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16. Kapitel

Zum Glück und Ruhme Julians hatte Frau von Rênal in ihrer ungeheuren Aufregung und Bestürzung gar nicht darauf geachtet, wie töricht sich der Mann benahm, der ihr mit einem Mal der liebste aller Menschen geworden war. Als der Morgen dämmerte, bat sie ihn, zu gehen.

»O Gott«, flüsterte sie ihm zu, »wenn mein Mann etwas hört, bin ich verloren!«

Julian machte gemächlich die Bemerkung: »Würdest du bedauern, das Leben lassen zu sollen?«

»Ach, jetzt sehr! Aber nimmermehr würde ich es bereuen, dich an mein Herz gedrückt zu haben.«

Julian hielt es seiner Würde für angemessen, sie erst am hellen Morgen und ohne besondre Vorsicht zu verlassen. In seiner verrückten Idee, den Weltmann zu spielen, beobachtete er sich fortgesetzt und studierte sich bis in seine geringste Betätigung. Dies hatte nur den einen Vorteil, dass er sich beim Frühstück, als er Frau von Rênal wiedersah, meisterhaft klug benahm.

Sie hingegen vermochte Julian nicht anzuschauen, ohne jedes Mal über und über rot zu werden. Und doch musste sie ihn immer wieder anblicken. Sie ward sich ihrer Haltungslosigkeit bewusst, aber ihre Versuche, sich zu beherrschen, verwirrten sie nur noch mehr. Julian sah sie ein einziges Mal voll an. Zuerst bewunderte Frau von Rênal seine Vorsicht, bald aber, als sie merkte, dass er sich mit diesem einen Blick begnügte, wurde sie besorgt. »Liebt er mich nicht mehr?« fragte sie sich. »Ach ja, ich bin recht alt für ihn. Zehn Jahre älter als er!«

Als man vom Esszimmer in den Garten ging, drückte sie Julian die Hand. In seiner Überraschung über diesen außergewöhnlichen Liebesbeweis blickte er sie verliebt an. Sie war ihm nämlich beim Frühstück ganz besonders hübsch erschienen. Mit geschlossenen Augen hatte er sie in nackter Schönheit wieder vor sich gesehen.

Sein zärtlicher Blick tröstete Frau von Rênal. Das befreite sie zwar nicht ganz von ihrer Besorgnis, aber was davon blieb, bewahrte sie so gut wie ganz vor dem Schuldgefühl ihrem Gatten gegenüber.

Der hatte nicht die leiseste Ahnung; aber auch Frau Derville nicht, die sich allerdings einbildete, ihre Freundin sei auf dem Wege zu unterliegen. Den ganzen Tag über machte sie ihr mit dem Mut und der Ehrlichkeit der Freundschaft allerlei halbverhüllte Anspielungen und malte ihr die Gefahr, der sie entgegenlief, in den grässlichsten Farben.

Frau von Rênal hatte nichts im Sinn als mit Julian allein zu sein. Sie sehnte sich danach, ihn zu fragen, ob er sie noch liebe. Trotz ihrer angeborenen Herzensgüte war sie ein paarmal nahe daran, ihrer Freundin begreiflich zu machen, wie lästig sie ihr war.

Abends im Garten wusste es Frau Derville geschickt einzurichten, dass sie zwischen Frau von Rênal und Julian zu sitzen kam. Die Liebende hatte im köstlichsten Vorgefühl seines Händedrucks geschwelgt, und nun konnte sie nicht einmal mit ihm reden.

Diese Misslichkeit erhöhte ihre Erregung. Und etwas quälte sie ganz besonders. Sie hatte Julian so harte Worte wegen seines unvorsichtigen nächtlichen Kommens gesagt, dass ihr bangte, er könne in der kommenden Nacht ausbleiben.

Sehr zeitig verließ sie den Garten und ging in ihr Schlafzimmer. Als sie sich vor Ungeduld nicht mehr halten konnte, schlich sie sich vor Julians Tür und horchte. Bei aller Besorgnis und trotz ihrer heißen Sinne wagte sie aber doch nicht, zu ihm hineinzugehen. Das wäre ihr dirnenhaft vorgekommen. Ein böses Sprichwort fiel ihr ein.

Da die Dienstboten noch nicht alle oben in ihren Schlafkammern waren, hielt sie es für angebracht, wieder in ihr Zimmer zu gehen. Sie harrte zwei weitere Stunden, die sich ihr wie zwei Jahrhunderte der Qual hindehnten.

