Vogelkoje zu kommen, schüttelte er entgeistert den Kopf. Nur mühsam konnte der Polizei­beamte ihn dazu bewegen, den Schutz des Fahrzeugs wieder zu verlassen.

»Was gibt das denn jetzt?«, erkundigte sich Oberkommissar Hinrichs aufgebracht.

»Chef«, erklärte Olufs, »am besten macht der Mann die Fotos selbst. Ich kenne mich mit diesen technischen Spitzenteilen nicht aus. Oder wollen Sie …?«

Hinrichs spießte Olufs mit seinen Blicken auf, entgegnete aber nichts.

»Warte hier, wir kommen, wenn wir fertig sind«, ordnete er an und begleitete den bebenden Zeugen zurück in die Vogelkoje. »Machen Sie ein paar Bilder vom Tatort und von dem Toten«, befahl er. »Aber passen Sie auf, dass Sie keine Spuren zertrampeln.«

Heinz Baginski war sichtlich schockiert, dass er der Leiche nun so nah kommen sollte, aber da der Polizist offenbar kurz vor einer Explosion stand, ging aus seiner Sicht von dem Toten die geringere Gefahr aus. Er schoss ein paar Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln, ohne sich die Leiche dabei wirklich anzusehen – quasi aus professioneller Distanz im Vorbeigucken –, vergaß auch den übrigen Innenraum der Hütte nicht und war froh, als er schließlich wieder draußen in der frischen Nachtluft stand.

Hinrichs klopfte ihm auf die Schulter und deutete mit dem Kopf an, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen sie durch den dunklen Tunnel unter den Bäumen auf den Ausgang zu, wo Jens Olufs immer noch an den Wagen gelehnt auf sie wartete.

»Du fährst jetzt mit dem Mann aufs Revier«, befahl Hinrichs, wobei Stimme und Mimik Entschlossenheit ausdrückten. »Ich bleibe hier und verständige Dr. Hecht, damit er den Tod von Rickmers feststellt. Die Kollegen in Flensburg rufst du an. Die können nicht vor morgen Vormittag hier sein, und so lange wird die Leiche ja wohl nicht vor sich hinmodern müssen.«

Olufs wollte etwas einwenden, aber Hinrichs brüllte: »Lass gehen! Ich weiß, was ich mache.«

Der Polizeihauptmeister half seinem Zeugen wieder auf den Beifahrersitz, stieg dann selber auf der Fahrerseite ein, wendete den Wagen vor dem Tiergatter am Deich und raste so schnell, wie es die Dunkelheit zuließ, auf der Straße durch die Marsch in Richtung Wyk davon.

Polizeioberkommissar Hinrichs zog sein Handy aus der Tasche und rief den Arzt Dr. Hecht an. »Uli? Torben hier. Du musst sofort zur Boldixumer Vogelkoje kommen. Hier ist die Kacke am Dampfen, aber so richtig. … Wie? … Nein, alles Weitere erkläre ich dir hier. Ich sage nur eins: Es geht um Mord!«

4

Heinz Baginski saß auf der Kante des Stuhles, auf dem er bereits die halbe Nacht zugebracht hatte, die Hände zusammen­gekrampft im Schoß, und zitterte am ganzen Körper. Vor ihm stand der Tisch, der ihn von dem zornbebenden Oberkommissar Hinrichs trennte. In der Ecke des Raumes neben der Tür zur Wachstube stand Polizeihauptmeister Jens Olufs mit verschränkten Armen und kämpfte gegen die Müdigkeit an, die ihm mit Bleigewichten an den Augenlidern zu hängen schien.

»Noch mal von vorne«, befahl Hinrichs, wie er es seinerzeit auf der Polizeischule im Seminar »Psychologie des polizeilichen Verhörs« gelernt hatte. »Sie sind also verbotenerweise über den Zaun an der Rückseite der Vogelkoje geklettert.«

»Genau«, bestätigte Baginski, der nicht hätte sagen können, wie oft er seine Geschichte schon erzählt hatte, mit matter Stimme. »Ich bin den Weg zum Kojenwärterhäuschen gegangen und von da zum Teich.«

»Sie sind also nicht zuerst in das Häuschen gegangen?«

»Nein, das habe ich doch schon gesagt.«

»Warum nicht? War das Häuschen abgeschlossen?« Hinrichs begriff in dem Moment, in dem er die Frage stellte, wie genial sie war, denn wenn Baginski sie mit ja oder nein beantworten würde, dann hätte er ihn überführt.

