Читать книгу: «Mord im Lesesaal», страница 3

Шрифт:

Die erste Schuldige

Vom Anfang spannt sich ein Bogen, der schon eine Richtung auf ein Ende hat. Dieser Bogen füllt sich aber nicht aus.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Eben hatte Karin noch ein blutiges Messer in der Hand gehalten. Oder hatte sie das geträumt? Nein, ihre Finger waren ja ganz blutverklebt. Lehnte ihr Ellenbogen auf einem fremden Knie?

Tatsächlich, sie stützte sich gerade auf ein breites Männerknie in fleckigen Jeans, und der dazugehörige Mann war tot, mit einem roten Loch in der Brust. Dieser Mann war ein gewisser Josef Gruber, genannt Joe, den sie über alles verabscheute. Konnte man jemanden noch verabscheuen, wenn er schon tot war? Ja, das konnte man, sie hatte kein Problem damit, sie hasste ihn von ganzem Herzen. Um sie herum anklagende Gesichter, die forschend auf sie herabsahen. Da war Cressida mit dem blauen Haar, blau wie die Hoffnung, die blaue Blume der Romantik, die war ebenfalls unerreichbar, es wäre besser, wenn sie selbst sich jetzt irgendwo verlieren könnte … Cressida streckte eine Hand nach ihr aus. So, als ob man sie irgendwo erreichen könnte, doch sie war tief nach unten gestürzt, bis auf den Boden, rock bottom.

»War das ein Bekannter von Ihnen?«, fragte jemand dicht neben ihrem Ohr. »Hat der Mann Sie belästigt oder auf andere Weise unter Druck gesetzt? Haben Sie ihn deshalb umgebracht?«

Das war der hagere Herr Storz, der jeden Tag zur gleichen Zeit in den Lesesaal kam. Was ging den das an? Er sollte weggehen. Wieso mischte sich überhaupt jemand ein? Sie war in der Hölle, wo sie hingehörte. Joes Tod hatte nicht geholfen.

Aber irgendetwas an der Frage hakte sich in ihrem Bewusstsein fest. Kannte sie diesen Joe wirklich? So, wie man jemanden kennen musste, um ein Urteil über ihn abgeben zu können? Sie zwang sich, den Toten anzusehen. Er war alt, uralt, weiße Bartstoppel über knittrigem Doppelkinn. Dicke uralte Männer sahen alle gleich aus, egal ob tot oder lebendig, das hätte sie sich nie zu denken getraut, wenn sie nicht schon außerhalb der Welt ganz unten säße. Er musste ein Leben hinter sich haben, von dem sie nur einen winzigen Teil kannte, doch dieser Teil war schlimm genug. Sie spürte, wie Tränen über ihr Gesicht liefen, und sie ließ es geschehen, dass Cressida sie zum nächsten roten Sessel führte. Nun saß sie dem Toten gegenüber. Dem riesigen Blutfleck gegenüber. So viel Blut, an ihren Händen noch mehr Blut, verschmiert, dunkelrote Schlieren. Ein alter Mann, der nicht mehr atmete. Schon wieder. Erst letzte Nacht war sie wieder aufgewacht aus diesem Albtraum und hatte einen Moment lang geglaubt, sie hätte sich alles nur eingebildet, es wäre gar nicht passiert. Aber es war geschehen, und es geschah immer wieder, ein ewiger Kreislauf, aus dem sie nicht mehr entkommen konnte. Jetzt war auch dieser Joe tot, und sie konnte trotzdem immer noch nicht nach oben fliegen. Sie hatte es nicht verdient. Sie musste es jemandem sagen, sie konnte es nicht mehr allein ertragen.

»Ich habe es getan!« Sie sah Cressida an. »Ich bin schuldig. Cressida, bitte hilf mir. Ich habe ihn umgebracht, mit meinen eigenen Händen. Blut an den Händen, sieh dir bloß das viele Blut an! Hilf mir!«

Durch die Tränen in ihren Augen konnte sie die Menschen um sich herum nur noch verschwommen erkennen. Jemand drückte ihr einen Becher in die Hand, in ihre blutverschmierte rechte Hand. Kaffee, dunkel und stark, kein Kaffee im Lesesaal, dachte sie noch, da wurde ihr wieder schwarz vor Augen.