Julian war seiner imaginären Pflicht viel zu treu, um nicht Zug für Zug auszuführen, was er sich vorgeschrieben hatte. Als es ein Uhr schlug, schlich er leise aus seinem Zimmer, vergewisserte sich, dass der Hausherr fest schlief, und erschien bei Frau von Rênal.

In dieser Nacht fand er bei seiner Geliebten mehr Glück, dieweil er nicht beständig an die Rolle dachte, die er sich anbefohlen hatte. Seine Augen sahen und seine Ohren hörten. Als Frau von Rênal klagte, sie sei zu alt, wurde er noch ruhiger.

»Ach, zehn Jahre bin ich älter als du. Wie kannst du mich da lieben?« sagte sie immer wieder, ohne dass sie damit mehr als ihren Kummer darüber offenbaren wollte.

Julian verstand ihr Leid nicht, aber er fühlte, dass es echt war, und darum verlor er seine Angst, lächerlich zu sein. Ebenso schwand sein törichtes Misstrauen, wegen seiner plebejischen Herkunft als Liebhaber zweiter Klasse zu gelten. Mit Julians wachsender Verliebtheit errang seine scheue Geliebte ihre Ruhe wieder und ein wenig Glück sowie die Fähigkeit, ihn zu beurteilen. Zu seinem Glücke war er in dieser Nacht von der Unnatur frei, die ihm das Beieinander der ersten Nacht wohl zu einem Siege, nicht aber zu einem Vergnügen gemacht hatte.

Wenn Frau von Rênal seinen Willen verspürt hätte, eine bestimmte Rolle zu spielen, so hätte diese traurige Entdeckung ihr für immerdar alles Glück genommen. Betrübt hätte sie darin die Folge des Altersunterschiedes zu erfahren vermeint.

Nach ein paar Tagen war Julian in der Hitze seiner Jugend sinnlos verliebt.

»Wahrlich«, gestand er sich, »sie ist engelsgut und unvergleichlich hübsch!«

Der Gedanke an seine Rolle entschwand ihm fast ganz. In einem Augenblick der Selbstvergessenheit gestand er Frau von Rênal sogar alle seine Kümmernisse. Diese Offenheit hob ihre Liebe zu ihm auf den Gipfel. Sie wagte die Frage, wessen Bild es gewesen, das ihm damals so große Sorge bereitet habe. Er schwur ihr, dass es sich um das Porträt eines Mannes gehandelt habe.

»So habe ich also keine glückliche Rivalin, auch in der Vergangenheit nicht!« rief sie voller Glückseligkeit.

Gewann sie auch die nötige Kaltblütigkeit zum Nachdenken, so schwand doch ihre Verwunderung nicht, dass es solch ein nie geahntes Glück überhaupt gab. Von neuem seufzte sie: »Ach, hätte ich Julian vor zehn Jahren kennengelernt, als ich noch wirklich hübsch war!«

Julian hegte gänzlich andre Gedanken. Im Grund war seine Liebe immer noch Ehrgeiz. Es war ihm ein Genuss, ihm, dem armen, elenden, verachteten Bauernjungen, ein so schönes und vornehmes Weib sein eigen zu nennen. Sein Entzücken angesichts ihrer Körperschönheit, seine Liebesworte und Liebkosungen beruhigten sie schließlich auch über den Altersunterschied. Hätte sie freilich die Lebenserfahrung gehabt, die eine Dreißigjährige in kultivierten Gegenden im Allgemeinen besitzt, so hätte ihr über die Dauer einer Liebschaft bangen müssen, die nur lebte, weil sie dem Erkorenen eine Überraschung und ein Paradies der Eigenliebe war.

Im Augenblicke, wo Julian seine Ehrsucht vergaß, bewunderte er voller Begeisterung an Frau von Rênal alles, sogar ihre Kleider und Hüte. Er wurde es nicht satt, ihr Parfüm einzuatmen. Er öffnete die Spiegeltür ihres Wäscheschrankes und staunte die schönen und eleganten Dinge darin stundenlang an. Seine Freundin stand dicht an ihn geschmiegt neben ihm und schaute ihm zu, wie er alle die Schmucksachen und duftigen Stoffe anstarrte, als sei es die Ausstattung seiner Braut, vor der Hochzeit ausgestellt.