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Baginski stattdessen gereizt.

»Sie haben doch an der Türklinke gerüttelt«, wagte sich Hinrichs vor.

»Nein, das habe ich nicht. Ich habe das Haus gar nicht beachtet, sondern bin sofort weiter zum Teich gegangen.«

»Nachdem Sie an der Türklinke gerüttelt haben?« Mit mir nicht, Freundchen, dachte Hinrichs. Typen wie dich knacke ich mit links.

Aber dieser Baginski war hartnäckig. »Ich habe nicht an der Türklinke gerüttelt, verdammt noch mal. Ich wollte Enten fotografieren, warum sollte ich da ins Häuschen gehen?«

»Sagen Sie mir das. Warum sind Sie in das Häuschen gegangen? Haben Sie Licht gesehen? Haben Sie Geräusche gehört? Warum haben Sie Herrn Rickmers erschlagen? Hat er Sie erwischt, als Sie unerlaubt in die Vogelkoje eingebrochen sind?«

»Ich habe den Mann nicht erschlagen«, wimmerte Baginski jetzt. Das war ein Albtraum. Er machte Kur-Urlaub auf Föhr, um sich zu erholen und einen drohenden Herzinfarkt abzuwenden, und stattdessen war er nun der Hauptverdächtige in einem Mordfall. Und all das nur, weil er sich auf nicht ganz vorschriftsmäßige Weise Zugang zu einer Vogelkoje verschafft hatte.

»Wie ist es dann passiert?«, fuhr Hinrichs fort, der offenbar ein Geständnis erzwingen wollte. »Haben Sie Rickmers gestoßen? Ist er unglücklich gefallen? War alles nur ein Unfall? Nun, Herr Baginski, kann es nicht sein, dass alles nur ein Unfall war und Sie gar nicht wollten, dass Rickmers stirbt?« Genial. Bau ihm eine Brücke und warte ab, ob er hinübergeht. Und dann fasse nach. Hatte Baginski erst einmal den Unfall zugegeben, war es nur noch ein kleiner Schritt, um ihm den Mord nachzuweisen.

»Neinneinnein! Ich habe den Mann doch gar nicht gesehen. Als ich in die Vogelkoje gekommen bin, war da noch gar keiner. Ich bin direkt zum Teich gegangen, und da bin ich eingeschlafen, und dann habe ich einen Schrei gehört und bin zum Häuschen gelaufen. Da haben mich zwei Leute umgerannt, und dann habe ich die Leiche gefunden. Ich habe mit dem Mord nichts zu tun. Ich bin einfach nur ein Zeuge!«

»Woher wissen Sie denn, dass da keiner war, wenn Sie doch angeblich gar nicht nachgesehen haben?«, lauerte Hinrichs mit dem Grinsen eines Fuchses, denn jetzt hatte er ihn!

Baginski sank nun auf dem Tisch zusammen, den Kopf auf seine Arme gelegt, und schluchzte laut auf. »Ich habe nicht nachgesehen! Ich bin unschuldig«, nuschelte er resigniert.

»Chef«, mischte sich Olufs nun ein, wurde aber mit einem ruppigen Handzeichen sofort zum Schweigen gebracht.

Das wäre doch gelacht, wenn er, Oberkommissar Torben Hinrichs, dieses Weichei nicht knacken würde. Wenn die Kollegen von der Kripo ihren Fuß auf die Insel setzten, wollte er ihnen den Mörder präsentieren. Diese arroganten Fuzzies brauchte er nicht. Das war seine Insel hier.

»Also, Herr Baginski, jetzt noch mal ganz von vorn«, beharrte Hinrichs mit einem beruhigenden Unterton.

Als der Morgen graute, sank Heinz Baginski völlig erschlagen auf der Pritsche des einzigen Zellenraumes in der Zentralstation zusammen. Hinrichs hatte ihn vorläufig festgenommen, nachdem das Verhör erfolglos verlaufen war. Jetzt waren die beiden Polizisten auf dem Weg zur Vogelkoje. Zum Glück hatten sie irgendwann einen Anruf bekommen, der sie dorthin beordert hatte. Nun hatte Baginski ein paar Stunden Zeit, um sich zu erholen, und dann würde er einen Rechtsanwalt verlangen, der ihn hier herausholte. Das war doch einfach alles lächerlich, was hier abging!

