Читать книгу: «Rot und Schwarz», страница 6

Шрифт:

11. Kapitel

Julian musste sich unbedingt in Verrières zeigen. Als er aus dem Pfarrhause kam, fügte es ein glücklicher Zufall, dass er Herrn Valenod begegnete. Unverzüglich berichtete er ihm die Gehaltserhöhung.

Wieder in Vergy, begab er sich erst nach Anbruch der Dunkelheit hinunter in den Garten. Seine Seele war erschöpft von den vielen Seelenerregungen, die er den Tag über durchgemacht hatte.

»Was soll ich ihnen nur sagen?« fragte er sich unruhig, als er der Damen gedachte. Er ahnte nicht, dass er sich in einem Zustande befand, in dem er just für Kleinigkeiten Sinn hatte, also für das, was im Leben der Frauen gewöhnlich die Hauptsache ist. Oftmals war er Frau Derville und sogar ihrer Freundin unverständlich, und er seinerseits begriff häufig nur halb, was ihm die beiden sagten. Das war die Folge der Kraftfülle und, wenn man das so nennen darf, der Großartigkeit des leidenschaftlichen Innenlebens, das die Seele dieses ehrsüchtigen jungen Mannes verwirrte. In diesem Sonderling war fast Tag für Tag Sturm.

An diesem Abend kam Julian in einer Stimmung in den Garten, die ihn befähigte, sich in der Gedankenwelt der beiden hübschen Frauen zurechtzufinden. Sie hatten ihn mit Ungeduld erwartet. Er nahm seinen gewöhnlichen Platz ein, neben Frau von Rênal. Bald ward es völlig dunkel. Julian wollte die helle Hand ergreifen, die er schon lange neben sich auf der Stuhllehne schimmern sah. Nach einigem Zaudern entwich sie ihm, offenbar zum Zeichen der Ungnade. Julian ließ sich dies gesagt sein, plauderte aber munter weiter, zumal er Herrn von Rênal kommen hörte. Noch lagen ihm die groben Worte vom Vormittag in den Ohren.

»Wäre es nicht die gegebene Verhöhnung dieses Individuums«, sagte er zu sich, »dieses Erbpächters der irdischen Glücksgüter und Vertreters des Mammons, wenn ich ausgerechnet in seiner Gegenwart von der Hand seiner Frau Besitz ergriffe? Ja, das werde ich tun, ich, dem er seine Verachtung genugsam bezeigt hat!«

Fortan war die Ruhe, die Julians Wesen ohnehin ziemlich fremd war, ganz und gar hin. Das bange Verlangen, Frau von Rênal solle ihm ihre Hand überlassen, ließ ihn an nichts andres mehr denken.

Der Bürgermeister sprach in aufgeregtem Tone von Politik. Ein oder zwei Fabrikbesitzer von Verrières seien nahe daran, reicher zu werden denn er. Sie hätten die Absicht, ihn bei den nächsten Wahlen an die Wand zu drücken. Frau Derville hörte ihm zu. Julian, den diese Rederei ärgerte, rückte seinen Stuhl dicht an den der Frau von Rênal. Die Dunkelheit verbarg jedwede Bewegung. Er wagte seine Hand ihrem schönen Arm anzuschmiegen. Sie ging kurzärmelig. Julian ward wirr zumute. Der Verstand verließ ihn. Er bückte sich und berührte den bloßen Arm mit seiner Wange. Schließlich drückte er seine Lippen darauf.

Frau von Rênal erbebte. Ihr Ehemann saß nur vier Schritte davon. Rasch umfasste sie Julians Hand und stieß sie im selben Moment sanft zurück. Währendem Herr von Rênal fortfuhr, auf die Pfennigfuchser und die hochgekommenen Jakobiner zu schimpfen, bedeckte Julian die ihm nun überlassene Hand mit heißen Küssen. Wenigstens dünkten sie ihr heiß.