Die Verdächtigen sammeln sich

Jede Ichverstrickung enthält aber schon eine Wirverstrickung.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

»Ich protestiere gegen dieses unglaubliche Benehmen!« Eine schrille Männerstimme ertönte im Treppenhaus. Also hatten Heinrich Oberstrass und Martin Leeman noch jemanden im Haus entdeckt.

Der Mann, der – sichtlich gegen seinen Willen – durch die Tür vom Vorraum in den Lesesaal gezerrt wurde, kam Cressida bekannt vor. Woher nur – natürlich, sie hatte sein Foto gesehen, in der aktuellen Broschüre der Museumsgesellschaft, die man ihr letzte Woche feierlich überreicht hatte zum Beginn ihres Aufenthalts als Writer in Residence. Das war Jakob Wildenbruch, Präsident der Museumsgesellschaft, dem sie vorhin in ihrer Vorstellung zwei saftige Ohrfeigen verpasst hatte. Eine wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, ein Amtsträger, ein hochehrenwerter Präsident, der nun wie ein verdächtiges Subjekt vorgeführt wurde. Nicht so erfreulich wie eine Ohrfeige, aber auch nicht schlecht.

»Sie wollen mich doch wohl nicht daran hindern, meinen Schirm zu nehmen und nach Hause zu gehen!«

Sein Blick schweifte auf die Gruppe bei den roten Ledersesseln, blieb kurz an dem Toten hängen, ging dann zurück zu Heinrich Oberstrass. »Was bilden Sie sich eigentlich ein?«

Das war seltsam. Warum war dieser Mann überhaupt nicht überrascht? Nicht neugierig darauf, wer oder was dort über dem Sessel hing? Sah er nicht, dass dort ein Toter lag? War er stark kurzsichtig?

Cressida ging auf ihn zu. »Herr Wildenbruch, hier ist ein Mord geschehen.«

»Das sagte Herr Oberstrass bereits. Schrecklich. Aber das Ganze hat nichts mit mir zu tun, ich habe gerade eben erst das Haus betreten. Und ich bin in Eile, ich werde zu einer wichtigen Sitzung erwartet.«

»Darauf können wir leider keine Rücksicht nehmen. Sie waren vorhin schon einmal hier, ich habe Sie gesehen. Deshalb muss ich Sie bitten, bei uns zu bleiben, bis die Polizei kommt, die wird Ihre Zeugenaussage aufnehmen.«

Das Donnerwetter, das Cressida auf ihre Worte hin von Jakob Wildenbruch erwartet hätte, blieb erstaunlicherweise aus. Er wurde blass und setzte sich ohne weitere Gegenrede an einen der Arbeitstische.

Jetzt erst bemerkte Cressida, dass auch Daniel den Lesesaal betreten hatte, unauffällig wie immer. Er sah sich um, erfasste die Situation und ging auf Karin zu, die teilnahmslos in dem Sessel gegenüber dem Toten saß. Wie selbstverständlich hockte er sich neben sie und legte sanft seinen Arm um ihre Schulter. Daniel, der starke Beschützer der Witwen und Waisen. Immer bereit, einer attraktiven Frau seine Hilfe anzubieten. Jedenfalls solange diese Frau zart und hilflos genug wirkte.

Er blickte in Cressidas Richtung, vorwurfsvoll. So als ob sie grundsätzlich an allem schuld und für alles verantwortlich wäre.

Fuck you, Daniel, dachte Cressida. Da war also wieder dieser Blick, wie damals. Es tat immer noch weh. Vielleicht hätte sie die Position als Writer in Residence doch nicht annehmen sollen. Aber sie konnte schließlich nicht für alle Zeiten vor ihren Erinnerungen davonlaufen, alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. Fuck you, wiederholte sie für sich, weil es sich gut anfühlte. Fuck you – fuck you – fuck you. Die Wut tat ihr wohl.