»So einen Mann hätte ich heiraten sollen!« dachte sie wehmütig. »Welch eine Feuerseele! Mit ihm, das wäre ein wundervolles Leben geworden!«

Es war das erste Mal, dass Julian einen Blick in das schreckliche Arsenal der weiblichen Kriegskunst tun durfte. »Unmöglich«, meinte er bei sich, »gibt es in Paris noch erlesenere Dinge!« In solchen Momenten war sein Glück gegen jeden Einwand gefeit. Die naive Bewunderung und die Sinnlichkeit seiner Geliebten verscheuchten seine grauen Theorien über die Liebe, die ihn zu Beginn seiner Liebschaft zum Rechenkünstler und zur Karikatur gemacht hatten. Es gab Stunden, da er trotz seinem Hange zur Heuchelei holden Genuss darin fand, der Grande-dame, die ihn anbetete, seine Unwissenheit über tausend Kleinigkeiten des mondänen Lebens zu beichten. Er hatte das Gefühl, zu ihrer Vornehmheit emporgehoben zu werden. Sie ihrerseits fand eine süße geistige Wollust darin, dieses junge Genie, dem alle Welt eine glänzende Laufbahn prophezeite, in alle die kleinen Geheimnisse einzuweihen. Sogar der Landrat und selbst Valenod mussten ihn bewundern. Seitdem kamen sie ihr ein wenig gescheiter vor. Nur Frau Derville hütete sich, ähnliche Anerkennungen auszusprechen. Sie war außer sich über das, was sie vermutete und erriet; und als sie einsah, dass ihr guter Rat der Freundin, die buchstäblich den Kopf verloren hatte, nur unangenehm war, da reiste sie eines Tages von Vergy ab. Sie gab keinen Grund an, und Frau von Rênal fragte sie wohlweislich nicht danach. Sie vergoss ein paar Abschiedstränen, und alsbald war sie umso glücklicher. Dank der Abreise ihrer Freundin war sie fortan fast den ganzen Tag allein mit ihrem Geliebten.

Julian überließ sich umso lieber dem süßen Beieinander, als ihn jedes Mal, wenn er sich zu lange mit sich selbst beschäftigte, der fatale Vorschlag seines Freundes Fouqué beunruhigte. In den ersten Tagen dieses neuen Lebens gab es Momente, wo er, der Einsame, der nie geliebt hatte und nie geliebt worden war, ein so inniges Vergnügen darin fand, offenherzig zu sein, dass er nahe daran war, Frau von Rênal einzugestehen, dass bis dahin der Ehrgeiz das Leitmotiv seines Daseins gewesen war. Auch hätte er gern um Rat gefragt über die seltsame Versuchung, in die ihn Fouqués Angebot gebracht hatte, aber ein kleines Intermezzo verbot ihm jede weitere Aufrichtigkeit.

17. Kapitel

Eines Abends, beim Sonnenuntergang, saß Julian zusammen mit seiner Freundin hinten im Baumgarten, fern den lästigen Menschen, in Träumerei verloren. »Was so köstlich ist, wird das immerdar dauern?« dachte er bei sich. Eben hatte er über die Schwierigkeit nachgegrübelt, etwas in der Welt zu werden, und über die Sorgenlast geklagt, die den Kindern armer Leute die Knabenjahre jäh beendet und ihnen die ersten Jünglingsjahre verdüstert.

»Ach!« rief er aus, »Napoleon war der Jugend Frankreichs wirklich ein Gottgesandter! Wer wird ihn ersetzen? Was sollen ohne ihn die Unglücklichen machen, selbst die reicher sind als ich, deren Geld gerade langt, um sich eine gute Schulbildung zu gestatten, die aber nicht genug besitzen, um sich mit zwanzig Jahren einen mannhaften Platz zu erkaufen und von dort aus Karriere zu machen? Was man auch beginnen mag, die verhängnisvolle Erinnerung an den Kaiser lässt einen nimmermehr glücklich werden.«

Er seufzte tief auf. Da sah er, dass Frau von Rênal plötzlich eine betroffene, kühle, spöttische Miene zog. Julians Gesinnung dünkte sie lakaienhaft. Im Reichtum erzogen, vergaß sie immer wieder, dass der Geliebte nicht auch reich war. Sie liebte ihn tausendmal mehr als ihr Leben, aber einen richtigen Begriff vom Geld hatte sie nicht. Diesen Umstand ahnte Julian nicht. Aber ihr Mienenwechsel rief ihn in die Wirklichkeit zurück, und er besaß Geistesgegenwart genug, das Gesagte zu widerrufen und der Aristokratin, die so dicht neben ihm auf der Rasenbank saß, vorzumachen, dass er damit lediglich Dinge wiederholt habe, die er auf seinem Ausflug ins Gebirge bei seinem Freund, dem Holzhändler, gehört hätte. Fouqué sei ein ruchloser Räsoneur.

»Mein Gott, verkehren Sie doch nicht mehr mit solchen Leuten!« meinte sie, noch ein wenig im Tone der kühlen Zurückhaltung, die ihre vorherige Herzlichkeit so plötzlich verscheucht hatte.

Frau von Rênals Stirnrunzeln, oder vielmehr sein Ärger über seine Unvorsichtigkeit, war der erste Schlag gegen Julians Traumwelt. »Luise ist lieb und gut«, sagte er sich. »Sie ist stark verliebt in mich. Aber sie ist im feindlichen Lager erzogen. Diese Aristokraten müssen ja Angst haben vor jedem herzhaften Mann, der eine gute Bildung, aber nicht genug Geld hat, Karriere zu machen. Was würde aus all den Adligen, wenn uns Plebejern die Möglichkeit gegeben wäre, mit gleichen Waffen auf den Kampfplatz zu treten? Ich zum Beispiel, wenn ich Bürgermeister von Verrières wäre, ich, ein Idealist und ein redlicher Mensch (letzteres ist ja Rênal im Grunde auch!) … ich wollte diese Spitzbuben bald an die Luft gesetzt haben, diesen Vikar, diesen Valenod und wie sie alle heißen! Die Gerechtigkeit sollte in Verrières triumphieren! Die geistigen Fähigkeiten dieser Leute würden mir keine Hindernisse bereiten. Das Pulver haben sie alle miteinander nicht erfunden!«

Julians Glück war an diesem Tage nahe daran, beständig zu werden. Er brauchte nur offen und natürlich zu sein. Er hätte den Mut haben müssen, eine Schlacht zu liefern und dies auf der Stelle. Frau von Rênal war über Julians Rede zunächst betroffen, weil sie durch Mitglieder ihrer Gesellschaftsklasse oft hatte behaupten hören, das Emporkommen eines zweiten Robespierre wäre sehr wohl möglich, da so viele junge Leute aus den niederen Ständen viel zu viel Bildung hätten.

Frau von Rênals Verhalten blieb kühl. Julian kam es sogar außerordentlich kühl vor. In Wirklichkeit gesellte sich zu ihrem Abscheu vor Julians rebellischen Worten der Kummer, ihm ungewollt etwas Hässliches gesagt zu haben. Dieses Unbehagen spiegelte sich in ihrem Gesicht, das so voll Sonne und Unschuld war, wenn sie sich glücklich und dem Alltag fern wähnte.

Julian wagte sich nicht mehr recht in das weite Land seiner Träumereien. Nüchterner und nicht mehr so verliebt, hielt er es für besser, die Geliebte fortan nicht in ihrem Zimmer zu besuchen. Es sei vorsichtiger, wenn sie zu ihm käme. Wenn von den Dienstboten jemand sie nachts durch den Gang laufen sähe, so hätte sie ein Dutzend Möglichkeiten, sich herauszureden.

Allerdings hatte diese Änderung ihre Schattenseiten. Julian hatte sich von Fouqué Bücher geliehen, die er sich als angehender Theologe unmöglich beim Buchhändler besorgen konnte. Er wagte sie nur des Nachts in die Hände zu nehmen. Deshalb wäre er manchmal froh gewesen, wenn ihn die Geliebte nicht mit ihrem Besuch gestört hätte; das heißt: vor der Episode im Obstgarten war er in Erwartung der Liebesstunde gar nicht fähig gewesen zu lesen.

Er verdankte Frau von Rênal ein neues, gründlicheres Verständnis der Bücher. Er hatte den Mut gefunden, sie nach tausend Kleinigkeiten zu fragen, die nicht zu wissen den Horizont eines jungen Mannes, der nicht zur Gesellschaft gehört, arg beschränken, mag er noch so viel sogenannten gesunden Menschenverstand haben.