Noch am Morgen dieses ereignisvollen Tages hatte die arme Frau den greifbaren Beweis in den Händen gehalten, dass der, den sie liebte, ohne es sich einzugestehen, eine andere im Herzen trug. Solange er fort gewesen war, hatte sie sich sterbensunglücklich gefühlt. Sie hatte sich gesagt: »Wie? Sollte ich Julian lieben? Ich verliebt? Ich, eine verheiratete Frau, ich bin verliebt! Niemals habe ich für meinen Mann dieses Hangen und Bangen verspürt, das meine Gedanken immer wieder zu Julian führt. Er ist doch nur ein Kind, voller Respekt zu mir. Und ich bin toll. Es wird vorübergehen. Übrigens: was gehen meinen Mann die Gefühle an, die ich für den jungen Menschen wohl hege? Meinen Mann würden Gespräche, wie ich sie mit Julian führe, über imaginäre Dinge, zu Tode langweilen. Seine Gedanken gelten immer nur seinen Geschäften. Somit nehme ich ihm nichts von dem, was ich Julian gebe.«

Nicht die geringste Heuchelei trübte die Lauterkeit ihrer naiven Seele, die durch die erste erlebte große Leidenschaft verführt wurde. Ahnungslos ward sie deren Opfer, und doch nicht, ohne dass ein dunkles Gefühl sie gewarnt hätte. Als Julian im Garten erschien, hatte es in ihr gekämpft. Sie hörte seine Stimme, und fast im selben Augenblick saß er ihr schon zur Seite. Ihre Seele jubelte auf in der Wonne eines Glückes, das sie seit vierzehn Tagen mehr als ein Wunder denn als Verführung empfand. Das alles kam so unerwartet. Immerhin fragte sie sich nach einigen Augenblicken: »Seltsam! Julians Anwesenheit genügt also, um das Leid, das er mir angetan, wieder gutzumachen?« Erschrocken hatte sie ihm die Hand entzogen.

Die leidenschaftlichen Küsse, wie sie noch nie welche empfangen, ließen sie jäh vergessen, dass er vielleicht eine andre liebe. Er kam ihr schon nicht mehr schuldig vor. Der bittere Schmerz, mit dem ihr Argwohn sie gequält hatte, gab einer Glückseligkeit Raum, die sie nicht einmal aus Träumereien kannte. Liebesrausch umfing sie und tolle Ausgelassenheit.

Jedermann fand den Abend wundervoll, nur der Bürgermeister nicht, der sich die reichgewordenen Fabrikanten nicht aus dem Sinn zu schlagen vermochte. Julian hatte seinen düsteren Ehrgeiz vergessen und seine himmelstürmenden Pläne. Zum ersten Mal in seinem Leben erlag er der Allmacht der Schönheit. Verloren in weicher wonniglicher Träumerei, wie sie sonst seinem Wesen fremd war, dünkte ihn die Frauenhand, die er sanft umfasst hielt, das allerhöchste. Und wie im Halbschlummer hörte er das Rauschen der Lindenblätter im leisen Nachtwind und das ferne Hundegebell in der Mühle am Doubs.

Aber alles das war für ihn ein Erlebnis der Sinne, nicht der Seele. Als er dann sein Zimmer betrat, empfand er die höchste Lust darin, sein Lieblingsbuch vorzunehmen. In der Fantasie eines Zwanzigjährigen vertreibt die Illusion von der Welt und der in ihr möglichen Erfolge alles andre.

Gleichwohl legte Julian das Buch bald wieder aus der Hand. Napoleons Siege hatten ihn darauf gebracht, seinen eigenen Sieg von einem neuen Standpunkte aus zu betrachten.

»Gewiss!« rief er aus. »Ich habe eine Schlacht gewonnen, aber ich muss sie auch ausnutzen. Ich muss diesem hochmütigen Junker den Stolz brechen, solange er sich noch auf dem Rückzuge befindet. Das ist erst wahrhaft napoleonisch! Ich werde Herrn Rênal um drei Tage Urlaub angehen und meinen alten Freund Fouqué einmal besuchen. Schlägt er mir den Urlaub ab, dann sag ich ihm Valet. Aber er gibt nach.«

Frau von Rênal vermochte kein Auge zu schließen. Ihr war zumute, als hätte sie bis zu diesem Tage überhaupt nicht gelebt. Ihre Einbildungskraft beschäftigte sich fortwährend mit der seligen Erinnerung an die heißen Küsse, die ihr Julian auf die Hand gedrückt hatte.

Plötzlich kam ihr das Schreckenswort Ehebruch in den Sinn. Und die allerabscheulichsten Dinge, mit denen man die Sinnenliebe schändet, tauchten vor ihr auf.