Ein Blick auf Karin ließ sie wieder nüchtern werden. Der Thermosbecher mit Kaffee war Karin aus der Hand gefallen, ihre Gesichtsfarbe war aschgrau. Langsam öffneten sich Karins Augen und starrten ins Leere. »Ich bin schuldig«, hatte sie gesagt, doch das konnte nicht wahr sein. Cressida spürte, dass die dahinterliegende Geschichte viel komplizierter war, als es den Anschein hatte. Allerdings war dies noch nicht der richtige Zeitpunkt zum Trösten und Abwarten. Es gab im Moment vieles, was sie klären musste.

»Da wir alle hier sind, können wir der Polizei ein bisschen Arbeit abnehmen«, verkündete sie laut. »Wenn wir schon mal vorab herausfinden, wer der Tote war und wer ihn kannte, kommen wir nachher schneller wieder nach Hause.«

»Und Sie als Krimi-Autorin und Philosophin fühlen sich berufen, die Untersuchung zu leiten? Da haben wir wohl Glück gehabt, dass Sie zufällig gerade hier sind!« Martin Leemans sarkastischer Tonfall war nicht zu überhören.

»Warum sollte ich die Untersuchung nicht leiten?« So leicht ließ Cressida sich nicht einschüchtern. »Immerhin habe ich für meine Romane viel über Polizeiarbeit recherchiert, ich weiß, was üblicherweise gefragt wird. Und wenn Sie als Biograf sich berufen fühlen sollten, ein Protokoll zu führen, hat sicher niemand etwas dagegen. Oder gibt es andere Freiwillige?«

»Das Vorgehen zu dokumentieren, ist eine vernünftige Idee. Damit können wir der Polizei die Täterin gleich mit allen Einzelheiten zur Tat übergeben, und wir sind von diesen unsinnigen Verdächtigungen befreit. Fangen Sie nur an, ich unterstütze das!« Der hagere Theodor Storz verlieh seinen Worten durch die Lautstärke seiner Bassstimme besonderes Gewicht. Niemand widersprach ihm. »Ich bin meinerseits gern bereit, alles zu notieren, schließlich bin ich selbst schriftstellerisch tätig, auch wenn mein Werk noch nicht seinen Platz in der Öffentlichkeit gefunden hat.«

Cressida blickte in die Runde. So eine große Gesellschaft, dachte sie. Das würde ein breiteres und dichteres Geschichtengewebe ergeben, als man an einem Abend durchleuchten konnte. Und außerdem konnte es an die Nieren gehen. Nicht nur Karin, nicht nur den anderen, sondern auch ihr selbst. Aber es war spannend.

Beginn der Untersuchung

Verstrickt ist man immer in die ganze Geschichte. Das Handeln betrifft nur einen Moment in der Geschichte.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

»Alles, was man über einen Menschen wissen muss, ist in den Geschichten enthalten, in die er verstrickt ist.« An den Blicken der Anwesenden erkannte Cressida, dass dieser Anfang nicht gut ankam. Das hörte sich abgehoben an, was zum Teufel sollte das mit uns zu tun haben, war auf ihren Gesichtern geschrieben. Also erst einmal wieder zum Konkreten, das kannten wahrscheinlich alle von aktuellen Fernsehkrimis, damit fühlten sie sich zu Hause. »Aber um Ansatzpunkte für diese Geschichten zu bekommen, braucht man die Forensik. Man muss konkrete Hinweise entdecken.«

Mehrfaches zustimmendes Nicken, sogar von Herrn Storz.

