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Annäherung von außen I

Das Bekanntsein ist keine Seinsform der Geschichte. Es realisiert sich immer nur im Kopfe eines anderen.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Jakob Wildenbruch, Präsident der Zürcher Museumsgesellschaft, schlug seinen Mantelkragen hoch, während er über die Münsterbrücke eilte. Seine Frau hatte ihn heute weder an den Schal noch an den Schirm erinnert. Myriam war nachlässig geworden in letzter Zeit. Es widerstrebte ihm, ihr das zu sagen; nicht zuletzt weil – selbst nach einem Jahr Ehe – seine Knie immer noch weich wurden beim Blick in ihre Augen, graublau mit goldbraunen Sprenkeln, so als ob hinter dem Himmel ein Goldschatz hervorleuchtete, nach dem es sich zu suchen lohnte. »Du Hexe«, sagte er immer zu ihr, und sie fühlte sich geschmeichelt, doch eigentlich meinte er es gar nicht als Kompliment.

Ein feiner Sprühregen drang durch sein dünnes Haupthaar. Er war froh, am Wettingerhus in den Schutz der Arkaden einzutreten. Es tat ihm gut, das harte Zürcher Pflaster unter seinen Ledersohlen zu spüren, erinnerte ihn das doch an das historische Erbe der Museumsgesellschaft, die Gewichtigkeit seiner Stellung und die Tragweite seiner Mission. Die Turmuhr am Fraumünster zeigte fünf vor sieben – er würde pünktlich sein.

Der Plakatständer vor dem Eingang zum Literaturhaus pries in großen schwarzen Lettern auf gelbem Grund die nächste Lesung für das kommende Wochenende an: »Die Erfolgsautorin Cressida Kandel liest aus ihrem philosophischen Kriminalroman In Geschichten verstrickt.« Darunter war ein Foto von Frau Kandel angebracht, einer leidlich hübschen Person mit energischem Kinn, deren schmales Gesicht unter einer Mähne von blauem Haar ein wenig blass wirkte. Wahrscheinlich war sie selbst eher der Meinung, dass sie interessant aussah. Ihn überkam ein spontaner Schwall von Ärger. Diese modernen Lifestyle-Philosophen waren alle nichts weiter als Dünnbrettbohrer, die sich dem Publikumsgeschmack anbiederten, insbesondere bei älteren Frauen, die nichts von guter Literatur verstanden und besser in ihrem Strickzirkel geblieben wären. Und dass man Kriminalromane neuerdings als Literatur ansah, war eine dieser zeitgenössischen Dummheiten, gegen die ernsthafte Literaturkenner wie er selbst schon seit Jahren vergeblich kämpften. Wo blieb da das Transzendente, wo der Ausdruck der Empfindsamkeit? Kriminalromane waren grobe Scheite für ein grobes Lagerfeuer, allenfalls geeignet für grobes Volk mit schlichtem Kunstverständnis. So dürfte er sich natürlich in der Öffentlichkeit niemals ausdrücken, jede Verbindung zwischen Büchern und Feuer war tabu, insbesondere wenn man sie herbei wünschte. Eines jedoch stand fest: Kriminalromane hatten keinen Platz in der intellektuellen Literaturszene! Das hätte gerade dem Leiter des Literaturhauses klarer sein sollen als jedem anderen. Aber Daniel Krumholz hatte diese Lifestyle-Autorin sogar als Writer in Residence eingeladen! Er selbst würde die Frau einfach ignorieren, wenn er ihr begegnete. Sobald er seine eigene literarische Entdeckung publik machen konnte, würde dieses Ereignis sie ohnehin in den Hintergrund drängen, niemand würde ihr dann mehr Beachtung schenken. Kriminalromane! Er schnaubte verächtlich.

Im Literaturhaus nahm er die Treppe, nicht den Fahrstuhl. Obwohl er für sein Alter gut in Form war, konnte es nicht schaden, auf die Gesundheit zu achten. Für Myriam, obwohl sie für eine so junge Frau erstaunlich bescheidene sexuelle Ansprüche stellte. Außerdem wollte er natürlich nicht, dass man ihn für Myriams Vater hielt.