Erschöpft fiel Heinz Baginski in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Henning Leander steuerte zunächst wie jeden Morgen die Bäckerei Hansen in der Mittelstraße an, bevor eine Touristenschlange entstand, die sich wie immer weit in die Fußgängerzone erstrecken würde, und kaufte die üblichen zwei Brötchen für sein Frühstück: einen Kornkracher und ein Dünenkrusti. Die fünf Verkäuferinnen hinter der Theke bereiteten sich offenbar mental auf den nahenden Ansturm vor, der sie während der gesamten Saison immer zwischen halb neun und halb elf Uhr überrollte. Sie wirkten irgendwie in sich gekehrt, als lauschten sie wie einst Boris Becker vor einem großen Match einem inneren Yogi.

Dann führte Leanders Weg wie üblich über den Sandwall auf die Mittelbrücke. Vor dem Frühstück musste er jeden Morgen einen Blick auf das Wattenmeer geworfen und einen Ausblick auf das Wetter gewonnen haben, sonst fing der Tag irgendwie nicht richtig an. Das war zu einem derart verfestigten Ritual geworden, dass sich Leander gar nicht mehr vorstellen konnte, wie es jemals anders hatte sein können, obwohl er gerade erst ein gutes halbes Jahr auf der Insel Föhr lebte und derartigen Luxus früher überhaupt nicht gewohnt gewesen war.

Die Mittelbrücke war leer an diesem Morgen, und über dem Meer glitzerte die Sonne durch den Dunst. Die Hallig Langeneß wirkte seltsam entrückt. Die Ebbe war vorbei, das Wasser lief gerade erst wieder auf, so dass der Strand für die Badegäste momentan recht uninteressant war. Auch auf dem Sandwall herrschte zwischen den Bäumen, die die Grünflächen beschatteten, die Ruhe vor dem Sturm. Jens Hoss, genannt Bubu, der Inhaber des Buchladens, der in der Langform Bunter Buchladen hieß, hatte bereits seine Karten- und Zeitungsständer auf den Gehweg geschoben, saß nun draußen auf dem Fenstersims und konzentrierte sich auf das belegte Brötchen, das er allmorgendlich beim Bäcker holte. Er grüßte zu Leander herüber, als der den Steg verließ und auf die Mittelstraße zusteuerte.

Bei Metzger Friedrichs kaufte Leander die Wurst für seine Brötchen: Zwei Scheiben Hähnchen in Aspik und zwei Scheiben Mortadella, mehr brauchte er für sich alleine nicht. Wie übersichtlich sich sein Leben gestaltete, seit er allein wohnte! Er erinnerte sich an die Klagen seiner Frau Inka, die nie wusste, was sie vom Metzger holen sollte und vor allem wie viel, denn bei den beiden Kindern konnte man einfach nicht einkalkulieren, ob sie überhaupt frühstückten, und wenn ja, was. Das führte regelmäßig dazu, dass die schmierig gewordene Wurst weggeworfen werden musste und Inka erneut klagte, diesmal über die Schande und das zum Fenster hinausgeworfene Geld. Überhaupt hatte Inka sehr viel geklagt. Daran war auch Leander sicher nicht ganz unschuldig, denn zufrieden war wohl keiner mit dem Alltag in der Familie gewesen. Aber alle hatten sich immer nur auf sich selbst und ihre Ansprüche konzentriert, Leander noch dazu über Gebühr auf seine Arbeit.

Vor seinem Haus in der Wilhelmstraße steckte der Insel-Bote im Zeitungshalter des Briefkastens. Leander zog ihn heraus und betrat das Fischerhäuschen.