Diese Erziehung durch die Liebe einer im Übrigen unwissenden Dame war Julians Glück. Dadurch lernte er die Gesellschaft sehen, wie sie zurzeit war. Die Zustände, wie sie einstmals waren, vor zweitausend Jahren oder auch nur vor sechzig Jahren, zur Zeit Voltaires und Ludwigs XV., hatten seinen Blick verschleiert. Zu seiner unsagbaren Freude fiel es ihm jetzt wie Schuppen von den Augen. Nun begriff er endlich, was in Verrières vorging.

Im Vordergrunde der Ereignisse lag seit zwei Jahren ein Netz von Intrigen, das sich bis zum Regierungspräsidenten von Besançon hinsponn und in Paris vermöge eines Briefwechsels mit einer allmächtigen Persönlichkeit einen Rückhalt hatte. Es handelte sich darum, Herrn von Moirod, den größten Duckmäuser im ganzen Lande, in die Stelle des Vizebürgermeisters zu bringen. Sein Nebenbuhler bei der Wahl war ein steinreicher Fabrikant, der höchstens in die Stelle der zweiten Stütze des Bürgermeisters kommen sollte.

Jetzt verstand Julian auch die Anspielungen, die an sein Ohr gedrungen waren, wenn die Spitzen der Gesellschaft im Rênalschen Hause zum Diner erschienen. Diese gleichsam Privilegierten trafen weitgehende Wahlvorbereitungen, ohne dass die Allgemeinheit und besonders die Liberalen eine Ahnung davon hatten. Das Wichtigste bei der Sache war, wie stadtbekannt, die bevorstehende Verbreiterung der Hauptstraße von Verrières an der Ostseite um zwei Meter. Die Straße war nämlich Staatsstraße geworden.

Wenn nun Moirod, der drei Grundstücke besaß, die bei der Enteignung in Frage kamen, Vizebürgermeister wurde und demnächst – falls Herr von Rênal Landtagsabgeordneter wurde – Bürgermeister, so brauchte er nur ein Auge zuzudrücken. Dann waren an den Häusern, die der Straßenverbreiterung im Wege lagen, wohl ein paar unbedeutende Regulierungen vorzunehmen, sie konnten aber schließlich noch hundert Jahre stehenbleiben. Trotz Moirods großer Frömmigkeit und anerkannter Redlichkeit war man sicher, dass er kein Unmensch sein werde. Er war ja Familienvater. Von den übrigen Häusern, die zurückgerückt werden mussten, gehörten neun den ersten Familien in Verrières.

Diese Kleinwelt samt ihren Machenschaften erschien Julian mit einem Male weit wichtiger als der Bericht von der Schlacht bei Fontenoy, den er kürzlich als etwas ganz Neues in einem der Fouquéschen Bücher gelesen hatte. In den letzten fünf Jahren, seit er angefangen hatte, abends zum Pfarrer zu gehen, war er in einem fort auf Dinge gestoßen, die ihm Kopfzerbrechen verursachten. Aber da Stumpfsinn und Geistesarmut zu den Kardinaltugenden eines Theologie Studierenden gehören, so hatte er keinerlei Fragen stellen dürfen.

Die Zeit ging im Fluge dahin. Im Banne der Reize seiner Geliebten kam Julian von seinem finsteren Ehrgeiz ab. Der Zwang, in seinen Gesprächen mit ihr traurige und rein nützliche Dinge zu umgehen (weil die beiden nicht auf dem gleichen sozialen Boden standen), erhöhte, ohne dass er sich dessen bewusst ward, das Glück, das er Frau von Rênal verdankte, und zugleich die Macht, die sie über ihn gewann.

In den Stunden, da es die Gegenwart der aufgeweckten Kinder erheischte, sich in der Sprache kühler Vernunft zu unterhalten, lauschte Julian aufmerksam ihren Bemerkungen über die Gesellschaft und deren Räderwerk, wobei er sie mit funkelnden Augen ansah. Mitunter geriet Frau von Rênal inmitten ihrer Erzählung von einer durchtriebenen Betrügerei, die bei Gelegenheit eines Wegebaus oder einer Verdingung geschehen war, vermöge ihrer Lebhaftigkeit in die reinste Ekstase. Dann fand es Julian für angebracht, sie auszuschelten, dass sie ihn genauso zärtlich wie ihre drei Jungen behandle. In der Tat hatte sie häufig wirklich das Gefühl, er sei ihr Kind. Musste sie ihm doch fortwährend seine naiven Fragen über tausend einfache Dinge beantworten, die jeder Fünfzehnjährige aus guter Kinderstube längst weiß. Einen Augenblick später freilich bewunderte sie ihn wieder als ihren Herrn und Meister. Manchmal erschrak sie vor seinem Genie. Von Tag zu Tag glaubte sie in dem jungen Abbé den künftigen großen Mann deutlicher zu erkennen. Sie sah ihn als Papst, als Premierminister, als zweiten Richelieu. Einmal fragte sie Julian: »Ob ich deinen Ruhm und Glanz wohl erlebe? Platz für einen großen Mann ist da. Monarchie wie Kirche haben einen nötig.«