Im ersten Stock wurde er fast von einer Frau umgerannt, die mit wehendem Mantel nach unten stürmte. Sie eilte weiter, ohne sich zu entschuldigen.

Nur wenige Mäntel hingen im Vorraum des Lesesaals, das war ein gutes Zeichen. Tagsüber konnte es dort recht unruhig zugehen. Man hätte den Studenten keine Mitgliedschaften anbieten sollen. Diesen Fehler hatte man allerdings schon lange vor seiner Zeit gemacht, daran ließ sich wohl nichts mehr ändern.

Als er den Lesesaal betrat, stutzte er einen Moment lang. Würde er seinen Gast überhaupt erkennen? Das letzte veröffentlichte Foto von ihm war immerhin 20 Jahre alt.

Am verabredeten Treffpunkt, den roten Ledersesseln im hinteren Teil des Saales, saß nur eine Person. Ein dicker alter Mann mit einem Schopf eisengrauer Haare beugte sich tief über den Folianten, den er auf dem Schoß hielt. Seine Jeans hatte Flecken, und der Trenchcoat war an der Schulter eingerissen. Konnte das wirklich …?

Jakob Wildenbruch trat vorsichtig vor den Mann hin und flüsterte: »Kann es sein, dass wir hier verabredet sind?«

Der Mann schaute noch nicht einmal hoch.

Jakob tippte ihm vorsichtig an den Oberarm.

Der Arm gab nach, der Ellenbogen rutschte von der Armlehne, und der Sitzende kippte schräg nach hinten. Nun war sein Gesicht Jakob zugewandt. Seine graugrünen Augen blickten starr ins Leere, und sein weißes Hemd war an der Brust leuchtend rot besudelt. Blutdurchtränkt.

Der Mann war tot, daran bestand kein Zweifel. Jakob spürte sein Herz im Hals pochen. Ihm wurde schwindelig, ein dunkles Prickeln kroch seinen Nacken hinunter. Nicht ohnmächtig werden, sagte er sich automatisch, keine Schwäche zeigen, niemals, besonders nicht in diesem Moment. Er atmete tief durch, mehrmals, zählte bis sechs nach dem Ausatmen, wie er es in der Therapie gelernt hatte. Ausatmen, Pause, einatmen. Das Prickeln verblasste. Er hatte sich wieder gefangen.

Aber was sollte er jetzt tun? Er konnte auf gar keinen Fall in einen Skandal verwickelt werden, so viel stand fest. Am besten wäre es wahrscheinlich, gar nichts zu tun. Auch wenn es sich im Moment falsch anfühlte, schien es das einzig Richtige zu sein. Ein anderes Mitglied würde in nächster Zeit den Toten entdecken und die Polizei rufen. Die würde den Todesfall professionell aufklären, dafür waren die Beamten bestens ausgebildet. Dabei würde er selbst ohnehin nicht helfen können.

Er schaute sich unauffällig um. Alle waren über ihre Tische gebeugt. Niemand schien seine Begegnung mit dem Toten bemerkt zu haben. Die Wanduhr tickte. Sonst rührte sich nichts. Betont lässig schlenderte er an den Sesseln vorbei, machte einen Rundgang um die Zeitschriftenregale und verließ dann den Saal.

Annäherung von innen II

Wir können höchstens sagen, dass die Geschichten nicht aus dem Nichts auftauchen, dass sie irgendwie in einem Horizont liegen, vorhanden sind, aus dem sie mehr oder weniger schnell heraustreten.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Karin Zwingli saß am offenen Fenster des Debattierzimmers und zog heftig an ihrer Zigarette. Der Rauch, den sie einsaugte, war durchmischt mit kalter Abendluft, und der ersehnte Kick in der Lunge fiel schwach aus, ein kleiner Knuff statt eines Befreiungsschlages. Es half nichts, sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Es waren Dinge passiert, die sich nie wieder rückgängig machen ließen. Kein Grübeln würde jemals etwas daran ändern können. Es ließ sich nicht wegerklären. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie war froh, allein im Debattierzimmer zu sein. Das fröhliche Schwatzen unbeschwerter Studenten hätte sie jetzt nicht ertragen.

