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Susanne Mathies

Mord im Lesesaal

Zürich-Krimi


Zum Buch

Dolchstoß ins Herz Ein grauenhafter Anblick im gediegenen Lesesaal der Zürcher Museumsgesellschaft: Im roten Ledersessel sitzt ein heruntergekommener alter Mann, die weiße Hemdbrust blutbefleckt, erstochen mit einem Brieföffner-Dolch. Die Lesesaal-Aufsicht Karin Zwingli stolpert über den Toten und wird sofort des Mordes verdächtigt. Natürlich ruft man die Polizei, doch die muss eine Straßenschlacht am Letzigrund unter Kontrolle bringen und kann vorerst nicht zum Tatort kommen. Ist Karin die Mörderin oder befindet sich der wahre Täter noch unerkannt im Lesesaal? Unter Anleitung der Krimi-Autorin Cressida Kandel beginnen die Anwesenden, die Taschen des toten Josef Gruber zu untersuchen. Neue Abgründe tun sich auf. Hat etwa jeder, der sich an diesem Abend im Lesesaal aufhält, ein schmutziges Geheimnis, das er um jeden Preis verbergen muss? Aus einer anfänglich geordneten Recherche entwickelt sich eine wilde Jagd durch das Haus und die Zürcher Innenstadt, bei der nicht nur Cressida ihr Leben aufs Spiel setzt.

Susanne Mathies, geboren 1953, lebt in Zürich, promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Die Autorin schreibt auf Deutsch und Englisch. Bisher hat sie mehrere Kriminalromane sowie zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Sie ist Redaktionsmitglied der orte-Literaturzeitschrift.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung einer Illustration von: © Lutz Eberle,

nach einem Foto von jordanoi / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6942-8

Vorbemerkung

Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen in ein stolzes, gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinabzusehen vermöchte, und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!

Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873

Dieser Roman sei Merkur gewidmet, dem Gott der Lügner. Ich danke ihm für seine Mithilfe bei der Erfindung neuer Mitglieder und neuer Eigenschaften der von mir sehr geschätzten Museumsgesellschaft Zürich. Möge nichts davon jemals wahr werden!

Literaturhinweis

Die Zitate zu Beginn der Kapitel sind folgender Quelle entnommen:

Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt, Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt a. M., 5. Auflage., 2012. (Original veröffentlicht 1953)

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Vorbemerkung

Literaturhinweis

Inhalt

Ledersessel I

Annäherung von innen I

Ledersessel II

Annäherung von außen I

Annäherung von innen II

Annäherung von außen II

Punktlandung

Entdeckung

Aufruhr

Die erste Schuldige

Die Verdächtigen sammeln sich

Beginn der Untersuchung

Karins Geschichte

Der zweite Schuldige

Die Jagd

Väter

Wozudinge

Auf Abwegen

Tief unten I

Spiel zu dritt

Zurück zum Anfang

Tief unten II

Spiel ohne einen

Tief unten III

Der dritte Schuldige

Noch einmal die Polizei

Tief unten IV

Noch einmal Räuchermännchen

Geselliges Beisammensein

Verteidigung der Methode

Rauchen für die Zukunft

Blau

Ledersessel I

Wir sind der Meinung, dass sich das Menschsein erschöpft im Verstricktsein in Geschichten.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Erschöpft ließ er sich in den roten Ledersessel fallen. Die Luft war stickig hier im Lesesaal der Zürcher Museumsgesellschaft. Nur mit Mühe hatte er den Weg vom Fahrstuhl hinter sich gebracht. Er sollte mehr auf sich achten, jetzt, da er es sich leisten konnte. Den alten Körper auf Vordermann bringen, wieder zum Mann werden. Das Leben genießen, solange noch Zeit war, aus dem Vollen schöpfen. Eine Kur machen, Wellness nannte man das heutzutage, der nasse Brunnen, mit Worten spielen hatte ihm schon immer Spaß gemacht. Nicht, dass ihm das bis jetzt irgendetwas genützt hätte. Die Welt war undankbar. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, das hatte schon seine Mutter damals immer gesagt, ein hervorragender Ratschlag. Abgesehen davon war sie allerdings nicht gerade ein Vorbild gewesen.