»Die forensisch wichtigen Spuren müssen so schnell wie möglich gesichert werden. Hat jemand von Ihnen ein Handy mit guter Kamera für Makroaufnahmen?«

Herr Storz öffnete seine Aktentasche und zog ein großes Smartphone in einer pink funkelnden Hülle heraus. »Mit Makroaufsatz!«, verkündete er stolz. Cressidas Fantasie begann zu rasen: Herr Storz kam zu früh nach Hause, seine Frau stand vor dem Schlafzimmerspiegel, mit ihrem Liebhaber am Mobiltelefon, Herr Storz versuchte, ihr das Telefon zu entreißen, sie wehrte sich, stolperte, schlug mit dem Kopf gegen den Bettpfosten, er verstaute die Leiche in der Gefriertruhe im Keller und akquirierte das Handy …

»Das hat mir meine Nichte geschenkt, als sie sich ein neues Modell gekauft hat«, fügte Herr Storz hinzu. »Ich benutze es manchmal zum Diktieren, wenn es keine Gelegenheit gibt, einen Gedanken aufzuschreiben. Sie wissen ja, wie es uns Schriftstellern geht – wenn man eine Eingebung hat, muss man sie sofort festhalten, ehe sie ihre Frische verliert.«

Alle schauten schweigend zu, wie Herr Storz systematisch alles aufnahm, was in der Nähe des Toten zu beobachten war: die Wunde aus der Nähe und aus einem Abstand von einem Meter, die Gesamtansicht des Toten von allen Seiten, den Fleck auf dem Teppich, den Brieföffner-Dolch auf dem Tisch, Karin Zwinglis Hand, Karins Gesicht und schließlich jeden der Anwesenden von allen Seiten, »wegen der Spurensicherung«. Als er Karins Gesicht in Großaufnahme fotografieren wollte, sprang Karin plötzlich auf und schlug ihm das Gerät aus der Hand. Dann sank sie wieder in den Sessel zurück.

Herr Storz hob schnell sein Handy auf und ging hinter einem Tisch in Deckung. »Um Himmels willen, diese Frau ist gefährlich! Wir sollten die Täterin fesseln, in unser aller Interesse, wer weiß, was sonst noch passiert. Hat jemand von Ihnen zufällig ein Stück Schnur oder Kabel dabei?«

»Seien Sie nicht albern«, sagte Cressida. »Karin Zwingli hat diesen Mann nicht getötet. Und sie ist nicht gefährlich.«

»Ach?«, erwiderte Herr Storz. »Woher wollen Sie das wissen? Frau Zwingli hatte ganz offensichtlich die Mordwaffe in der Hand, und sie kniete vor dem Toten. Außerdem waren wir eben alle dabei, als sie selbst den Mord gestanden hat!«

»Schauen Sie mal ganz genau hin. Das Blut ist schon seit längerer Zeit in den Teppichboden gelaufen. Der Fleck ist groß und an den Rändern eingetrocknet. Ich bin kein Gerichtsmediziner, doch nach meiner Einschätzung ist dieses Blut schon seit mindestens einer halben Stunde geflossen. Warum sollte der Mörder, oder die Mörderin, so lange bei dem Toten bleiben?«

»Das sind ja interessante Beobachtungen. Haben Sie mal in der diagnostischen Forensik gearbeitet?«

»Nein, aber ich bin eine Frau, und Frauen kennen sich mit Blut aus. Soll ich Ihnen das noch näher erläutern?«

»Nein, nein, vielen Dank, ich verzichte. Aber um auf Frau Zwingli zurückzukommen: Wir haben es alle selbst gesehen – Frau Zwingli ist nach der Tat ohnmächtig geworden und über ihrem Opfer zusammengebrochen. Sie kann da schon längere Zeit gelegen haben.«

»Herr Storz, Sie legen sich ja sehr ins Zeug, ihr den Mord in die Schuhe zu schieben! Frau Zwingli ist erst vor fünf Minuten in den Lesesaal gekommen, also kann sie den Mann nicht erstochen haben.«

»Das kann ich bestätigen.« Heinrich Oberstrass war hinzugetreten, bemühte sich jedoch, nicht in Richtung des Toten zu schauen. »Vor fünf Minuten war Frau Zwingli noch mit mir im Debattierzimmer.«