Sie ließ ihren Blick unscharf werden, um nur noch Farben und Hell und Dunkel vor sich zu haben. Schmutzigschwarz. Tiefenschwarz. Grelle Lichtpunkte in Gelb und Blau. Seltsam schön, wenn man nicht genau hinschaute. Grelb und Pickblau. Lichtblau und Blaulicht. Braubleich. Grelles Gericht. Jemand würde über sie richten. Nicht über ihre schlechte Lyrik. Sondern über sie, über ihre Tat. Ihre Untat, die sich nicht ungeschehen machen ließ.

Irgendwann musste sie in den Lesesaal zurückkehren, schließlich hatte sie heute Abend dort Aufsicht. Das sagte ihr das Pflichtgefühl, aber seine Stimme war leise, überlagert vom Dröhnen der Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Sie rutschte weiter auf das Fensterbrett und schaute hinunter auf den Limmatquai. Dritter Stock, vielleicht würde sie einen Sprung überleben, möglicherweise querschnittsgelähmt. Ihr Noch-Freund Mark würde sich verpflichtet fühlen, bei ihr zu bleiben, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Grace Period. Amazing Grace. Nicht für sie.

Sie schüttelte sich und trat in das Zimmer zurück. Stand da jemand an der Tür? War das Joe? Sie konnte wirklich nicht länger auf ihn warten.

»Ich habe mich schon gewundert, wo du bist.« Heinrich natürlich, der strubbelige Heinrich, den man nicht Henry nennen durfte, schon gar nicht Heini. Der sich am liebsten mit Doktor Oberstrass anreden lassen würde, wenn es zurzeit nicht so angesagt wäre, links und nicht-elitär zu sein. Heinrich, der Allgegenwärtige. Immer da, wenn man ihn nicht sehen wollte. Er hielt ihr einen Zettel hin. »Ich suche hier eine Signatur, und in der Bibliothek ist keiner mehr, kannst du mir helfen?«

Nicht mein Job, dachte sie.

»Tut mir leid, ich habe zu tun.« Rasch ging sie an ihm vorbei, die Treppen hinunter in den Lesesaal. Dort war alles ruhig. So, als ob die Welt noch in Ordnung wäre. Sie nahm einen Stapel Literaturzeitschriften vom Schreibtisch und ging auf die Regale zu.

Annäherung von außen II

Wenn das Bild etwa die Begegnung Rotkäppchens mit dem Wolf darstellt, taucht die Frage auf, was der Wolf von Rotkäppchen will, in welchem Zusammenhang die beiden stehen, und wie die Begegnung wohl auslaufen mag.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Beim Glockenschlag zuckte Barbara Bärlich zusammen. Schon kurz vor 19 Uhr, fast hätte sie ihren Termin verpasst. Doktor Heinrich Oberstrass, Dozent der Neueren deutschen Literatur am Literaturinstitut Zürich, hatte sie persönlich gebeten, ihm bei der Korrektur der Hausarbeiten aus dem ersten Semester zu helfen! Das war nicht nur eine Ehre, sondern auch eine mega Chance für eine Studentin im letzten Semester. Vielleicht sprang ein Job oder ein Lehrauftrag dabei heraus, das durfte sie sich nicht entgehen lassen.

Inzwischen hatte sie sich wieder beruhigt. Erstaunlich, was eine kurze Pause ausmachen konnte. Alles war gut. Sie klappte den Siri Hustvedt-Roman zu und schaute aus dem Fenster. Unten auf der Gasse standen ein paar Touristen im Sprühregen und schossen Selfies. Das Leben war einfach weitergegangen, nichts hatte sich geändert. Manche Dinge fielen im Weltgeschehen wohl einfach nicht so ins Gewicht. Sie war auf dem richtigen Weg, da war sie sich sicher. Irgendwann würden Frauen frei bestimmen können, mit wem sie intim werden wollten, und mit wem nicht. Und wer ihnen blöd kommen durfte. Nämlich niemand.