Die Schatten dieser Gedanken verdunkelten das lichte himmlische Traumbild, das sie sich von Julian und dem Glück, ihn zu lieben, gemacht hatte. Sie schaute in eine grausige Zukunft, und sie sah sich selbst in der tiefsten Schmach.

Der Zustand war furchtbar. Ihre Seele geriet in ein unbekanntes Land. Am vergangenen Abend hatte sie eine noch nie verspürte Seligkeit gekostet, und jetzt war sie mit einem Mal der grässlichsten Herzensnot verfallen. Solche Qualen hätte sie für unmöglich gehalten. Sie verlor die Vernunft. Einen Augenblick hegte sie den Plan, ihrem Manne zu gestehen, dass sie fürchte, Julian zu lieben. Aber da hätte sie von ihm reden müssen. Zu ihrem Glück fiel ihr eine gute Lehre ein, die ihr die Tante am Tage vor der Hochzeit gegeben hatte: »Sei vorsichtig mit Geständnissen vor deinem Gatten! Alles in allem ist der Ehemann immer ein Tyrann.«

Im Wirrwarr ihres Leids rang sie die Hände. Sie ward zum Spielball der schmerzlichsten, konträrsten Wahngebilde. Bald fürchtete sie, nicht geliebt zu werden; bald wieder peinigte sie der Gedanke an Schuld und Schande. Es war ihr, als solle sie morgen auf dem Marktplatz von Verrières am Pranger stehen, ihr zu Häuptern eine Tafel, die ihren Ehebruch aller Welt verkündete.

Frau von Rênal hatte nicht die geringste Lebenserfahrung, und so hätte sie selbst in normalem Zustand und im vollen Besitz ihres klaren Verstandes den Unterschied nicht herausgefunden zwischen einer nur vor dem höchsten Richter schuldigen Sünderin aus Leidenschaft und einer der allgemeinen Verachtung würdigen Dirne.

Zeitweise ließ der schreckliche Gedanke an den Ehebruch und die Verdammnis, die diesem Vergehen ihrem Glauben nach folgte, von ihr ab. Dann dachte sie daran, wie süß es sein müsse, mit Julian schuldlos weiterzuleben. Aber zugleich packte sie der qualvolle Verdacht, dass Julian eine andre liebe. Vor ihrem geistigen Auge stand er wieder da wie in jenem Augenblick, da er fürchtete, das Bild der Geliebten zu verlieren oder sie bloßzustellen, indem es in fremde Hände kam. Nie vordem hatte sie auf Julians edlem, immer ruhigem Gesicht Furcht und Angst entdeckt. Nie war er vor ihr oder ihren Kindern so erregt erschienen. In diesem Übermaß von Schmerz empfand sie allen Jammer, den es für ein Menschenherz nur geben kann. Ohne es zu wissen, stieß sie einen lauten Schrei aus, durch den ihre Kammerjungfer erwachte.

Plötzlich gewahrte sie vor ihrem Bett hellen Kerzenschein. Elise stand vor ihr.

In ihrem Irrsinn rief Frau von Rênal: »Liebt er dich denn?«

Die Jungfer war erstaunt, ihre Herrin in so sonderbarer Erregung zu überraschen, aber glücklicherweise war ihr die seltsame Frage entgangen.

Frau von Rênal ward sich ihrer Unbesonnenheit bewusst.

»Ich habe Fieber, Elise«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe gar fantasiert. Bleibe bei mir!«

Gezwungen, auf sich zu achten, wurde sie völlig wach. Jetzt fühlte sie sich auch nicht mehr so unglücklich. Die Vernunft, die sie im Halbschlafe verloren, kam wieder zur Herrschaft. Um Elisens lauernde Blicke abzulenken, befahl sie ihr, aus der Zeitung vorzulesen.

Während die Jungfer mit eintöniger Stimme einen langen Aufsatz aus der Quotidienne herleierte, fasste Frau von Rênal den tugendsamen Entschluss, Julian mit eisiger Kälte zu behandeln, sobald sie ihn wiedersähe.

12. Kapitel

Am nächsten Morgen, bereits um fünf Uhr, noch ehe sich Frau von Rênal zeigte, hatte Julian von ihrem Manne einen dreitägigen Urlaub erhalten. Wider sein eignes Erwarten empfand er das Bedürfnis, sie noch zu sehen. Ihre hübsche Hand kam ihm in den Sinn. Er ging in den Garten hinunter. Frau von Rênal ließ lange auf sich warten; aber wenn Julian wirklich verliebt gewesen wäre, so hätte er erspäht, dass sie hinter der halbgeschlossenen Jalousie eines der Fenster im ersten Stock, die Stirn an die Scheibe gedrückt, nach ihm Ausschau hielt. Ungeachtet ihres Gelöbnisses entschloss sie sich schließlich, im Garten zu erscheinen. Ihre gewöhnliche Blässe war den lebhaftesten Farben gewichen. Die harmlose Frau war sichtlich erregt. Der Wille, sich zu beherrschen, und ein Anflug von Zorn hatten die Sonne ihres Madonnengesichts, die sonst hoch über den Alltagsdingen strahlte, verscheucht.

Julian schritt hastig auf sie zu. Bewundernd sah er ihre schönen Arme, die durch den eilig übergeworfenen dünnen Schal schimmerten. Ihre Haut, nach der aufgeregten Nacht gegen Licht und Luft empfindlicher denn je, leuchtete im frischen Morgen. Die schlichte Schönheit, die so viel inneres Leben verriet, ergriff Julian. Solche Frauen gab es im unteren Volke nicht. Er fühlte, dass eine Saite in seinem Herzen vibrierte, an die bis dahin nie etwas gerührt hatte. Versunken in den Anblick der Reize, an denen sich seine Augen gierig weideten, dachte er gar nicht daran, dass er einen freundlichen Empfang erwartet hatte. Dann aber war er über die eisige Kälte, die ihm unverkennbar zuteil ward, umso mehr betroffen, witterte er doch dahinter die Absicht, ihn in sein Plebejertum zurückzudrängen.

Das Lächeln der Lust erstarb auf seinen Lippen. Er erinnerte sich des Ranges, den er in der menschlichen Gesellschaft einnahm, insbesondere in den Augen dieser vornehmen und reichen Dame. Im Moment lebte in seinen Mienen nichts mehr denn Hochmut und Groll gegen sich selbst. Er empfand heftigen Verdruss, dass er seinen Aufbruch um mehr als eine Stunde hinausgeschoben hatte, um dafür einen so demütigenden Empfang zu ernten.

»Nur ein Tor ärgert sich über die Welt!« tröstete er sich. »Ein Stein fällt, dieweil er schwer ist! Soll ich ewig ein Kind bleiben? Wann werde ich endlich die treffliche Gewohnheit annehmen, diesen Leuten von meiner Seele nur gegen ihr Geld zu geben? Wenn ich will, dass sie – und damit auch ich – Respekt vor mir haben, dann muss ich ihnen begreiflich machen, dass ich armer Kerl zwar der Sklave ihres Mammons bin, dass ich mit meinem Herzen aber himmelhoch über ihrer frechen Selbstgefälligkeit throne, unsagbar erhaben über die armseligen Zeichen ihrer Gnade oder ihrer Geringschätzung.«

Während diese Gefühle in der Seele des jungen Lehrers wogten und wühlten, gewann sein zuckendes Gesicht die Mienen gekränkten Stolzes und wilder Empörung. Frau von Rênal erschrak zu Tode darüber. Die tugendhafte Kälte, die sie sich für die Wiederbegegnung vorgenommen hatte, wich dem Ausdruck der Teilnahme, eines Mitgefühls, das die Verwunderung über den sichtlichen Umschwung in Julian noch vertiefte. Die leeren Redensarten, die man sich am Morgen über das Befinden und das schöne Wetter zu sagen pflegt, kamen beiden nicht über die Lippen. Julian aber, dessen Hirn keineswegs durch Leidenschaft verwirrt war, fand sofort ein Mittel, Frau von Rênal zu zeigen, dass er an Freundschaft zwischen ihnen nicht recht glaube. Von der kleinen Reise, die er vorhatte, sagte er kein Wort. Er grüßte und ging.

Während sie ihm noch nachsah, niedergedrückt durch den düsteren Hochmut, der ihr aus seinem am Abend zuvor so liebenswerten Gesichte entgegengelodert war, kam ihr ältestes Söhnchen hinten aus dem Garten gelaufen, umschlang sie und berichtete ihr:

»Mutter, wir haben Ferien! Herr Julian verreist.«

Frau von Rênal stand das Herz still. Sie war tief unglücklich ob ihrer Tugendhaftigkeit und mehr noch ob ihrer Schwäche. Dies neue Ereignis nahm all ihr Denken in Beschlag. Die bedachtsamen Vorsätze, die sie in der vergangenen schrecklichen Nacht gefasst, verflogen in alle vier Winde. Jetzt galt es nicht mehr, einem innig geliebten Verliebten zu widerstehen. Sie sah sich in Gefahr, ihn auf ewig zu verlieren.

Sie musste am Frühstück teilnehmen. Um ihr Herzeleid zu vollenden, redeten Herr von Rênal und Frau Derville fortgesetzt von Julians Abwesenheit. Er argwöhnte hinter der kategorischen Art, in der ihn Julian um Urlaub gebeten hatte, einen besonderen Anlass:

»Ohne Zweifel hat dieser Bauernjunge das Angebot von irgendjemandem in der Tasche. Aber diesem Irgendjemand, und wäre es auch Valenod, wird wohl der Appetit vergehen, wenn er hört, dass er sich damit seine jährlichen Ausgaben um zweihundert Taler erhöht. Der Bursche wird sich gestern in Verrières eine Bedenkzeit von drei Tagen ausbedungen haben, und heute ist das Kerlchen in die Berge gelaufen, damit er mir nicht Rede und Antwort zu stehen braucht. Das ist auch ein Zeichen der Zeit, dass man sich die Unverschämtheiten eines ärmlichen Tagelöhners gefallen lassen muss!«

Frau von Rênal dachte bei sich: »Wenn schon mein Mann, der gar nicht weiß, wie tief er Julian verletzt hat, der Meinung ist, dass er uns verlassen wird: was soll ich dann erst glauben? Ach, es ist alles entschieden!«

Um wenigstens ungestört weinen zu können und Frau Dervilles Fragen zu entgehen, gab sie vor, heftige Kopfschmerzen zu haben, und legte sich zu Bett.

»So sind die Weiber!« polterte Herr von Rênal gewohntermaßen. »Ewig ist an diesen komplizierten Maschinen etwas nicht im Schwunge.« Spöttisch ging er von dannen.

Während Frau von Rênal alle Qualen der schrecklichen Leidenschaft erduldete, zu deren Opfer der Zufall sie gemacht hatte, wanderte Julian frohgemut durch die Schönheit der Gebirgslandschaft.

Der Weg führte quer über den langen Bergrücken im Norden von Vergy. Langsam ansteigend, kroch dieser Pfad durch den mächtigen Buchenwald in schier endlosen Zickzacks zum Kamm des Höhenzuges hinauf, der den nördlichen Hang des Doubstales bildet. Nach einigem Steigen blickte der Wanderer über die unbedeutenderen Erhebungen auf dem südlichen Flussufer hinweg bis weit hinein in die fruchtbaren Ebenen von Burgund und Beaujolais. Wenngleich das Gemüt des ehrgeizigen jungen Menschen für Naturschönheit wenig empfänglich war, so konnte er doch nicht umhin, von Zeit zu Zeit stehenzubleiben, um dem großartigen Fernblick Beachtung zu gönnen.

Endlich erreichte er den Gebirgskamm, den er auf einem Pass überschreiten musste, um in das entlegene Tal zu kommen, in dem der Holzhändler Fouqué, sein Freund und Altersgenosse, wohnte. Julian beeilte sich durchaus nicht. Er spürte keine Sehnsucht, Menschen zu sehen. Auch den Freund nicht. Hockend wie ein Raubvogel zwischen den nackten Felsen, die den Gebirgszug langhin krönen, konnte er weithin jeden Menschen bemerken, der sich der Höhe genähert hätte. In der Mitte einer beinahe senkrecht emporragenden Felswand erspähte er eine kleine Höhle. Er kletterte hinauf.

»Hier können mir die Menschen nicht wehe tun!« rief er aus, und seine Augen leuchteten.

Er kam auf den Einfall, sich die Freude zu machen, seine Gedanken niederzuschreiben. Das war ihm andernorts zu gefährlich. Ein viereckiger Felsblock diente ihm als Pult. Sein Bleistift flog über das Blatt. Was um ihn war, sah und hörte er nicht. Endlich bemerkte er, dass die Sonne hinter den fernen Bergen von Beaujolais zur Rüste ging. Da fragte er sich: »Warum sollte ich nicht hier übernachten? Brot habe ich bei mir. Ich bin frei!«

Beim Klange dieses großen Wortes jubelte seine Seele. In seinem Heuchlertum hätte er sich selbst bei seinem Freunde Fouqué nicht frei gefühlt. Den Kopf auf beide Hände gestützt, lag er in seiner Höhle. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so glücklich gefühlt. Von Träumereien bewegt, schwelgte er selig in seiner Freiheit. Ohne dass er darauf achtete, erstarben allmählich die letzten Schimmer der Dämmerung. Im Schöße der ungeheuren Finsternis dichtete seine Fantasie an den Dingen, die er dermal einst in Paris zu erleben sich ersehnte. Vor allem erstand in seiner Seele die Gestalt einer Frau, die viel schöner war und viel geistvoller als alle die Frauen, die er bisher zu sehen bekommen hatte. Er würde sie leidenschaftlich lieben und von ihr wieder geliebt werden. Er würde sich nur auf kurze Zeiten von ihr trennen und nur um Ruhm zu erringen und immer liebenswerter zu werden.

Ein junger Mann, mitten im grauen Alltag des Lebens und Treibens einer Großstadt aufgewachsen, wäre an dieser Stelle seines Traumdaseins, selbst wenn er Julians Einbildungskraft gehabt hätte, von Ironie ergriffen und ernüchtert worden. Der Drang nach großen Taten wäre zu nichts zerronnen vor der banalen Weisheit: »Lässest du deine Geliebte allein, beim Teufel, so riskierst du, dass sie dich zwei- bis dreimal täglich betrügt!« Der Bauernsohn Julian hingegen wähnte, ihm fehle zu Heldentaten nur die gute Gelegenheit.

Inzwischen war es stockfinstere Nacht geworden. Bis zu dem kleinen Dorf, in dem Fouqué hauste, hatte er noch zwei Stunden zu laufen. Ehe er die kleine Höhle verließ, machte er ein Feuer an und verbrannte sorgfältig alle seine Kritzeleien.

Sein Freund war höchst erstaunt, als Julian nachts ein Uhr an seine Tür klopfte. Fouqué war dabei, seine Geschäftsbücher nachzutragen. Er war überlang, nicht besonders wohlgestaltet, und hatte grobe, harte Züge, dazu eine Riesennase; aber in dieser abstoßenden Hülle barg sich viel Güte.

»Du hast dich wohl mit dem Bürgermeister überworfen, dass du hier so plötzlich hereinschneist?« fragte er.

Nicht ohne Vorbehalt erzählte Julian, was sich am Tage vorher zugetragen hatte.

»Bleibe bei mir!« schlug ihm Fouqué vor. »Du kennst Herrn von Rênal, Herrn Valenod, den Landrat Maugiron, den Pfarrer Chélan. Du kennst also die Eigenart der Leute unsrer Gegend und kannst mich bei den Versteigerungen vertreten. Das Rechnen verstehst du besser als ich. Du könntest mir die Bücher führen. Mein Handel geht vorzüglich. Ich werde allein nicht mehr fertig, aber ich habe Angst, einen Gauner zum Teilhaber zu bekommen. Deshalb muss ich manches schöne Geschäft schwimmen lassen. Vor vier Wochen habe ich dem Michaud aus Saint-Amand zweitausend Taler zu verdienen gegeben. Ich hatte ihn sechs Jahre nicht gesehen und traf ihn zufällig auf der Holzauktion in Pontarlier. Diese zweitausend Taler hättest du ebenso gut einstecken können, oder wenigstens tausend. Wenn ich dich nämlich an jenem Tage bei mir gehabt, so hätte ich auf den ganzen Holzschlag feste geboten, und die andern hätten ihn mir bald gelassen. Werde mein Kompagnon!«

Dies Angebot verstimmte Julian und dämpfte seine tollen Ideen. Während des Nachtmahls, das sich die beiden Freunde gleich Helden Homers selbst bereiteten, weil Fouqué einsam lebte, bewies er Julian an der Hand seiner Geschäftsbücher, wie ertragreich sein Holzhandel war. Fouqué hielt ungemein viel von der Klugheit und Gewissenhaftigkeit seines Freundes.