18. Kapitel

Am 3. September abends zehn Uhr setzte ein Gendarm, der die Hauptstraße hinaufgaloppierte, die ganze Stadt in Aufruhr. Er brachte die Kunde, dass Seine Majestät der König am nächsten Sonntag nach Verrières käme. Es war bereits Dienstag. Der Regierungspräsident gestattete – das hieß so viel wie: er befahl – die Aufstellung einer Ehrenwache. Der Empfang sollte so feierlich wie nur möglich werden.

Alsbald ward ein reitender Bote nach Vergy geschickt. Herr von Rênal traf noch während der Nacht in der Stadt ein. Die ganze Bürgerschaft war auf den Beinen. Jedermann hatte sein besonderes Anliegen. Wer nicht unmittelbar beteiligt war, mietete sich einen Balkon, um den Einzug des Königs zu sehen.

»Wer wird die Ehrenwache führen?« fragte man sich. Der Bürgermeister war sich sofort klar, dass es im Interesse der zu enteignenden Grundstücke war, wenn Herr von Moirod diesen Ehrendienst erhielt. Damit erleichterte man ihm die Anwartschaft auf den Posten des Vizebürgermeisters. An Moirods kirchlicher Gesinnung war nicht das geringste auszusetzen; die war über allen Zweifel erhaben. Aber er hatte noch nie auf einem Gaul gesessen. Er war ein Mann von sechsunddreißig Jahren und in jeglicher Beziehung ein Hasenfuß. Vor dem Herunterfallen fürchtete er sich genauso wie vor jeder sonstigen Lächerlichkeit.

Frühmorgens um fünf Uhr ließ ihn Herrn von Rênal zu sich bitten.

»Sie sehen, Herr von Moirod, ich hole Ihren Rat bereits ein, als hätten Sie schon den Posten, den Ihnen jeder Gutgesinnte wünscht. In unsrer Unglücksstadt kommt die Industrie bedenklich hoch. Die Liberalen werden Millionäre; sie trachten nach der Macht und wissen aus jedem Umstand gegen uns Waffen zu schmieden. Behalten wir das Wohl Seiner Majestät, der Monarchie und vor allem unsrer heiligen Kirche unentwegt im Auge… Sagen Sie mal, Verehrtester, wen könnte man am besten mit dem Kommando der Ehrenwache betrauen?«

Trotz seiner Heidenangst vor jedem Pferd nahm Moirod schließlich den Ehrenposten wie eine Märtyrerkrone an.

»Ich werde die Sache schon machen«, versicherte er dem Bürgermeister.

Man hatte gerade noch Zeit, die Uniformen instand zu setzen, die vor sieben Jahren gelegentlich des Durchzugs eines königlichen Prinzen angeschafft worden waren.

Um sieben Uhr früh kam Frau von Rênal mit den Kindern und dem Hauslehrer aus Vergy an. Sie fand ihren Salon voll von Damen der Liberalen, die von der Versöhnung der Parteien salbaderten und sie dringlichst baten, bei ihrem Gatten ein gutes Wort einzulegen, dass ihre Männer und Söhne zur Ehrenwache befohlen würden. Eine von ihnen behauptete: wenn ihr Mann nicht dazu käme, würde er aus Gram und Kummer Bankrott machen.

Frau von Rênal jagte die ganze Sippschaft zum Tempel hinaus. Sie hatte sichtlich besondre Gedanken. Julian war erstaunt, ja geradezu verstimmt, dass sie ihm nicht anvertraute, was sie so versonnen machte. Voll Bitternis sagte er sich: »Ich habe es immer gewusst. Vor dem Glück, den König in ihrem Hause zu empfangen, ist all ihre Liebe verflogen! Der Jahrmarktslärm benimmt ihr den Kopf. Sie wird mich erst dann wieder lieben, wenn die Ideen ihrer Kaste ihr Hirn nicht mehr verwirren.«

Und doch liebte er sie mehr denn je. »Welch Mirakel!« gestand er sich.