Nach dem Frühstück überlegte er kurz, ob er die Zeitung in seinem frisch gerodeten Garten lesen sollte, entschied sich aber dagegen. Dort wurde er nur mit der Tatsache konfrontiert, dass er eigentlich mit der Gartenarbeit hätte fortfahren müssen, und dazu hatte er schlicht zu viel Muskelkater und zu wenig Lust. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass Frau Husen sich wieder seiner Arbeitsmoral annahm. Also klemmte er sich die Zeitung unter den Arm und ging zum Park an der Mühle in der Mühlenstraße. Dieses Kleinod hatte ein Künstler angelegt, und zwar nach Kriterien, die so esoterisch wie wirkungsvoll waren. Alles im Park, angefangen bei dem Teich und seiner ihn umgebenden Bepflanzung, über den Brunnen, der aus vier nach den Himmelsrichtungen ausgerichteten gebogenen Rohren Wasser spendete, bis zu dem alles überragenden Storchennest, war nach energetischen Gesichtspunkten gestaltet und sollte den Besuchern Ruhe schenken und die Gelegenheit, ihren Energiehaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Leander jedenfalls konnte hier stundenlang auf einer der Bänke sitzen und lesen oder einfach nur die Libellen beobachten, wie sie einzeln oder in Form eines Paarungs-Rades über den Teich surrten – über sich das Klappern der Störche auf ihrem Nest, um sich herum nur Frieden und Stille.

Er betrat den Bereich des Parks, der nach Märchen­motiven gestaltet war, und ließ sich auf der schmiedeeisernen Bank nieder. Die Windmühle auf der dem Park gegenüber gelegenen Straßenseite, ein wunderschön erhaltener Galerieholländer, der von Rechtsanwalt Petersen bewohnt wurde, spiegelte sich vollständig auf der glatten Wasseroberfläche zwischen den Seerosen. Nur der Flügel, dessen Stummel jetzt unten rechts feststand, war bei einem der letzten Stürme zum größten Teil abgebrochen. Leander hoffte, dass Petersen genügend Sinn für Geschichte und für Ästhetik hatte, um ihn wieder reparieren zu lassen, auch wenn das eine wenig Gewinn versprechende Investition wäre.

Über seinem Kopf hob ein lautes Klappern an. Als Leander den Blick hob, sah er zwei Störche auf dem Nest sitzen, das hoch oben auf einer Stange thronte. Die Störche gehörten zum Stadtbild Wyks. Ständig sah man sie in der Luft, auf Hausdächern, auf den umliegenden Wiesen oder bei Ebbe am Strand, wo sie auf Nahrungssuche durch die Priele stolzierten. An einem Abend hatte Leander dreiundzwanzig gezählt, aber es konnten auch mehr sein, zumal sie sich jedes Jahr dank des Schutzes, der ihnen in Wyk gewährt wurde, vermehrten.

Die Sonne hatte bereits eine erstaunliche Kraft, so dass Leander froh über den Schatten war, der auf eine Hälfte der Bank fiel. Er entfaltete seine Zeitung und informierte sich über die anstehenden Festlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Stadt. Die entscheidende Woche stand kurz bevor. Neben einem Hafenfest mit großem Höhenfeuerwerk waren Aktionen wie der Bau eines Leuchtturms aus Sand an der Promenade geplant, der sogar ein funktionstüchtiges Leuchtfeuer erhalten sollte. Außerdem wurde ein Open-Air-Konzert der Band Stanfour angekündigt, deren Gründer, die Brüder Rethwisch, von der Insel kamen. Leander beschloss, dies zum Anlass zu nehmen, seine Freundin Lena wieder einmal nach Föhr zu locken.

Da der Insel-Bote sonst nichts Interessantes zu berichten hatte, schlug er die Zeitung zu und schloss die Augen. Er erinnerte sich an seine ersten Tage und Wochen hier auf der Insel. Es war kalt gewesen, Winter eben, und er hatte sehr viel Energie gebraucht, um zu sich selbst zu finden. Verdammt, was war er damals fertig gewesen! Auf der Suche nach der Wahrheit über seinen Großvater und seine eigene Familiengeschichte hatte er begriffen, dass er während der letzten vierzig Jahre völlig falschen Idealen und Zielen nachgelaufen war. Er hatte Forderungen erfüllt, die nicht seine eigenen gewesen waren und eigentlich seiner inneren Struktur zuwiderliefen. Kein Wunder also, dass er krank geworden war. Niemals zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob die vorgegebenen Bahnen auch tatsächlich befahren werden mussten. Natürlich mussten sie das nicht, vorausgesetzt man hatte eine Alternative. Mit dem Tod seines Großvaters hatte sich dann dank des üppigen Erbes die große Chance geboten, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Das war eine Stabübergabe im rechten Moment gewesen, vielleicht sogar im letzten.