Doktor Oberstrass war irgendwie süß. Sein offensichtlich gefärbtes Haar, das in alle Richtungen abstand, ließ ihn so verletzlich wirken. Warum versuchten Männer bloß, jünger auszusehen? Der intensive Blick seiner dunkelbraunen Augen unter den buschigen Brauen zeigte, wie ernst ihm seine Anliegen waren: die Literatur, die Forschung und seine Studenten. Super, dass er ausgerechnet sie aus allen Studentinnen des Abschlusssemesters ausgewählt hatte, obwohl sie da bisher nicht gerade als Star geglänzt hatte. Gut, sie gehörte zu denen mit den besten Noten; auf der anderen Seite musste sie zugeben, dass einige andere etwas sorgfältiger recherchierten. Manche Leute hatten einfach zu viel Zeit, wahrscheinlich passierte nichts Besonderes in deren Leben.

Sie betrachtete sich im Flurspiegel. Doch, sie war schon speziell. Goldene Locken, schmale Nase, ein Mund wie eine Rosenknospe. Es tat gut, das zu wissen. Obwohl sie es nicht nötig hatte.

Die Kirchenuhr hatte aufgehört zu schlagen. Cowboystiefel, Wildlederjacke, fertig. Kein Mantel, an dem hingen noch die Erinnerungen von vorhin. Gut, dass sie diese Künstlerwohnung im Niederdorf von ihrer Schwester übernehmen konnte, man war so schnell überall.

Sie eilte den Rindermarkt hinunter und rannte fast den kurzen Weg zum Literaturhaus. Man konnte einen Mann schon warten lassen, aber nicht zu lange.

Punktlandung

Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Karin Zwingli blickte misstrauisch über den Rand der Zeitschriftenregale zu den roten Ledersesseln hinüber. Joe hing über zwei Sesseln, er schien eingeschlafen zu sein. Aber sie spürte, dass sie nicht länger warten konnte. Irgendwann musste er Stellung beziehen zu ihrem Ultimatum. Vielleicht konnte sie ihn aufwecken, ohne ihm zu nahe kommen zu müssen, einen Versuch war es jedenfalls wert.

Mit Schwung zog sie die Schublade der orte-Literaturzeitschrift auf. Das Thema des neuen Heftes lautete »Gesponnen – das Lügenheft«. Die Redaktion hätte sie um Mithilfe bitten sollen, dachte sie bitter und warf das Heft hinein, dass es gegen die Rückwand knallte.

Joe rührte sich nicht. War irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung? Falls er Drogen genommen oder einen Herzinfarkt erlitten hatte, würde sie wohl den Notarzt rufen müssen.

Karin atmete tief ein, zog die Schultern zurück und ging entschlossen auf die Ledersessel zu. Joe roch noch unangenehmer als vorhin, nicht nach ungewaschenen Kleidern, sondern nach etwas Metallischem. Sie schnüffelte, konnte es aber nicht identifizieren. Da fiel ihr Blick auf den Boden.

Zwischen Joes Füßen hatte sich eine dunkle Lache gebildet. Burgunderfarben, an den Rändern hellrot, die Flüssigkeit fraß sich in den beigefarbenen Teppich ein. Es tropfte immer noch vom unteren Metallrand des Sessels. Diesen Teppich hatte sie immer schon grässlich gefunden, er erinnerte sie an schlechte Filme aus Zeiten, als ein Teppichboden das Nonplusultra an eleganter Wohnungseinrichtung war. Frühe 70er, dazu passten auch diese kubusförmigen Ledersessel mit den dünnen blanken Metallfüßen. Im Moment waren diese Metallfüße allerdings nicht mehr blank, sondern an den Kanten blutbesudelt.

Sie zwang sich, Joe ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren weit geöffnet, und ein geronnener Speichelfaden hing aus seinem Mund. Sein Kinn ruhte auf dem Hemdkragen, das Hemd leuchtete weiß mit einem glänzenden dunkelroten Fleck in der Mitte, und in der Mitte des Flecks steckte ein schmaler Griff aus Messing.

Wie im Fernsehkrimi, kunstvoll vom Maskenbildner hergerichtet. Das war lächerlich. Konnte nicht sein. Aber sie träumte doch nicht!