Er lehnte sich zurück und sah sich in dem hohen Raum um. An den Wänden standen Bücherregale mit Nachschlagewerken, von denen manche sehr alt aussahen, mit Goldbuchstaben in Sütterlin-Schrift auf den verblichenen, am Rand ausgefransten Lederrücken. Die Säulen an den Wänden waren nicht aus Marmor gehauen, sondern mit Steinimitat bemalt, und die Ormolu-Uhr an der Wand kontrastierte mit den runden 60er-Jahre-Lampen, die von der mit Stuck verzierten Decke hingen. Aber insgesamt entstand eine Atmosphäre ehrwürdiger Ernsthaftigkeit. Das Ambiente des Lesesaals gefiel ihm. Es wirkte diskret schäbig mit klassizistischem Einschlag, eine Einrichtung des gehobenen Bürgertums, das es nicht nötig hatte, mit seinen Besitztümern zu protzen. Hier saßen die Menschen, die dazu beitragen würden, dass er selbst einmal keine Gedanken mehr an Geld zu verschwenden brauchte, sondern imstande sein würde, auf diskrete Weise sein Leben zu genießen. Viel Zeit dafür blieb ihm dafür allerdings nicht mehr, möglicherweise nur noch ein paar wenige Jahre, deshalb sollten seine Pläne möglichst schon in nächster Zukunft aufgehen. Und warum sollten sie es auch nicht, er hatte sich gut vorbereitet.

Die Wirkung des Stoffs, den er sich vorhin besorgt hatte, ließ viel zu schnell nach. Er brauchte etwas Stärkeres. Hoffentlich war seine erste Verabredung pünktlich, er wollte dafür in Bestform sein. Bestform, bevor die Bestie in seinen Eingeweiden aufwachte. Fast hätte er gelächelt. Ich bin eben ein Dichter, dachte er, immer dicht am Wort. Selbst wenn niemand das zu schätzen wusste.

Annäherung von innen I

Man erkennt nicht zuerst eine Geschichte und ist dann in sie verstrickt, sondern das Verstricktsein ist das letzte Unteilbare. Es hat keinen Sinn, nach dem Wahrheitswert des Verstricktseins zu fragen. So, wie man in Geschichten verstrickt ist, so existiert die Geschichte.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

»Tick-tock … Tick-tock … Tick-tock … Die Uhr an der Wand des Lesesaals tickte die letzten Sekunden seines Lebens herunter.«

Cressida Kandel strich sich mit ungeduldiger Hand die langen Strähnen aus der Stirn. So funktionierte das nicht! Die Szene wirkte nicht dramatisch genug. Ein Mordopfer, das schon wusste, dass es gleich sterben würde, hatte einfach nur Angst. Angst ließ sich literarisch gut ausschlachten, aber hier fehlte das Überraschungsmoment. Sie wollte die plötzliche Panik und Verzweiflung in den Augen des Opfers sehen, das letzte Aufbegehren, die verzweifelte Frage nach dem Warum, das schreckliche Ahnen einer Antwort kurz vor dem Ende. Der Mann musste anders sterben.

Beim Haareraufen hatte sie sich versehentlich ein einzelnes ausgerissen, es glänzte pfauenblau auf dem weißen Papier. Ein gutes, solides Haar, perfekt eingefärbt. So etwas bekam die Natur nicht hin. Eine satte, kräftige Farbe. Das brachte sie auf eine neue Idee: rotes Blut auf weißem Hemd, viel Blut, das sich ausbreitete wie eine sich öffnende Blüte im Zeitraffer, das leuchtend über den Ledersessel rann, sich mit den Teppichfarben vermischte. Das war gut, das musste sie gleich notieren.

»Hallo, Cressida. Wie geht es mit dem neuen Romanprojekt voran?«

Sie hatte ihn nicht heranschleichen gehört. Daniel Krumholz, der Leiter des Literaturhauses der Museumsgesellschaft, in Schlabberpullover und Cordhosen, die Lesebrille noch auf der Nase, stand direkt neben ihrem Tisch und sah auf sie herunter. Sanfter Gang, sanfte braune Augen, weicher Cardigan in gedämpften Farben. Cardigans waren jetzt wieder total angesagt, hatte sie der Vogue und der Annabelle entnommen, die hier im Lesesaal auslagen. Je verfilzter und unförmiger, desto trendiger. Daniel hatte sich überhaupt nicht verändert, aber er war modemäßig beim Puls der Zeit angekommen. Oder vielmehr hatte der Puls der Zeit ihn endlich erreicht.

Es gab keinen Grund dafür, dass sie bei seinem Anblick irgendetwas Besonderes empfand. Schließlich hatte sie ihn schon zweimal gesehen, seit sie nach Zürich zurückgekehrt war, einmal hatte sie sogar lange mit ihm gesprochen. Natürlich ging es bei diesem Gespräch ausschließlich um Literatur und um ihre bevorstehende Lesung. Aber es war immerhin ein richtiges Gespräch gewesen.