Lena hatte zunächst Mühe gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie von nun an die meiste Zeit des Jahres getrennt leben würden. Inka und den Kindern hingegen war das vollkommen egal gewesen, was Leander wiederum einen Stich versetzt hatte. Er würde noch einige Zeit brauchen, um den Zeitpunkt nachvollziehen zu können, an dem sie sich so gründlich verloren hatten. Vor allem sein Verhältnis zu seinem Sohn Hanno, der Rechtsanwalt werden wollte, machte ihm zu schaffen, denn es wies große Parallelen auf zu dem Verhältnis, das Leanders Vater Bjarne zu dessen Vater Hinnerk gehabt hatte. Aber auch seine Tochter Pia, die in Kiel Ozeanografie studierte, hatte ihm schon so manche schlaflose Nacht bereitet. Sie ähnelte Inka so sehr, dass sich der Hass ihrer Mutter auf ihren Vater quasi eins zu eins übertragen zu haben schien. Leanders anfängliche Hoffnung, das schon wieder geradebiegen zu können, hatte sich bislang nicht erfüllt. Die kurzen Telefonate mit seinen Kindern waren allesamt unerfreulich verlaufen.

Wie konnte man im Zustand abgerissener Kommunikation seinen Kindern erklären, warum man sich so hatte verhalten müssen, wie man sich verhalten hatte? Dafür waren Gespräche nötig, lange Gespräche und vis-à-vis, nicht am Telefon. Solche Gespräche gab es aber nicht mehr zwischen Leander, seiner Frau und seinen Kindern.

Er schlug die Augen auf und blickte auf das Wasser des kleinen Teiches. Auf der glatten Oberfläche las er im Spiegelbild der Mühle die Worte Venti Amica, nur auf dem Kopf. Er hob den Blick, so dass er beide betrachten konnte, Original und Spiegelbild. Trotz des abgebrochenen Flügels wirkte die Mühle stattlich. Als ein leichter Windhauch aufkam, bekam das Spiegelbild ein Eigenleben, entfernte sich die Kopie vom Original. Je stärker der Wind wurde, desto mehr verwischte sich das Bild, das eben noch so klar und deutlich gewesen war. Wind of change, dachte Leander. Der Wind des Wechsels, der wechselhaften Geschichte, war in der Lage, scheinbare Übereinstimmungen durcheinanderzubringen, Unterschiede deutlich werden zu lassen. Kleine Jungen sind die Abbilder ihrer Väter – bis die Pubertät kommt, dann entwickeln sie eine eigene Richtung. Und wenn schon die Pubertät derartige Planänderungen herbeiführen kann, wie heftig schlagen dann geschichtliche Ereignisse ins Kontor?

Die Protestbewegung von 1968 hatte Leanders Vater Bjarne eine Richtung gegeben, die dessen Vater Heinrich niemals vorhergesehen hatte. War Bjarnes Weg automatisch der richtige gewesen, nur weil er moderner war, emotionaler? War Heinrich Leander automatisch verpflichtet gewesen, diesen Weg mitzugehen oder zumindest zu akzeptieren, nur weil der, der ihn einschlug, sein Sohn war? Wann hörte die Selbstverleugnung auf, die mit der Geburt der Kinder begann? Hatte ein Vater kein Eigenleben mehr, stand er nur noch in der Verantwortung für seine Kinder?

Weshalb, verdammt noch mal, musste Leander ununterbrochen dafür sorgen, dass seine Kinder ein gutes Leben hatten? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein eigenes? Schließlich war der Umzug auf die Insel seine Rettung gewesen. Wer weiß, wie lange er sonst noch durchgehalten hätte. In einem Jahr vielleicht hätte sich der Deckel über seinem Sarg geschlossen, und dann hätten sie an seinem Grab gestanden – Inka, Hanno und Pia. Sicher, sie hätten Tränen vergossen, aber wie lange? Sie hätten ihm die Schuld selbst zugewiesen – aus ihrer Sicht durchaus verständlich. Sie hatten längst jeder ihr eigenes Leben, in das sie zurückgekehrt wären. Und niemand hätte auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, ob er, Henning Leander, auch ein eigenes Leben gehabt hatte – niemand. Umso wichtiger, dass jeder selbst dafür sorgte, dass er sein Recht bekam, sein Recht auf ein eigenes Leben.