Als Julian endlich allein in seiner bretterwändigen Dachkammer war, sagte er sich: »Wahrlich, hier könnte ich mir ein paar tausend Taler verdienen und später mit ihrer Hilfe den Beruf des Priesters oder den des Soldaten ergreifen, je nachdem, was dann in Frankreich gerade Mode ist. Das kleine Vermögen, das ich mir hier zusammenscharrte, würde mir dereinst manches kleine Hindernis aus dem Wege räumen. Auch hätte ich hier in den Bergen Muße genug, meiner grauenhaften Ignoranz in den Dingen, die die höhere Gesellschaft beschäftigen, ein wenig abzuhelfen. Fouqué will nicht heiraten, aber er klagt, dass ihn das Alleinsein unglücklich mache. Es ist also klar: wenn er sich einen Teilhaber nimmt, der ihm kein Kapital ins Geschäft bringt, so tut er dies in der Erwartung, dass ihn selbiger nie wieder verlässt…«

Missmutig rief Julian aus: »Soll ich meinem Freund etwas vormachen?«

Und er, dem Heuchelei und purer Egoismus die Scheidemünzen waren, mit denen er jeden Schritt vorwärts bezahlte, fand seltsamerweise den Gedanken unerträglich, einen lieben Menschen auch nur im geringsten zu kränken. Mit einem Mal erhellte sich sein Gemüt. Es fiel ihm ein Grund ein, das Angebot ausschlagen zu können. »Aber natürlich!« sagte er sich. »Es wäre Schlappheit von mir, sieben oder acht Jahre zu vertrödeln. Dann wäre ich achtundzwanzig. In diesem Alter hatte Napoleon bereits das Größte vollbracht! Wenn ich mir auf obskure Weise ein bisschen Geld zusammengeschachert habe, indem ich auf die Holzversteigerungen renne und ein paar subalternen Halunken um den Bart gehe, wer weiß, ob ich dann noch das heilige Feuer in mir habe, ohne das keiner berühmt wird.«

Am Morgen erklärte er dem braven Fouqué, der den Eintritt seines Freundes in das Geschäft bereits für eine abgemachte Sache hielt, kaltblütig: er fühle sich so stark zum heiligen Stand berufen, dass er den Vorschlag ablehnen müsse.

Fouqué war starr. »Aber bedenke doch«, wandte er ein, »ich will dich als Teilhaber aufnehmen, oder wenn dir dies lieber ist, gebe ich dir ein festes Gehalt von viertausend Franken im Jahre. Willst du wirklich zu deinem Bürgermeister zurück, dem du nicht mehr wert bist als der Dreck an seinen Stiefeln? Wenn du dir ein paar tausend Taler erübrigt hast, wird dich niemand hindern, in das Priesterseminar einzutreten. Mehr noch: ich verpflichte mich, dir die beste Pfarre im ganzen Lande zu verschaffen …« Fouqué begann leise zu reden. »Ich liefere nämlich das Brennholz an Herrn***, Herrn***, Herrn***. Ich liefere ihnen die allerbeste Ware, berechne ihnen aber nur den Preis der geringsten Qualität.«

Julian ließ sich durch nichts umstimmen, so dass ihn der Freund schließlich für etwas verrückt hielt.

Im Morgengrau des dritten Tages nahm er Abschied von Fouqué und verbrachte den ganzen Tag in den Felsenklüften oben im Gebirge. Er fand seine kleine Höhle wieder, aber nicht seinen Seelenfrieden. Den hatte ihm Fouqués Angebot geraubt. Wie Herkules stand er am Scheidewege – nicht zwischen Laster und Tugend, sondern zwischen einem wohlgesicherten Durchschnittsdasein und dem Heldentum seiner Jugendträume.

»Wirkliche Festigkeit fehlt mir«, gestand er sich in tiefstem Weh über den Zweifel an sich selbst. »Ich bin nicht aus dem harten Holze der großen Männer geschnitzt, wenn ich fürchte, dass mich ein halbes Dutzend Jahre Broterwerb um die göttliche Energie bringt, durch die der Mensch das Außergewöhnliche schafft.«

94,80 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
640 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783961180882
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
167