»Das muss nicht unbedingt etwas zu sagen haben«, mischte Martin Leeman sich ein. »Vielleicht kam ihr erst im Nachhinein zum Bewusstsein, was sie getan hatte, und sie unternahm einen untauglichen Versuch, es wieder rückgängig zu machen. Menschen in Krisensituationen tun seltsame Dinge. Auch wenn es noch so abwegig scheint, haben sie oft die Vorstellung im Unterbewusstsein, dass sie ihr Verbrechen wieder ungeschehen machen können – je schwerer das Verbrechen, desto stärker diese Wunschvorstellung. Dieser Drang, die Schuld loszuwerden, kann unwiderstehlich werden.« Er nahm ein leeres Blatt Papier von seinem Schreibtisch und begann, Notizen zu machen. Herr Storz beobachtete ihn misstrauisch von der Seite. Offenbar war er beleidigt, dass sein Angebot, die Untersuchungen zu dokumentieren, einfach ignoriert worden war.

Die Erklärung, die Martin Leeman vorgebracht hatte, war theoretisch recht überzeugend, überlegte Cressida, er sollte sich einmal an psychologischen Kriminalromanen versuchen. Trotzdem war diese Argumentation natürlich völlig an den Haaren herbeigezogen. Karin war unschuldig über den Toten gestolpert. Anders konnte es überhaupt nicht sein.

Vor ihr auf dem Sessel richtete Karin sich plötzlich auf. »Die Schuld!«, stöhnte sie und schlug sich mit der blutigen Hand gegen die Brust. Cressida erschrak. Was war nur mit Karin passiert? Am liebsten hätte sie ihr den Mund zugehalten und hätte sie erst einmal in den Waschraum geführt, um das Blut abzuwaschen und sie mit kaltem Wasser zur Vernunft zu bringen. Wenn sie nur wüsste, was Karin so quälte!

»Am besten erzählen Sie uns alles, dann fühlen Sie sich besser. Jedes Problem fühlt sich leichter an, wenn man es mit jemandem teilt.« Das war wieder typisch für Daniel, dass er die bedauernswerte Karin in Sicherheit wiegen und sich als verständnisvoller väterlicher Freund profilieren wollte. Auf seine guten Absichten konnte man sich jedenfalls nicht verlassen, das wusste Cressida aus Erfahrung. »Nichts ist so schlimm, wie es einem in der ersten Panik vorkommt. Je mehr wir über den Toten erfahren, desto einfacher wird es sein, den ganzen Fall zu verstehen. Darüber reden, befreit. Sie sind nicht allein. Wir nehmen alle Anteil an dem, was Ihnen geschehen ist. Das war sicher ein großer Schock für Sie.«

In einer Hinsicht hatte er natürlich recht – zur Aufklärung des Mordes musste man alle Geschichten kennenlernen, in die die Verdächtigen verstrickt waren. Und woher sollte man sie erfahren, wenn nicht von den Betroffenen selbst?

»Niemand kennt die eigene Geschichte so gut wie man selbst«, sagte Cressida und wartete auf bestätigendes Nicken aus der Runde.

Stattdessen kam ein verächtliches Lachen von Herrn Storz. »Man erzählt sich selbst immer nur die Geschichte, die man glauben möchte!«

»Das ist wahr. Aber erfundene Narrative geben wertvolle Hinweise darauf, wo man nach weiteren Geschichten suchen sollte, sowohl für einen selbst als auch für Außenstehende. Ich fände es gut, wenn Karin uns ihre Geschichte erzählt. Das wird uns helfen, das Vorgefallene besser zu verstehen.«

Karins Geschichte

Geschichte und Vorgeschichte haben einen Hintergrund, der sich im Halbdunkel verliert.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Sie hören mir zu, und ich sage, was ich denke, aber habe ich noch einen Überblick darüber, was ich denke und was ich tatsächlich ausspreche? Eigentlich kommt es nicht darauf an, nicht nach alledem, sollen sie mit mir machen, was sie wollen, vielleicht versteht ja doch irgendjemand, wie es war, wie es sich angefühlt hat.