Der kurze Windhauch ließ wieder nach, der Wasserspiegel beruhigte sich, Abbild und Original deckten sich wieder, und Henning Leander beschloss, die Zeit für sich laufen zu lassen. In Zukunft wollte er sein eigenes, unabhängiges Leben führen. Wenn seine Kinder etwas von ihm wollten, würden sie sich melden. Wenn nicht, auch gut. Der Neubeginn auf Föhr war ein Befreiungsschlag. Wenn es in seinem weiteren Leben Verpflichtungen gab, dann nur solche, für die er sich freiwillig entschied. Verantwortung für seine Kinder – okay. Selbstaufgabe – niemals wieder!

Leander erhob sich von seiner Bank, rieb sich den schmerzenden Hintern und schlenderte auf dem schmalen Plattenweg einmal um den Teich herum. Die Seerosen, die ihre Köpfe durch den Spiegel steckten, und die Schmetterlinge auf den Blüten der am Rand wachsenden Stauden hatten mit einem Mal viel grellere Farben – oder kam ihm das nur so vor? Er würde Lena fragen. Genau. Lena hatte einen Blick für das Leben. Er würde sie anrufen, sobald er nach Hause kam. Und dann würde er zur Kurverwaltung gehen und Karten für das Stanfour-Konzert kaufen.

Kriminaloberkommissar Dernau stand im Rahmen der Tür des Kojenwärterhäuschens und tobte. Dabei ließ er keine Beleidigung aus, kein Angriff war ihm zu scharf. Polizeioberkommissar Hinrichs blickte Hilfe suchend auf Dernaus Vorgesetzten Kriminalhauptkommissar Bennings, aber der stand betont teilnahmslos daneben und ließ das Geschehen an sich vorbeirauschen.

Bennings und Dernau waren ein eingespieltes Team, die klassische Kombination guter Bulle / böser Bulle sozusagen, aber das allein war es nicht. In Dernau brodelte es un­unter­brochen, der Kessel stand ständig unter Dampf, und irgendwann musste der Druck nun mal raus. Davon abgesehen war Dernau genau die Art von Kollege, die man sich an seiner Seite nur wünschen konnte: erstklassig ausgebildet, intelligent, durchtrainiert, draufgängerisch und reaktionsschnell. In Gefahrensituationen konnte eine solche Persönlichkeitsstruktur beiden das Leben retten.

Zudem hatte Dernau ja recht: Da hatte dieses Inselei die Leiche abtransportieren lassen, bevor die Spurensicherung sich ein Bild hatte machen können. Wenn der schlicht und einfach das getan hätte, was die Kommissare aus Flensburg für die Hauptbeschäftigung der Inselpolizei hielten, nämlich gar nichts, dann wäre der Fall vielleicht schnell gelöst gewesen. So aber waren wichtige Spuren verwischt worden, erste Eindrücke unmöglich gemacht und nicht mehr rekonstruierbar. Da änderten auch die Fotos nicht viel, von denen Hinrichs jetzt faselte. Allein das Argument, die Leiche wäre heute ohnehin nicht mehr in dem Zustand der letzten Nacht gewesen, weil es hier Dachse, Marder, Ratten und dergleichen gebe, zeigte, mit was für einem geistigen Niveau die Fachkräfte aus Flensburg auf so einer Insel konfrontiert wurden.

»Dann stellt man Wachtposten auf«, wetterte Dernau, »lässt das Licht an, bewaffnet sich mit Knüppeln, wenn man schon zu blöde ist, zu merken, dass man eine Pistole trägt. Mann, das darf doch alles nicht wahr sein!«

»Wachtposten?«, beharrte Hinrichs. »Woher soll ich denn die Leute …«

»Dann stellen Sie sich halt selber eine Nacht lang hier hin!«, brüllte Dernau jetzt. »Schließlich hatten Sie letzte Nacht Dienst, Sie Wachtmeister! Und jetzt raus hier, bevor Sie noch mehr Schaden anrichten!«

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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592 стр. 5 иллюстраций
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9783839264584
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