Joe war tot.

Vorhin hatte sie es sich noch sehnlichst gewünscht, als Befreiung herbeigesehnt. Doch jetzt wirkte Joes maskenhaftes Totengesicht wie eine Bedrohung, als ob er sich selbst im Tod noch eine Gemeinheit für sie ausgedacht hätte.

Direkt vor ihr schrillte ein Fanfare, Trompetenklang, elektronisch verzerrt. Sie hatte das Gefühl, vor Schreck mindestens einen Meter in die Höhe gesprungen zu sein, aber anscheinend stand sie immer noch vor diesem Sessel, völlig erstarrt. Die Fanfare wurde lauter, und allmählich begann ihr Hirn wieder zu arbeiten. Ein Mobiltelefon. Völlig verpönt in diesem Raum.

Joes Telefon. Der Klang schien direkt aus der blutverschmierten Hemdtasche vor ihr zu kommen. Das musste aufhören, sofort. Sie versuchte, nach dem unsichtbaren Handy zu greifen, ohne allzu genau hinzusehen. Plötzlich spürte sie einen spitzen Gegenstand in ihrer Hand. Ich falle, dachte sie noch, dann wurde alles um sie herum dunkel.

Entdeckung

Der Mensch und das Menschsein tritt bei dem Fall weit in den Hintergrund.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Fanfarenklang! Cressida schreckte aus ihren Gedanken auf und sah sich um. Wer war der Übeltäter, der ein eingeschaltetes Handy in den Lesesaal gebracht hatte? Wer immer es war, würde er sich gleich unter den dolchscharfen Vorwurfsblicken der anderen Besucher winden und auf dem Boden hinauskriechen, wie es sich gehörte?

Der elektronische Krach dröhnte weiter durch den Lesesaal. Die anderen schienen das einfach zu ignorieren, aber Cressida wurde neugierig. Wer hatte hier so gute Nerven, dass er sein Handy einfach vor sich hin lärmen ließ? Das Geräusch schien aus der Gegend der roten Ledersessel zu kommen, von dort, wo immer noch der Obdachlose schlief, den sie vorhin beobachtet hatte. Seltsam – vor ihm lag eine dunkle Masse auf dem Boden. Sie stand auf und ging zum Sessel.

Der schlaffe Körper einer schlanken Frau in Jeans und Sweatshirt hing halb auf dem Schoß des ungepflegten Mannes, halb auf dem Teppich. Das sah bizarr aus, wie in einem Underground-Film über ungleiche Sexpartner. Irgendwie schmuddelig und völlig falsch. Dazu ertönte immer noch der schrille Fanfarenklang, er schien mitten aus dem Körper des Mannes zu kommen. Der Mann lag bewegungslos im Sessel.

»Karin?« Inzwischen hatte sie die Lesesaalaufsicht an dem Tattoo auf dem linken Handgelenk erkannt, einer schwarze Tulpe.

Karin rührte sich nicht. Um Himmels willen – hoffentlich war ihr nichts passiert! Was hatte sie mit diesem unappetitlichen Mann zu tun, und warum rührte der sich nicht? Karins rechter Arm lag unter ihrem Körper, so als ob sie sich tatsächlich gerade an dem Mann zu schaffen gemacht hätte. Bei so einer Szene würde Cressida sofort den Fernsehkanal wechseln, es war nicht zu fassen, dass im wirklichen Leben etwas passierte, was einfach nicht sein durfte. Cressida packte Karin an der Schulter und schüttelte sie. Ein leises Aufstöhnen, weiter kam keine Reaktion, aber wenigstens schien sie ansprechbar zu sein.

»Karin, was ist passiert? Bist du verletzt? Sag doch was! Kann ich dir irgendwie helfen?«

Karin hob den Kopf, versuchte aufzustehen, scheiterte jedoch bei dem Versuch, sich mit beiden Händen am Boden abzustützen. Stattdessen schrie sie auf und hielt ihre rechte Hand hoch.

Sie hatte allen Grund zum Schreien, dachte Cressida. Denn Karin hielt einen blutverschmierten Dolch in der Hand.