Immer wieder dieser Geruch, in dem ich ertrinke, wenn ich die Eingangshalle betrete. Essigreiniger, Ammoniak, künstliches Vanillearoma, Karbol, gekochte Zwiebeln. Immer wieder der Schläfrige im Empfangs-Glaskasten, zerknitterter Anzug, Namensschild E. Schmidt, Verwaltungsfachangestellter. »Guten Tag, Karin Zwingli, für Urs Zwingli, Zimmer 207.«

Sein Kugelschreiber bewegt sich langsam über dem Besucherbuch. Kein Computer für Herrn Schmidt. Dabei steht einer hinter ihm im Regal, sieht sogar ziemlich modern aus. Wahrscheinlich ist er nicht angeschlossen. Offline. Hier in diesem Haus ist keiner an das Leben angeschlossen.

Sauber geputzte Treppen, die benutzt außer mir wohl keiner. Nummer 207, ich klopfe an, als ob das wichtig wäre. Ich komme jeden Tag um 16.30 Uhr, er weiß das, zählt wahrscheinlich die Minuten. Klar bei Verstand, sagt der Heimleiter stolz, als ob das erstens sein Verdienst und zweitens etwas Tolles wäre. Scharf wie eine Rasierklinge, steckt uns alle in die Tasche. Mein Vater, der weise alte Mann des Felix- und Regula-Heims.

Diesmal liegt er im Bett, das ist neu. Sonst sitzt er immer in seinem Bademantel am Fenster und tut so, als ob er Zeitung lesen würde. Er ist fast blind, das wissen wir beide, doch das Zeitunglesen war ihm immer wichtig. Du könntest es dir vom Computer vorlesen lassen, sage ich ihm. Ich will mit Stil untergehen, antwortet er, sonst ist mir nichts weiter geblieben.

Heute ist es anders. Er liegt im Bett, als wenn es Schlafenszeit wäre, auf dem Rücken, den Kopf in die Mitte des Kissens gebettet, die Bettdecke gerade bis an sein Kinn hochgezogen. Erst als ich an sein Bett trete, schlägt er die Augen auf. »Komm näher«, flüstert er, »setz dich, jetzt ist es so weit, ich habe sie alle genommen.«

Er hat mir erzählt, dass er seit Monaten Schlaftabletten hortet, ich sollte ihm noch weitere mitbringen, und ich habe Nein gesagt.

»Sie sind hier zu schnell, passen immer auf«, sagt er, »sie werden mich finden und mir den Magen auspumpen, dann lebe ich weiter, aber kränker als vorher, das willst du nicht. Sag, dass du mir das nicht antun wirst. Du hilfst mir. Versprich mir, dass du mir hilfst.«

Er drückt meine Hand. Nicht so fest wie sonst, die Tabletten machen ihn schon schläfrig. »Ich kann nicht«, sage ich, »du weißt das. Verlang nichts Unmögliches von mir.«

»Es ist ganz einfach«, sagt er, »du musst noch ein paar Minuten warten, dann drückst du mir die Decke über das Gesicht, ich schlafe dann, lass mich einschlafen, ich rutsche ins sanfte warme Dunkel, lass mich nicht wieder aufwachen zu diesem Nichtleben hier.« Sein Griff wird schlaff, seine Augen fallen zu, die Bettdecke liegt dick und weich an seinem Kinn. Früher hat er mich nie um etwas gebeten, er wusste immer alles besser, konnte immer alles besser, ich war die dumme kleine Tochter, für einmal kann ich seine Heldin sein, haben seine Augen mir gesagt. Er war immer schon ein Tyrann, wahrscheinlich muss ich deshalb um ihn weinen, er war so groß und hat alles verloren, kann fast nichts mehr ohne Hilfe tun, nicht die einfachsten Dinge des Alltags, jeden Tag verfällt er ein bisschen mehr. Seine Gesichtsfarbe ist gelblich, schon jetzt sieht er fast aus wie ein Toter, es fehlt gar nicht mehr viel. Die Bettdecke fühlt sich flauschig an in meinem Griff, wenn er sich auch nur ein kleines bisschen regt, werde ich sofort aufhören, ich darf das nicht vollbringen, ich darf es nicht, und doch muss ich es für ihn tun, es ist das Letzte und das Einzige, was ich für ihn tun kann. Ich möchte die Augen schließen aber ich darf nicht muss sehen muss auf Zeichen achten darf nicht aufgeben darf nicht …

Sie spürte eine warme Hand auf ihrer Linken. Cressida, die so gern den harten Hund spielte, hatte eine starke mütterliche Seite. Ungewohnt für jemanden wie sie selbst, die ohne Mutter aufgewachsen war, es war gut, sich in diese Wärme hinein zu lehnen. Sie atmete tief durch.