»Danke, es läuft gut, der Mord ist schon geplant«, flüsterte sie zurück. Einen Moment lang befürchtete sie, er würde jetzt seine Hand auf ihre Schulter legen. Aber dann ging er mit einem freundlichen Nicken weiter, nahm eine Zeitschrift vom Regal und verließ den Lesesaal.

Sie schrieb: »Die Uhr tickte weiter, während sein Blut aus den Herzkammern rann, das Herz langsam zuckte und endlich zum Stillstand kam.« Dann strich sie den Satz wieder. Unten auf dem Limmatquai herrschte früher Sonntagabend, das Grau war in klumpiges Tintenblau übergegangen. November. Auf der Straße liefen ein paar Touristen in warmen Jacken, die Smartphones schussbereit in der Hand, und suchten nach Motiven. Sie sahen nicht glücklich aus. Überall herrschte eine Atmosphäre, die nach brütenden Aggressionen schmeckte, nach enttäuschten Erwartungen in unpersönlichen Hotelzimmern, Hass auf den selbstsüchtigen Dauerpartner, Neid auf diejenigen, die sich auf der fernen Sonnenseite des Lebens zu befinden schienen. Selbst hier, im Lesesaal der Museumsgesellschaft, an diesem Ort des Studierens und Reflektierens, lauerte in den dunklen Ecken eine Aura der Missgunst.

Das war Wasser auf die Mühlen einer Geschichtensammlerin. Als ob sie noch zusätzlichen Stoff bräuchte! Das menschliche Leben offenbarte eine Fülle von spannenden Geschichten, sie vermehrten sich wie Kaninchen. Deshalb war der Kriminalroman – wie kulturell sensible Menschen längst erkannt hatten – die ideale literarische Darstellungsform für das heutige soziale Leben. Ständig entdeckte man neue Verbrechen, Kapitalverbrechen, Familienfehden, Vergehen gegen die eigene Befindlichkeit. Indizien für die Schuldigen waren jederzeit einfach zu finden. Das Schlimmste hielt man automatisch für das Richtige, und davon ließ man sich auch mit roher Gewalt nicht abbringen. Auch nicht durch die Polizei oder durch einen Gerichtsentscheid.

Schluss mit dem eigenen alten Kram! Neue Geschichten lagen überall in der Luft, sie warteten nur darauf, eingefangen zu werden. Eine davon bot sich ihr gerade an: Den arroganten Präsidenten der Museumsgesellschaft, diesen misogynen Gockel Jakob Wildenbruch, der beinahe ihre Nominierung zum Writer in Residence im Literaturhaus Zürich verhindert hätte, würde sie gern ein wenig bestrafen. Ihm nur ein bisschen wehtun, ein paar kräftige Ohrfeigen würden schon reichen. Klatsch – klatsch, eine rechts und eine links, verdutztes ungläubiges Gesicht, dazu sogar ein bisschen Angst? Dieser ignorante Hammel hatte seine Pläne, sie zu diskreditieren, noch nicht aufgegeben, dafür hatte sie einen sechsten Sinn. Schließlich hatte sie lange genug darum kämpfen müssen, als Schriftstellerin ernst genommen zu werden. Das würde sie sich von so einem lächerlichen Typen nicht ankratzen lassen. Aber da war sie schon wieder bei ihrer eigenen Geschichte. Andere Leute hatten auch Probleme, das war viel interessanter.

Wie wäre es zum Beispiel mit dem? Der hagere Mann ihr gegenüber, der mit den riesigen dunklen Nasenlöchern, war in den letzten fünf Tagen (solange Cressida selbst ihre Nachmittage im Lesesaal verbracht hatte) immer um Punkt 17 Uhr aufgetaucht und hatte jeden Tag eine andere Literaturzeitschrift durchgearbeitet, wobei er sich mit einem teuren Füllfederhalter nebenbei Notizen machte. Um Punkt 18 Uhr war er dann wieder gegangen. Wahrscheinlich wollte er seiner Frau die Gelegenheit geben, ungestört ein feines Abendessen für ihn vorzubereiten. Was, wenn er eines Abends früher nach Hause käme und sie mit ihrem Liebhaber im Bett entdeckte? Heute saß er noch spät im Lesesaal, es war schon kurz vor 19 Uhr. Hatte er seine Frau bereits erwischt und sie mit einem schweren Folianten aus seiner eigenen Bibliothek erschlagen, und ihren Liebhaber gleich dazu, sodass er keinen Grund mehr hatte, nach Hause zu gehen? Was würde so ein Mann mit den Leichen anstellen? Er sah ein wenig hinterhältig aus, wie ein schurkischer Buchhalter in einem Fernsehkrimi, vielleicht würde er sie bei seinen Nachbarn in den Keller legen, das wäre ihm zuzutrauen.