Die Fanfare wurde lauter, dann brach sie mitten im Klang ab.

Aufruhr

Die Geschichte, in die der Täter verstrickt ist, kann von weitem oder in der Nähe auftauchen.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Cressida spürte, dass sie inzwischen nicht mehr allein vor dem Sessel stand. Körperwärme hinter ihr, scharf eingezogener Atem, ein tiefes Luftholen wie vor einem Panikwortschwall.

Was würde Wilhelm in so einer Situation tun, der Philosoph Wilhelm Schapp, erfahrener Privatdetektiv und Geschichtenverfolger ihrer drei Kriminalromane? »Alles Wichtige, was einen Menschen ausmacht, ist in den Geschichten enthalten, in die er verstrickt ist.« Durch seine langjährige Tätigkeit als Jurist in Agrarfragen war er bodenständig genug geworden, um sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenn in seiner Gemeinde ein Streit zwischen Nachbarn entbrannte, wandte man sich gern an ihn, denn er hörte geduldig zu und ließ sich persönliche Geschichten bis ins letzte Detail erzählen. Er lud sich gern zu den in den Konflikt Verwickelten nachmittags zum Kaffee ein und ermunterte sie dann zum Reden, ohne sie jemals durch kluge Ratschläge oder gezielte Fragen zu unterbrechen. Seine Gelassenheit beim Auseinanderwickeln und Zusammenspinnen von Geschichten war sprichwörtlich. Schon darüber zu schreiben, ließ Cressida selbst jedes Mal ruhiger werden. Schon daran zu denken, brachte sie nun wieder in die Realität der aktuellen Geschichte zurück.

Wilhelm würde als Erstes Karin das Messer aus der Hand nehmen. Das war zwar für die Entwicklung neuer Geschichten kontraproduktiv, würde aber zur Entwirrung der schon vorhandenen Geschichten beitragen. Natürlich würde er das Messer unter Vorsichtsmaßnahmen sicherstellen, weil die Gegenstände, die von Menschen benutzt wurden, in deren Geschichten verstrickt waren, »Wozudinge« nannte er diese Gegenstände, und die mussten auf ihre Verstrickung hin untersucht werden. Moment mal – würde Wilhelm nicht zuerst die Polizei anrufen, weil die Polizei noch über zusätzliche Mittel verfügte, verborgene Narrative ans Licht zu bringen?

»Ich rufe die Polizei!«, rief eine Männerstimme hinter Cressidas Rücken. Das musste Martin Leeman sein. Umdrehen wollte sie sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht, denn sie hatte das Gefühl, sie dürfe Karin nicht aus dem Blick zu lassen, sonst würde etwas noch Schlimmeres passieren.

Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Jackentasche.

»Karin, ich nehme dir das Messer ab. So, das ist besser. Kannst du aufstehen?«

Sie legte das Messer mit dem Papier auf den Tisch vor dem Sessel und versuchte, Karin hochzuhelfen. Im Hintergrund hörte sie, wie Martin Leeman telefonierte. »Museumsgesellschaft Zürich, Limmatquai 62, erster Stock, Lesesaal. Ich möchte einen Todesfall melden. Es ist Mord! … Woher ich das weiß? Hier liegt ein toter Mann, er wurde erstochen, alles ist voller Blut! … Ja, die Täterin haben wir schon gefasst, wir halten sie hier fest … Wie bitte? … Was soll das heißen, kein dringender Handlungsbedarf? … Was sagen Sie da? … Das darf nicht wahr sein! … Wann? … Sie brauchen doch nur einen einzigen … Da muss man in so einem Fall eine Ausnahme machen … Das können Sie nicht verlangen! … Ich werde mich beschweren! … Ja. … Und bitte so schnell wie möglich!«

Das hörte sich nach Problemen mit dem Polizeieinsatz an. Cressida drehte sich zu Martin Leeman um.