»Ich habe meinen Vater getötet, auf Verlangen. Er litt unter multipler Sklerose im Endstadium und konnte es nicht mehr ertragen. Dem Altenheim habe ich gesagt, dass ich ihn tot im Bett vorgefunden habe, dass er kurz zuvor im Schlaf gestorben sein muss.«

Als ob sie so cool hätte reden können an dem Tag. Der Pfleger, der sie auf dem Boden neben dem Bett gefunden hatte, musste ihr den Rücken massieren, damit sie aufhörte zu würgen. Keinen Moment lang hatte er gezweifelt, dass der Anblick ihres toten Vaters sie so aus der Fassung gebracht hatte, sie musste ihm gar nichts erklären.

»Darüber können wir mal in Ruhe sprechen, nur du und ich, wenn du möchtest. Ich weiß, du bist keine Mörderin, und du hast diesen Mann hier nicht getötet.« Cressida sprach mit Zuversicht. Ob sie immer noch so sicher sein würde, wenn sie die ganze Geschichte kennen würde?

»Aber Frau Zwingli hat heute mit diesem Mann hier geredet, ich habe das genau gesehen!« Der hagere Herr Storz bekam vor Aufregung eine unerwartet kieksige Stimme. »Also muss sie ihn gekannt haben! Sie verschweigt uns doch etwas. Kann sie vielleicht mal jemand richtig in die Mangel nehmen, damit wir endlich die Wahrheit erfahren?«

Karin setzte sich gerade in den Sessel, zog energisch die Schultern nach hinten. Sollten sie ihr vorwerfen, was sie wollten, sie fühlte sich nun gegen alles gewappnet. Daniel hatte recht gehabt: Reden befreite tatsächlich.

»Ich denke, wir sollten zunächst einmal auf die forensischen Methoden zurückkommen und die vorhandenen Hinweise sammeln.« Martin Leeman ging zum Toten. »Nachdem jetzt alles fotografiert worden ist, können wir anfangen, die Taschen des Opfers zu untersuchen.«

Er umwickelte seine Hand mit einem Papiertaschentuch und durchsuchte nacheinander die Taschen des Trenchcoats des Toten. Seine Ausbeute legte er auf den Tisch: eine alte lederne Brieftasche, eine angebrochene Schachtel Schmerzmittel, eine noch originalverpackte Schachtel Viagra, eine fast leere Rolle Pfefferminzbonbons, ein gebrauchtes Taschentuch, einen lederbezogenen Knopf.

Cressida sprang auf und öffnete die Brieftasche. »Herr Leeman, ich glaube, wir haben uns geeinigt, dass Sie das Protokoll führen! Hier haben wir also …«

Sie stockte, als Herr Storz sich ostentativ neben sie stellte und ihr betont genau auf die Finger sah.

»Also, wie Herr Storz bestätigen kann, haben wir hier als Erstes eine Identitätskarte mit dem Namen Solomon Leeman.«

Die schockierte Stille, die auf diese Feststellung folgte, dauerte ein paar Sekunden lang an. War es möglich, dass es sich bei diesem heruntergekommenen Alten um den seit zehn Jahren verschollenen großen Dichter Solomon Leeman handelte? Alle hielten den Atem an: Wer würde als Erstes protestieren?

»Das ist nicht wahr.« Martin Leeman sagte das mit unbewegtem Gesicht. »Dies ist nicht mein Vater Solomon Leeman.«

Бесплатный фрагмент закончился.

961,67 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
233 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839269428
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают