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9. Kapitel

Als Julian am nächsten Morgen Frau von Rênal wiedersah, schaute er sie seltsamen Blickes an. Er beobachtete sie wie einen Feind, mit dem man sich schlagen soll. Diese Blicke, die so ganz anders waren als die am vergangenen Abend, brachten Frau von Rênal beinah um den Verstand. Sie war gütig mit ihm gewesen, und er sah so bös aus! Sie musste ihn immer von neuem anschauen. yy

Frau Dervilles Anwesenheit ermöglichte es ihm, wenig zu reden und sich desto mehr mit dem zu beschäftigen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Diesen ganzen Tag über las er und sog neue Kraft aus dem enthusiastischen Buche. Es erfüllte seine Seele.

Die Unterrichtsstunden der Kinder kürzte er beträchtlich ab, und als er dann wieder mit Frau von Rênal zusammentraf, gemahnte ihn diese Begegnung sofort daran, dass er Sieger sein müsse. Er fasste den Vorsatz, es am Abend so weit zu bringen, dass er ihre Hand in der seinen halten dürfe.

Als die Sonne sank und der entscheidende Augenblick heranrückte, begann Julians Herz seltsam zu schlagen. Die Nacht brach an, eine dunkle Nacht, wie er zu seiner Freude und unsäglichen Erleichterung wahrnahm. Ein schwüler schwerer Wind ging und trieb dunkle Wolken über den Himmel. Es lag ein Gewitter in der Luft.

Die beiden Freundinnen lustwandelten. Es war schon spät. Alles, was sie an diesem Abend taten, dünkte Julian sonderbar. Sie genossen diese Stunden, in denen zarten Seelen die Wollust der Liebe wächst.

Endlich nahm man Platz, Frau von Rênal neben Julian, Frau Derville ihr dicht zur andern Seite. Julian brachte kein Wort über die Lippen. Sein Vorhaben nahm in völlig in Anspruch. Die Unterhaltung zu dritt schlich matt dahin.

»Ob ich wohl ebenso zitterte, ob ich ebenso unglücklich wäre, wenn ich vor meinem ersten Duell stände?« So fragte sich Julian. Allzu misstrauisch gegen sich wie gegen andre, war er sich über seinen Seelenzustand nicht klar.

In seiner Todesangst hätte er jedwede Gefahr vorgezogen. Hundertmal empfand er den heißen Wunsch, dass irgendeine häusliche Pflicht Frau von Rênal veranlasse, aus dem Garten in das Haus zu gehen. Die Gewalt, die sich Julian antat, war so groß, dass seine Stimme tief verändert klang. Bald begann auch Frau von Rênals Stimme zu zittern. Aber das merkte Julian nicht. Der furchtbare Kampf zwischen Pflicht und Schüchternheit tobte derart in ihm, dass er für die Außenwelt gar keinen Sinn hatte.

Die Schlossuhr schlug dreiviertel zehn. Noch hatte Julian nicht das geringste gewagt. Empört über seine Feigheit gelobte er sich: »Im Augenblick, wo es zehn Uhr schlägt, führe ich das aus, was ich mir den ganzen Tag über befohlen habe zu tun – oder ich gehe in mein Zimmer und schieße mich tot.«

Die letzte Viertelstunde war voller Hangen und Bangen. Julians Erregung wuchs so mächtig, dass er fast von Sinnen war, als die Turmuhr hoch über ihnen die zehnte Stunde verkündete. Jeder einzelne Schlag dieser Schicksalsvollzieherin erschütterte sein Herz. Es war ihm, als ob ihn der Glockenschlägel körperlich berührte.

Als der letzte Schlag verhallte, erst da streckte Julian seine Hand aus und ergriff Frau von Rênals Hand. Sie zuckte zurück. Ohne zu wissen, was er tat, erfasste er sie abermals. Trotz seiner gewaltigen Erregung staunte er über die eisige Kälte der Hand, die er umspannte und krampfhaft drückte. Es erfolgte ein letzter Versuch, sie ihm zu entziehen: dann verblieb ihm die Hand.

Seine Seele jubelte vor Glück, nicht weil er Frau von Rênal liebte, nein, weil die grässliche Qual überstanden war. Um Frau Derville nichts merken zu lassen, glaubte er reden zu müssen. Seine Stimme klang nun wieder hell und kräftig, während Frau von Rênal kaum zu sprechen vermochte. Ihre Erregung war so unverkennbar, dass Frau Derville glaubte, ihre Freundin sei krank, und den Vorschlag machte, doch lieber ins Haus zu gehen.

Sofort fühlte Julian die Gefahr. »Wenn Frau von Rênal jetzt ins Haus geht« – das war sein Gedanke –, »dann verfalle ich abermals in den qualvollen Zustand, der mich den ganzen Tag gepeinigt hat. Ihre Hand hat noch nicht lange genug in der meinen geruht. Ich habe noch keinen rechten Sieg errungen.«

Als Frau Derville ihren Vorschlag, hineinzugehen, wiederholte, drückte Julian ungestüm seiner Herrin Hand, die ihm widerstandslos zu eigen blieb.

Frau von Rênal war eben im Begriffe gewesen, sich zu erheben. Jetzt sank sie zurück und flüsterte kaum hörbar: »Ich fühle mich wirklich ein wenig krank, aber die frische Luft tut mir wohl.«

Diese Worte besiegelten Julians Glück. In diesem Augenblick war es unermesslich. Er redete. Er vergaß zu heucheln. Und so erschien er den beiden Freundinnen, die ihm zuhörten, als ein Meister der Liebenswürdigkeit. Gleichwohl ermangelte es dieser Beredsamkeit, die ihn so plötzlich überkommen, ein wenig an Zuversicht. Er hatte ungeheuerliche Angst, Frau Derville könne wegen dem stärker gewordenen Winde, dem Vorboten des Gewitters, allein in den Salon gehen. Dann wäre er mit Frau von Rênal unter vier Augen geblieben. Den blinden Mut, der zu einer Tat gehört, den hatte er nur zufällig gefunden. Er hatte das Gefühl, dass es über seine Kraft gehen würde, auch nur ein paar leise Worte zu Frau von Rênal zu sagen. Wenn er sich im Allgemeinen auch kaum etwas vorzuwerfen hatte, so sah er doch, dass er eine Niederlage erleiden und des eben Gewonnenen wieder verlustig gehen würde.

Zu seinem Glücke fand seine empfindsame und überschwängliche Plauderei an diesem Abend Gnade vor Frau Derville, die sich sonst häufig ob seiner Naivität und Unerfahrenheit recht langweilte. Frau von Rênal hingegen saß Hand in Hand mit Julian und dachte an nichts. Sie ließ alles geschehen. Dieser Abend unter der uralten Linde, die der Sage nach Karl der Kühne gepflanzt hatte, war ihr das reinste Glück. Wonnesam lauschte sie dem Winde, der durch das Blätterwerk des mächtigen Baumes rauschte, und dem Aufklatschen der Tropfen, die vereinzelt zu fallen begannen. Ein Umstand entging Julian, der ihm das Selbstbewusstsein gestärkt hätte. Frau von Rênal hatte ihm die Hand entziehen müssen. Sie war aufgestanden, um ihrer Base behilflich zu sein, einen vom Wind umgeworfenen Blumenkübel wieder aufzustellen. Kaum aber saß sie wieder, da legte sie ihre Hand von selber in die seine, als ob dies schon Gewohnheitssache unter ihnen wäre.

Es hatte längst Mitternacht geschlagen. Man musste endlich den Garten verlassen, und die beiden trennten sich. Im Banne ihres Liebesglückes und in ihrer Unerfahrenheit dachte sie an keinen Selbstvorwurf. Vor Seligkeit vermochte sie nicht einzuschlummern. Julian hingegen fiel in einen bleischweren Schlaf, todmüde von den Kämpfen zwischen Zaghaftigkeit und Stolz, die den ganzen Tag über sein Herz erfüllt hatten.

Am andern Morgen weckte man ihn um fünf Uhr. Keiner seiner Gedanken galt Frau von Rênal. Welch grausame Erkenntnis wäre dies für sie gewesen!

Er hatte seine Pflicht erfüllt: eine Heldenpflicht.

In seinem Glücksgefühl schloss er sich in sein Zimmer ein und vertiefte sich mit gewandeltem Genuss in die Taten seines Herrn und Meisters.

Als es zum Frühstück läutete, hatte er über den Bulletins der Großen Armee alle seine eigenen Siege von gestern vergessen. Beim Hinuntergehen nach dem großen Zimmer im Erdgeschoß sagte er leichtfertig zu sich: »Ich muss der Frau sagen, dass ich sie liebe.«

Aber statt der liebesseligen Blicke, die er erwartet, sah er sich vor der gestrengen Miene des Bürgermeisters, der vor zwei Stunden aus Verrières angekommen war und durchaus kein Hehl aus seiner Unzufriedenheit darüber machte, dass Julian den ganzen Vormittag vertrödelt hatte, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Der sonst so gravitätische Herr von Rênal war der unangenehmste Mensch, wenn er schlechte Laune hatte und Gelegenheit fand, sie an jemandem auszulassen.

Jedes scharfe Wort ihres Mannes versetzte Frau von Rênal einen Stich ins Herz. Julian indes war in Ekstase. Die gewaltigen Begebnisse, die ihn in den beiden Stunden beschäftigt hatten, flammten noch vor seiner Phantasie. Es fiel ihm schwer, sich so weit herabzulassen, dass er die groben Vorwürfe des Herrn von Rênal aufnahm. Endlich gab er eine Antwort, schroff und jäh: »Mir war nicht wohl.«

Der Ton dieser Ausrede hätte auch einen weit weniger empfindlichen Menschen als den Bürgermeister geärgert. Es fehlte nicht viel, so hätte er ihn daraufhin ohne weiteres von dannen gejagt. Lediglich sein Grundsatz, sich in Geschäftssachen niemals zu übereilen, hielt ihn davon zurück. Im nächsten Augenblick sagte er sich bereits: »Dieser dumme Junge hat sich in meinem Hause ein gewisses Renommee begründet. Valenod nähme ihn gewiss. Oder er heiratet die Elise. In beiden Fällen lacht er mich insgeheim aus.«

Trotz dieser klugen Überlegung entlud sich seine Unzufriedenheit in einer Flut von Grobheiten über Julian, die diesen allmählich in Zorn brachten. Frau von Rênal war dem Weinen nahe. Kaum war das Frühstück zu Ende, da bat sie Julian, an ihrem Spaziergang teilzunehmen.

Unterwegs nahm sie freundschaftlich seinen Arm und plauderte zu ihm. Julian erwiderte nichts als einmal halblaut die Worte: »Ja, so sind sie, die reichen Leute!«

Dicht neben den beiden ging Herr von Rênal. Seine Gegenwart vermehrte Julians Ingrimm. Und mit einem Male ward er sich bewusst, dass sich Frau von Rênal mehr denn nötig auf ihn stützte. Diese Annäherung widerte ihn an. Er stieß sie brüsk von sich und machte seinen Arm frei.

Glücklicherweise entging Herrn von Rênal diese neue Unverschämtheit. Nur Frau Derville bemerkte den kleinen Vorfall. Ihrer Freundin kamen die Tränen in die Augen. In diesem Augenblick nahm der Bürgermeister ein paar Steine auf und verjagte damit ein Bauernmädchen, das auf einem verbotenen Weg dahinging, quer über einen Zipfel des Obstgartens. Rasch sagte Frau Derville: »Herr Julian, mäßigen Sie sich, bitte! Bedenken Sie, dass wir alle unsre Launen haben!«

Julian warf ihr einen eiskalten Blick zu. In seinen Augen gleißte die souveränste Verachtung.

Frau Derville stutzte. Sie wäre tief erschrocken, wenn sie die volle Bedeutung seines Blickes erfaßt, wenn sie die vage Hoffnung auf grässliche Vergeltung daraus gelesen hätte. Solche Momente der Demütigung erzeugen die großen Revolutionäre.

»Euer Julian ist recht rabiat«, flüsterte Frau Derville ihrer Freundin zu. »Mir graut vor ihm.«

»Er hat auch Anlass, aufgebracht zu sein«, gab Frau von Rênal zur Antwort. »Bei den erstaunlichen Fortschritten, die ihm die Kinder verdanken, kann er schon einmal einen Vormittag sich selber widmen. Die Männer sind wirklich rücksichtslos.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Frau von Rênal Rachsucht gegen ihren Mann. Julians wilder Hass gegen die Reichen war nahe daran auszubrechen. Zum Glück sah Herr von Rênal just den Gärtner, rief ihn her und machte sich zusammen mit ihm daran, den verbotenen Weg durch eine Dornenhecke zu sperren.

Julian erwiderte kein einziges Wort auf alle die Freundlichkeiten, die ihm die beiden Damen auf dem weiteren Spaziergang angedeihen ließen. Der Bürgermeister war kaum aus der Sehweite, als ihn beide, unter dem Verwände, müde zu sein, um seinen Arm baten.

So schritt Julian zwischen den beiden Frauen hin, die beide vor Erregung und Verlegenheit glühende Wangen bekommen hatten, während er totenblass aussah, düster und verbissen. Ein eigentümlicher Gegensatz! Er verachtete diese Weiber und alle ihre Empfindsamkeit.

»Ach!« stöhnte er im stillen. »Wenn ich nur lumpige fünfhundert Franken Zinsen im Jahre hätte und mein Studium vollenden könnte! Dann pfiffe ich auf diesen Rênal!«

In so bitteren Gedanken verloren, dünkte Julian selbst das wenige, was von den freundlichen Reden der beiden Freundinnen überhaupt in sein Gehör drang, sinnlos, albern, fad, mit einem Worte: weibisch.

Frau von Rênal gab sich die größte Mühe, das Gespräch im Fluss zu erhalten. Sie sprach von allem möglichen, und so erzählte sie unter anderm, ihr Mann sei diesmal aus Verrières gekommen, um von einem seiner Pächter Maisstroh zu kaufen. In jener Gegend werden nämlich die Matratzen mit solchem Stroh gefüllt.

»Mein Mann wird uns nicht nachkommen«, erklärte sie. »Er wird jetzt dabei sein, mit dem Gärtner und dem Diener die Matratzen im ganzen Hause frisch zu füllen. Heute Vormittag sind sämtliche Betten im ersten Stock fertig geworden. Nun kommen die im zweiten dran.«

Julian ward feuerrot und sah Frau von Rênal mit einem sonderbaren Blick an. Indem er seine Schritte verdoppelte, suchte er allein mit ihr zu sein. Frau Derville ließ die beiden vorausgehen.

»Retten Sie mir die Existenz!« bat er Frau von Rênal. »Sie, nur Sie können es. Sie wissen doch, dass mich der Diener in den Tod hasst. Gnädige Frau, ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich habe im Stroh meines Bettes ein Bild versteckt.«

Frau von Rênal wurde bei diesem Geständnis leichenblass.

Julian fuhr fort: »Nur Sie, gnädige Frau, nur Sie können in mein Zimmer. Wühlen Sie, ohne dass es jemand merkt, in der Ecke des Strohsacks, in der nach dem Fenster zu! Da drinnen finden Sie eine kleine flache schwarze Pappschachtel…«

»Mit einem Bild darin?« stammelte Frau von Rênal. Sie vermochte sich kaum noch aufrecht zu erhalten.

Julian bemerkte die Verzweiflung in ihren Mienen und machte sich dies sofort zunutze.

»Ich habe noch eine Bitte, gnädige Frau. Um alles in der Welt, sehen Sie sich das Bild nicht an! Es ist mein Geheimnis.«

»Ein Geheimnis!« wiederholte Frau von Rênal mit ersterbender Stimme.

Sie war zwar unter Leuten aufgewachsen, die auf ihren Reichtum eingebildet und nur im Geldpunkt empfindlich waren, doch zugleich mit der Liebe hatte auch der Edelmut in ihrem Herzen Einzug gehalten. Tiefer Schmerz erfüllte sie, aber im Tone schlichtester Demut bat sie um nochmalige Unterweisung, um den Auftrag auf jeden Fall erfüllen zu können.

Im Weggehen wiederholte sie: »Also eine kleine runde Schachtel, aus schwarzer Pappe, flach und glatt…«

»Jawohl, gnädige Frau!« bestätigte ihr Julian hart und rau, wie Männer in Gefahr sprechen.