»Was sagt die Polizei? Kommen die bald, mit Ambulanz und Spurensicherung?«

Er schnaufte. »Frühestens in zwei Stunden. Es ist nicht zu fassen! Wir sollen alle so lange hier bleiben und warten, haben sie gesagt.«

Der hagere Mann neben ihm räusperte sich. »Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie haben da sicher etwas falsch verstanden«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Die Kantonalpolizei ist immer sehr zuverlässig. Mit wem haben Sie gesprochen?«

Martin Leeman runzelte die Stirn. »Sie können es gern selbst versuchen. Die Polizei ist gerade im Großeinsatz für das Fußballspiel im Letzigrund, da haben sie zurzeit keine freien Ressourcen, wurde mir gesagt. Anscheinend ist dort eine Massenschlägerei im Gange, mit Schwerverletzten, vielleicht sogar Toten. Alle Rettungs- und Polizeikräfte sind gerade im Großraum Letzigrund im Einsatz.«

»Moment, das werden wir ja mal sehen.« Der Hagere holte ein Mobiltelefon aus der Tasche. »Sie werden mich einen Moment entschuldigen, ich muss kurz draußen ein Privatgespräch mit dem Polizeipräsidenten führen.«

Er ging in Richtung Tür, aber Cressida packte ihn am Arm und hielt ihn fest. »Niemand sollte den Raum allein verlassen, bis die Polizei kommt!«, sagte sie. »Im Moment sind wir alle verdächtig, mit dem Tod dieses Mannes etwas zu tun zu haben.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich«, zischte der Hagere. »Ich bin Theodor Storz, Inhaber der Firma Storz-Druckerzeugnisse, was sollte ich wohl mit dem Tod eines derartig derangierten Besuchers zu tun haben? Sie können doch nicht so mir nichts, dir nichts eine ganze Gruppe von unbescholtenen Bürgern verdächtigen!«

»Genau, das ist maßlos übertrieben«, mischte sich Martin Leeman ein. »Wir haben diese junge Frau auf frischer Tat ertappt, sie hatte das Mordinstrument ja sogar noch in der Hand!«

Der Hagere nickte und tippte in sein Smartphone. Er ging zum Fenster, murmelte ins Telefon, gestikulierte. Warum redeten Leute mit den Händen, wenn sie wissen mussten, dass ihr Gesprächspartner sie nicht sehen konnte? Bei unsympathischen Leuten fiel einem so etwas sofort auf. Cressida wandte sich an die anderen.

»Solange wir nicht wissen, was passiert ist, sollten wir darauf achten, dass niemand das Haus verlässt.«

»Das wollte ich auch gerade vorschlagen!« Heinrich Oberstrass lehnte im Türrahmen. Anscheinend stand er da schon eine ganze Weile, hatte sich jedoch bisher nicht bemerkbar gemacht. »Ich werde nachsehen, ob sich noch jemand in den Büros, in der Kaffeeküche, in den Toiletten oder im Debattierzimmer aufhält. Jeder, der heute Abend im Haus ist, könnte etwas Wichtiges beobachtet haben. Die Haustür lässt sich mit dem Hauptschlüssel absperren, der liegt in der Schublade der Lesesaalaufsicht.«

Woher wusste er das? Ehe Cressida nachfragen konnte, war er schon zum Schreibtisch hinter dem Pult geeilt und hielt den Schlüssel triumphierend hoch.

»Sie gehen nicht allein«, sagte Martin Leeman. »Wenn wir schon alle verdächtig sein sollen, müssen wir uns gegenseitig überwachen. Ich komme mit Ihnen auf den Rundgang durchs Haus.«

Der Hagere hatte aufgehört zu telefonieren. Er ging zu dem Toten hinüber und musterte ihn eingehend. »Gut, dann ist es wohl meine Aufgabe, hierzubleiben und zu sehen, dass nichts angerührt wird.« Er warf Cressida einen misstrauischen Blick zu. Anscheinend hielt er sie für eine gefährliche Komplizin der entlarvten Mörderin. Sie blickte eisig zurück. Das hatte sie über die Jahre perfektioniert, das funktionierte meistens wie ein Schlag zwischen die Beine. Dieser Theodor Storz sollte sich nur nicht einbilden, dass er sich hier als Autoritätsperson aufspielen konnte.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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233 стр. 6 иллюстраций
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9783839269428
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