Einen Tisch weiter saß eine lokale Berühmtheit, Martin Leeman. Rundschultrig, spärliches Haupthaar, Mitte 40, mit beflissenem Gesicht und geschürzten Lippen. Er war ihr gestern vorgestellt worden, feuchter weicher Händedruck, wässrige Augen. Das war also der bekannte Sohn des noch bekannteren verstorbenen Schriftstellers Solomon Leeman. Die kommentierte Gesamtausgabe der Werke seines Vaters mit bislang unveröffentlichten Texten war ihm gelungen, das musste Cressida zugeben. Die lyrische Sprache des Sohnes ergänzte die Prosafragmente des Vaters auf glückliche Weise. Martin Leeman wirkte bescheiden, trotz seines Ruhmes. Allerdings war Cressida aufgefallen, dass er keine Gelegenheit ausließ, sein Buch öffentlich sichtbar zu machen. Seit Monaten schon veranstaltete er einen regelrechten Lesemarathon in Buchgeschäften, Nachbarschaftszentren, Bibliotheken, Literaturhäusern und Universitäten. Und jetzt war er sogar für den Literaturpreis nominiert – ob man dafür wohl jemanden bestechen konnte? Cressida hatte Gerüchte darüber gehört, aber sie mochte das nicht glauben, die waren sicher nur von neidischen Mitbewerbern erfunden worden. Die Welt war schlecht und voller boshafter Menschen. Glücklicherweise, denn woher sollten Krimi-Autoren sonst ihre Stoffe nehmen?

Faszinierend fand sie auch den struppigen brünett gefärbten Mann am hauseigenen Computer, den man laut Vorschrift nur eine Viertelstunde lang benutzen durfte. Der Struppige saß oft viel länger daran, vertieft in Recherchen, die Cressida von ihrem Platz aus nicht erkennen konnte. Er schien im Literaturhaus zu leben – wann immer Cressida durch das Haus ging, sah sie ihn in irgendeinem der Räume. Sie hatte bei der öffentlichen Hausführung vor ein paar Tagen gehört, dass sich die Bücherregale des Archivs im Keller immer noch in Luftschutzbetten umwandeln ließen – wahrscheinlich konnte man dort zur Not übernachten. Der Mann könnte der Geist der unterirdischen Räume sein, allgegenwärtig und allwissend, Kenner sämtlicher Geheimnisse des Hauses. Wofür er wohl alle diese Informationen verwendete – hortete er sie nur für sich selbst? Ein Netz von möglichen Geschichten breitete sich vor ihr aus.

Hinten, in einem der roten Ledersessel, saß ein Mann, der aus dem Rahmen fiel, und das nicht nur, weil seine voluminöse Gestalt über die Sessellehnen quoll. Fett, hätte man früher gesagt, heute durfte man das nicht mehr, wirklich erschreckend, wie schnell sie sich ganz automatisch an das allgemein verordnete Newspeak angepasst hatte. Verfilztes graues Haar, langer Bart, dunkelroter Schal, die breite Gestalt in einen fleckigen Trenchcoat gehüllt, weit über den nächsten Sitzplatz zur Seite gekippt, offenbar im Tiefschlaf. War das ein Penner von der Straße, der sich hier eingeschlichen hatte? Im Allgemeinen fühlten Obdachlose sich im Helmhaus auf der anderen Straßenseite ganz wohl. Dort war alles ebenerdig, keiner war dort lärmempfindlich, und es gab eine öffentliche Toilette. Warum sollte einer der Obdachlosen also bis in den Lesesaal der Museumsgesellschaft heraufsteigen? Kannte er hier jemanden? Vielleicht war er der vom Leben gebeutelte Onkel eines Mitglieds, dessen man sich schämte, der jedoch immer wieder ungefragt auftauchte und nur mit viel Alkohol und Drogen ruhiggestellt werden konnte. Wie lange er hier wohl schon unbehelligt saß? Der Lesesaal war den Mitgliedern der Museumsgesellschaft vorbehalten, und Karin war immer pflichtbewusst genug, das zu überprüfen. Lieb, aber irgendwie zwanghaft, die Arme. Cressida nahm sich vor, ihr ein bisschen mehr Lebensfreude und Frechheit einzuimpfen. Dies wäre gerade eine gute Gelegenheit, mit ihr zusammen eine Kaffeepause einzulegen. Cressida drehte sich zum Pult der Lesesaalaufsicht um. Doch der Platz war leer.

Ledersessel II

Die Geschichte ist sich ständig selbst voraus und ist auch ständig rückwärts gewandt.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Abwärtsfliegen war nicht dasselbe wie Abstürzen. Ein Abwärtsflieger hatte einen Plan, wollte auf dem Boden ankommen, während ein Abstürzler bestenfalls das unten Ankommen billigend in Kauf nahm. Ich fliege in einem flachen, nach unten gerichteten Winkel, dachte Karin Zwingli, die kritische Flughöhe habe ich noch nicht unterschritten. Außenstehende hatten wahrscheinlich den Eindruck, dass sie gerade auf Zehenspitzen durch den Lesesaal der Museumsgesellschaft schlich und auf einen der roten Ledersessel zusteuerte, so als ob sie etwas Heimliches vorhätte. Hoffentlich schaute keiner her. Denn sie hatte etwas Heimliches vor.

»Joe?«

»Nenn mich Joe«, hatte er gesagt, und sie musste das tun, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte, auf mehr Distanz drängte.

Joe antwortete nicht. Sein grauhaariger Kopf hing schwer über der breiten Brust, der rote Schal hatte sich von seinem Hals gelöst, die Brille war bis ans Ende der Nasenspitze gerutscht. Waren seine Lider geschlossen, oder hatte er einfach nur die Augen zusammengekniffen, um die kleine Schrift des Lexikons des Aberglaubens besser entziffern zu können?

Laut reden sollte man hier im Lesesaal nicht. Karin fasste den Mann an der Schulter und schüttelte ihn leicht.

»Joe?«

Stille. Schon den ganzen Morgen über hatte Karin nichts gehört außer dem Rascheln von umgeblätterten Zeitungsseiten und einem sägenden Schnarchen von den Sesseln her. Das Schnarchen hatte inzwischen aufgehört.

Sie zog vorsichtig das dicke Buch unter Joes Händen weg. Sein Kopf geriet ins Schwanken, sonst regte Joe sich nicht. Ein wildes Hoffen drängte sich in ihren Kopf: War er etwa tot? Wäre es nicht eine wunderbare Erleichterung, wenn er plötzlich weg wäre, eine unangenehme Konstante entfernt aus der Gleichung des Lebens, die sie dann ganz neu wieder ausbalancieren konnte? Film ab: Ambulanz, Friedhof (um sicherzugehen, dass er wirklich unter die Erde kam und der Sargdeckel geschlossen war), dann endlich frei. In eine andere Wohnung ziehen, in ein anderes Quartier, weg von den Erinnerungen. Neu anfangen. Niemals vollkommen frei, das war ihr klar. Doch wenigstens von der äußeren Bedrohung befreit sein. In einem steilen Winkel nach oben fliegen.

Ein massiger alter Mann mit mehr Macht über sie, als sie ertragen konnte. Warum sahen sich die meisten alten Männer so ähnlich? Bekamen die gleichen Hängelider, Gehässigkeitsfalten, den gleichen talgartigen Altmännergeruch? Erinnerungen stießen nach oben, brodelten unter dem Deckel, den sie notdürftig auf die jüngste Vergangenheit gesetzt hatte. Dieser Joe roch heute besonders unangenehm, ein saures Stinken, das sie nicht identifizieren konnte.

Sie rüttelte stärker an seiner Schulter. Gleich würden seine Arme vom Tisch rutschen, seine behaarten Hände neben dem Stuhl baumeln, sie würde den schweren Körper stabilisieren müssen, damit er nicht auf den Boden rutschte, während sie den Rettungswagen rief, aber für eine Rettung würde es längst zu spät sein.

»Verdammt, hör auf damit! Was soll denn das?« Seine Bassstimme war kräftig, wie schon beim letzten Treffen. Von einem der Tische am Fenster schreckte einer der Stammgäste hoch, sah Karin strafend an.

Der Traum war vorbei.

»Du hast mich gebeten, dich hier zu treffen, es ist 18.45 Uhr«, flüsterte sie Joe zu.

Er schaute zu ihr hoch, ein Glitzern in seinen graugrünen Augen. »Später. Wenn ich Zeit für dich habe.«

»Wann später?« So schnell ließ sie sich nicht abspeisen.

»Du kannst oben im Debattierzimmer auf mich warten.«

961,67 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
233 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839269428
Издатель:
Правообладатель:
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