Sie stieg zum zweiten Stock des Schlosses hinauf, bleich, als ginge es in den Tod. Am allerschrecklichsten war es ihr, dass sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Sie musste Julian diesen Dienst erweisen: das rief ihr die Kräfte zurück.

»Ich muss das Bild holen!«

Mit dieser Selbstermutigung eilte sie hinauf. Oben hörte sie ihren Mann mit dem Diener sprechen. Sie waren gerade in Julians Zimmer. Glücklicherweise gingen sie alsbald in das Schlafgemach der Kinder.

Frau von Rênal hob die Matratze auf und steckte ihre Hand in das Stroh. Sie tat dies so hastig, dass sie sich die Finger aufriss. Aber obwohl sie sonst gegen kleine Schmerzen sehr empfindlich war, spürte sie die Verletzung gar nicht, denn fast im selben Augenblick fühlte sie das glatte Papier der Schachtel. Sie zog sie hervor und eilte von dannen.

Jetzt, ledig der Furcht, von ihrem Manne überrascht zu werden, gewann das Grauen vor dem Inhalt der Schachtel dermaßen die Oberhand, dass es ihr schwarz vor den Augen ward.

»So liebt Julian eine andre, und ich habe hier das Bild seiner Geliebten!«

In der Vorhalle sank sie auf einen Stuhl, ein Opfer aller Qualen der Eifersucht. Das einzige, was ihr noch Halt gab, war ihre grenzenlose Unkenntnis von Leben und Leidenschaft. Sie staunte vor sich selbst, und dies Erstaunen milderte ihren Schmerz.

Julian kam, riss ihr die Schachtel aus der Hand, und ohne ein Wort des Dankes, ohne überhaupt etwas zu sagen, lief er in sein Zimmer, wo er Feuer im Kamin machte und das Bild sofort verbrannte. Er war blass und erschöpft. Die überstandene Gefahr dünkte ihm riesengroß.

»Napoleons Bild«, sagte er vor sich hin, indem er ein bedenkliches Gesicht zog, gefunden im heimlichen Besitze jemandes, der vor der Welt versichert, den Usurpator zu hassen! Gefunden von Herrn von Rênal, dem Erzroyalisten, meinem Feinde! Und als Krone aller meiner Dummheit stehen hinten auf der weißen Pappe des Bildes Kritzeleien von meiner Hand, die untrüglichsten Offenbarungen meiner Napoleonsschwärmerei! Mit den genauen Daten dieser Liebesergüsse! Das letzte mal vorgestern!«

Als die Schachtel in Flammen aufging, fuhr er fort: »Im nächsten Augenblick wäre mein guter Ruf zum Teufel gegangen! Mein guter Ruf, mein einzig Hab und Gut! Ihm danke ich das Dasein … großer Gott… dieses armselige Dasein!«

Eine Stunde später hatte ihn die Müdigkeit und das Mitleid mit sich selbst milder gestimmt. Als er Frau von Rênal begegnete, ergriff er ihre Hand und küsste sie, aufrichtig wie noch nie. Sie ward vor Glück rot, aber fast im nämlichen Augenblick wehrte sie Julian in aufwallender Eifersucht von sich ab. Von neuem in seinem Stolz verletzt, gebärdete er sich diesmal wie ein Narr. Er sah in Frau von Rênal nichts denn die reiche Dame. Er ließ ihre Hand los und rannte weg. Grübelnd lief er im Garten auf und ab, ein bitteres Lächeln um seine Lippen. Schließlich kam er zu folgender Erkenntnis: »Hier gehe ich nun spazieren, als sei ich ganz Herr meiner Zeit. Ich kümmere mich nicht um die Kinder. Ich setze mich abermals dem aus, dass mich Herr von Rênal demütigt, mit Recht demütigt!«

Er eilte in das Kinderzimmer. Die Zärtlichkeiten des Jüngsten, seines Lieblings, besänftigten ein wenig sein wehes Leid.

»Der missachtet mich noch nicht!« dachte Julian. Alsbald aber machte er sich aus dem Nachlassen seines Schmerzes den Vorwurf, doch ein Schwächling zu sein.

10. Kapitel

Herr von Rênal kam mit den Dienstboten, die die Matratzen wieder an Ort und Stelle brachten, nach und nach durch alle Räume des Schlosses. So auch abermals in das Kinderzimmer.

Sein unerwartetes Erscheinen brachte Julians Zorn zum Ausbruch. Bleicher und finsterer denn sonst trat er ihm entgegen. Herr von Rênal blieb stehen und sah seinen Leuten zu.

»Herr Bürgermeister«, begann Julian, »glauben Sie, jeder beliebige Hauslehrer brächte die Kinder so gut vorwärts wie ich?« Und ohne Herrn von Rênal zu Worte kommen zu lassen, fuhr er fort: »Wenn Sie darauf mit nein antworten müssen, wieso dürfen Sie mir dann vorwerfen, ich vernachlässigte die Kinder?«

Herr von Rênal war zunächst starr vor Schreck. Dann aber zog er sofort aus dem auffälligen Tone, den sich der Bauernjunge herausnahm, den Schluss, dass er ein vorteilhaftes Angebot in der Tasche haben müsse und das Haus verlassen wolle. Währendem redete sich Julian immer mehr in die Wut. Seine letzten Worte waren: »Ich komme auch ohne Sie in der Welt weiter, Herr Bürgermeister!«

Herr von Rênal erwiderte, ein wenig stotternd: »Es tut mir wirklich leid, dass Sie so aufgeregt sind.«

Die Dienstboten waren, keine zehn Schritte weit, immer noch mit den Betten beschäftigt.

»Das macht die Sache nicht wieder gut!« erwiderte Julian aufgebracht. »Erinnern Sie sich der niederträchtigen Worte, die Sie gegen mich gerichtet haben, und obendrein vor den Damen!«

Herr von Rênal glaubte zu wissen, worauf Julian hinauswollte. Die ganze Geschichte war ihm höchst peinlich.

Schließlich verlor Julian jedwede Selbstbeherrschung. Er schrie geradezu.

»Ich weiß, wohin ich gehe, wenn ich dies Haus verlasse, Herr Bürgermeister!«

Herr von Rênal sah seinen Hauslehrer im Geist bereits bei Valenod.

»Hören Sie mal, Herr Sorel!« sagte er nunmehr, beinahe stöhnend und mit einem Gesicht, als stünde er vor einer sehr schmerzhaften ärztlichen Operation. »Ich füge mich Ihrem Wunsche. Übermorgen ist der Erste. Fortan erhöhe ich Ihr Gehalt auf fünfzig Franken.«

Julian hätte am liebsten laut aufgelacht, aber er verzog keine Miene. All sein Zorn war verlodert.

»Diesen Trottel habe ich noch gar nicht genug verachtet«, sagte er sich. »Zweifellos ist das die höchste Satisfaktion, die einem eine so inferiore Seele zu geben vermag.«

Die Kinder, die bei diesem Auftritt Mund und Ohren aufgesperrt hatten, rannten in den Garten, um ihrer Mutter zu vermelden, dass Herr Julian sehr böse geworden sei, aber nun bekäme er monatlich fünfzig Franken. Julian ging ihnen nach, wie er dies gewohnt war. Herr von Rênal, der keines Blicks gewürdigt ward, schaute ihm ärgerlich nach.

»Der Valenod kostet mich also einhundertachtundsechzig Franken!« schimpfte er bei sich. »Warte nur, ich werde dir bei deinen Findelkindern ein bisschen mehr auf die Finger sehen!«

Ein paar Minuten später stand Julian abermals vor Herrn von Rênal.

»Herr Bürgermeister, ich möchte in einer Gewissenssache zum Herrn Pfarrer«, sagte er, »und ich bitte gehorsamst, mich gütigst auf einige Stunden beurlauben zu wollen.«

»Aber gern, mein lieber Julian«, entgegnete Herr von Rênal mit heuchlerischer Leutseligkeit. »Den ganzen Tag, wenn Sie wollen, auch morgen noch, Verehrtester! Nehmen Sie den Gärtnergaul und reiten Sie nach Verrières!«

»Aha!« dachte er bei sich. »Jetzt will er ins Städtchen, Valenod Bescheid geben. Verpflichtet hat er sich mir nicht. Aber so einem Heißsporn muss man Zeit lassen, wieder vernünftig zu werden.«

Julian machte sich unverzüglich auf den Weg nach Verrières, und zwar zu Fuß, auf dem Höhenpfad durch den Wald. Er hatte es durchaus nicht eilig, zu Chélan zu kommen. Vor dem guten Pfarrer die Komödie der Heuchelei weiterzuspielen, dazu spürte er die geringste Lust. Vielmehr hatte er das Bedürfnis, mit sich selbst ins klare zu kommen und das Chaos in seiner Seele zu belauschen.

»Ich habe eine Schlacht gewonnen!« frohlockte er, als er in der Einsamkeit des Hochwaldes dahinschritt, fern den Blicken der Menschen. »Ich habe eine Schlacht gewonnen!«

Dieser Siegesruf durchsonnte ihm all sein Lebensleid. Etwas wie Frieden zog in seine Brust ein.

»Jetzt habe ich also fünfzig Franken Monatsgehalt. Mich dünkt, Herr von Rênal hat eine Heidenangst vor mir. Warum denn eigentlich?«

Der Gedanke, einem so glücklichen und mächtigen Manne, auf den er vor kaum einer Stunde wütend gewesen, doch Furcht eingejagt zu haben, stimmte ihn vollends heiter. Einen Augenblick lang ergriff ihn sogar die wunderbare Schönheit des Waldes, durch den er wanderte. Hohe nackte Felsenblöcke, vor Urzeiten vom Kamme der Berge hierher gerollt, reckten sich unter den riesigen Rotbuchen, fast gleich hoch wie diese. Aus dem Gestein drang köstliche Kühle, während ein paar Schritte weiter die unerträglichste Sonnenglut brannte.

Im Schatten der hohen Felsen rastete Julian eine Weile. Dann stieg er weiter, einen schmalen, kaum erkennbaren Saumpfad empor, den nur die Ziegenhirten benutzten. So gelangte er auf einen Vorsprung.

Kein Mensch weit und breit. Ungestört stand Julian da droben. Lachend. So frei wie hier körperlich, auch geistig und seelisch zu sein, das war seine heißeste Sehnsucht! Die lichte leichte Höhenluft erfüllte ihn mit heiterem Frieden, ja mit Glückseligkeit.

Von neuem erinnerte er sich des Bürgermeisters von Verrières als des Vertreters aller Reichen und aller derer, die sich etwas anmaßten auf Erden. Aber zugleich fühlte Julian, dass sein Hass, so mächtig er ihn durchloderte, nichts mit der Person eines Einzelnen zu tun hatte. Wenn er nie wieder in das Haus des Herrn von Rênal hätte zurückkehren müssen, so hätte er ihn in acht Tagen vergessen, ihn samt seinem Schloss, seinen Hunden, seinen Kindern und seiner ganzen Familie.

»Ich habe ihn, ich weiß selber nicht warum, zu einem Opfer gezwungen«, sagte er sich. »Sechsundfünfzig Taler mehr im Jahre… und dies ein paar Minuten, nachdem ich der größten Gefahr entronnen! Also zwei Siege an einem Tage! Der zweite ist allerdings nicht mein Verdienst. Ich muss doch noch erspüren, wie das zugegangen ist. Morgen werde ich das erkunden!«

Hochaufgerichtet stand Julian auf seinem Felsen und schaute in den Himmel, den die Augustsonne durchflammte. Zu Füßen der Felswand zirpten die Grillen. Wenn sie zeitweise verstummten, war Totenstille ringsumher. In der Tiefe dehnte sich das Land zwölf Meilen in die Ferne. Ein Weih flog aus den Felsenhängen zu seinen Häupten auf und zog seine weiten Kreise in der endlosen Stille. Julians Blick folgte dem Raubvogel unwillkürlich. Der ruhige erhabene Flug ergriff ihn. Er beneidete das Tier um seine Kraft. Er beneidete es um seine Einsamkeit.

»Napoleons Schicksal war so!« dachte er bei sich. »Wird dereinst auch das meine so sein?«

94,80 ₽
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18+
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9783961180882
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