Die Tapezierer begannen sich im ganzen Hause breitzumachen. Lange lauerte Julian vergebens nach einer Gelegenheit, ihr ein paar Worte zu sagen. Endlich traf er sie, als sie gerade aus seinem Zimmer kam, einen seiner Röcke überm Arm. Sie waren allein. Er wollte sie anreden, aber sie entzog sich ihm, ohne ihn anzuhören. »Ich bin ein rechter Narr«, grollte er, »eine solche Frau zu lieben! Der Ehrgeiz macht sie genauso verrückt wie ihren Mann.«

In der Tat war sie es mehr denn er. Schon lange hegte sie den Herzenswunsch, ihren Julian, und sei es auch nur auf einen Tag, einmal nicht in seinem tristen schwarzen Rock zu sehen. Aus Angst, ihn zu kränken, wollte sie es ihm nur nicht gestehen. Mit wirklicher Verschmitztheit, wie man sie einer so natürlichen Frau gar nicht zutrauen sollte, verstand sie es, zuerst Herrn von Moirod und darauf den Landrat von Maugiron zu überreden, dass Julian mit in die Ehrenwache kam und somit fünf oder sechs reichen Fabrikantensöhnen vorgezogen wurde. Zwei von ihnen waren obendrein exemplarische Frömmler. Herr Valenod, der seine Kutsche ein paar schönen Damen zur Verfügung gestellt hatte, damit seine Normannen bewundert werden sollten, musste eins dieser Prachttiere an Julian abtreten, den er doch ingrimmig haßte.

Nun fehlte nur noch die Uniform. Sämtliche andern Ehrengardisten hatten feine eigene oder geliehene kornblumenblaue Waffenröcke mit Stabsoffiziersepauletten, deren Silberfransen allerdings nicht mehr so glänzten wie vor sieben Jahren. Frau von Rênal wollte Julian in einer neuen Uniform sehen. Vier Tage waren wenig Zeit, um Waffenrock, Schulterklappen, Hut, Säbel und alles, was sonst zur Ausstaffierung eines Ehrengardisten gehört, aus Besançon kommen zu lassen. Sie hielt es für wunder wie klug, alle diese Dinge nicht in Verrières zu bestellen. Julian und die Stadt sollten überrascht werden.

Nachdem die Frage der Ehrenwache und der öffentlichen Stimmung erledigt war, musste sich der Bürgermeister damit befassen, eine große kirchliche Feier in die Wege zu leiten. Karl X. wollte Verriéres nicht passieren, ohne der berühmten Reliquie des heiligen Clemens seinen Besuch abzustatten, die in Hohen-Bray aufbewahrt ward, einem kleinen Orte, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Ein zahlreicher Klerus sollte zugegen sein. Dies war aber keine einfache Sache. Maslon, der neue Pfarrer, wollte nichts davon wissen, dass man den alten Pfarrer Chélan heranzog. Vergeblich stellte ihm der Bürgermeister vor, dies sei unumgänglich. Der Marquis von La Mole, dessen Vorfahren so lange Zeit in dieser Gegend der Freigrafschaft geherrscht hatten, sei als Begleiter des Monarchen befohlen. Er kenne den Abbé Chélan seit dreißig Jahren. Es sei vorauszusehen, dass er bei seiner Anwesenheit in Verrières nach ihm frage, und wenn er von seiner Absetzung erführe, wäre er just der Mann, ihn in dem Häuschen, in das er sich zurückgezogen hatte, aufzusuchen. Er und das ganze Gefolge, über das er verfügte. Das wäre eine Riesenblamage!

»Wenn Chélan unter meinem Klerus erscheint«, jammerte der Abbé Maslon, »dann ist es um mein Ansehen hier und in Besançon geschehen! Ein Jansenist! Großer Gott!«

»Das ist alles schön und gut«, erwiderte ihm Herr von Rênal, »aber ich habe keine Lust, die Behörde der Stadt Verrières der Gefahr auszusetzen, eine scharfe Bemerkung des Herrn Marquis einstecken zu müssen. Sie kennen ihn nicht. Bei Hofe vermickst er sich nicht, aber hier in der Provinz ist er Witzbold, Spötter. Er bringt die Leute gern in Verlegenheit. Er ist imstande, uns vor den Liberalen lächerlich zu machen, bloß um seinen Spaß daran zu haben.«

Erst in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, nach drei Tagen des Hin- und Herredens, beugte sich der hochmütige Geistliche vor der zu Mut gewandelten Angst des Stadtoberhauptes. Der Pfarrer Chélan bekam einen honigsüßen Brief, in dem er gebeten ward, dem feierlichen Akt vor der Reliquie von Hohen-Bray beizuwohnen, wenn dies ihm bei seinem hohen Alter und seiner schwachen Gesundheit möglich wäre. Chélan sprach daraufhin den Wunsch aus, Julian als Subdiakon in seiner Begleitung zu haben. So erhielt auch Julian eine Aufforderung, der Zeremonie beizuwohnen.

Am Sonntag Vormittag fluteten Tausende von Landleuten, die aus den nahen Bergen kamen, durch die Straßen von Verrières. Es war herrlicher Sonnenschein. Gegen drei Uhr erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Auf einer Höhe, eine Wegstunde vor der Stadt, loderte ein gewaltiges Feuer auf. Das war das Zeichen, dass Seine Majestät die Grenze des Regierungsbezirks überschritten hatte. Alsbald begannen überall die Glocken zu läuten, und die alte spanische Kartaune, die der Stadt gehörte, gab zur Feier des großen Ereignisses Salutschüsse ab. Die Hälfte der Einwohnerschaft war auf die Dächer gestiegen. Alle Balkons waren voller Damen.

Die Ehrenwache setzte sich in Bewegung, um den König einzuholen. Alles bewunderte die schmucken Uniformen. Man erkannte in dem und jenem Reiter Verwandte und Bekannte. Die Ängstlichkeit Moirods, der alle Augenblicke mit der Hand nach dem Sattelknopf fuhr, erregte Heiterkeit. Etwas aber übte die allergrößte Wirkung auf die schaulustige Menge aus. Man erblickte im Flügelmanne der neunten Rotte der Ehrengarde, einem bildhübschen überschlanken Burschen, der auf einem der stadtbekannten Valenodschen Pferde saß: den kleinen Sorel, den Müllersjungen! Erst hatte man ihn übersehen. Jetzt erkannte man ihn unter Ausrufen der Entrüstung oder unter dem Schweigen der Verblüffung. Das war allgemein eine Sensation. Man schimpfte auf den Bürgermeister, zumal bei den Liberalen. Es sei unglaublich! Weil dieser Handwerkerjunge im Pfaffenrock der Schulmeister seiner Schlingel war, habe Rênal die Unverschämtheit, ihn in die Ehrenwache zu stecken, zur Benachteiligung soundso vieler reicher Fabrikantensöhne!

Die Ehefrau des Bankiers von Verrières meinte: »Man sollte diesem im Dreck geborenen Frechdachs eine ordentliche Lektion erteilen!«

»Er ist hinterlistig und trägt einen Säbel!« warnte ihre Nachbarin. »Er ist imstande und haut zu!«

Schlimmer noch waren die Vorwürfe der adligen Gesellschaft. Die Damen fragten sich, ob der Herr Bürgermeister wohl allein an dem großen Missgriff schuld wäre. Eines erkannte man allgemein an: dass er den Standesunterschied nicht hatte gelten lassen.

Derweile war das Opfer all der Klatscherei der glücklichste Mensch der Welt. Von Natur beherzt, saß Julian besser zu Pferde als die meisten jungen Leute der Gebirgsstadt. Dass man über ihn sprach, ersah er aus den Augen der Frauen. Seine Epauletten funkelten in ihrer Neuheit. Zu seiner besonderen Freude machte sein Pferd alle Augenblicke Kapriolen; und schier grenzenlos war sein Übermut, als beim Vorüberreiten am Alten Wall das alte Geschütz losdonnerte und der Gaul aus Reih und Glied brach. Es war Zufall, dass Julian im Sattel blieb. Von diesem Augenblick an hatte er das Gefühl, ein Held zu sein. Es war ihm, als sei er ein Ordonnanzoffizier Napoleons, der einer feuernden Batterie Befehl überbrachte.

Jemand war noch glücklicher als er: Frau von Rênal. Zuerst hatte sie ihn von einem Fenster des Rathauses aus vorbeireiten sehen. Dann war sie schnell in den Wagen gestiegen und hatte auf einem Umweg durch seitliche Straßen den Zug überholt. Sie kam gerade zurecht, um zu ihrem Schreck zu sehen, wie Julians Pferd ausbrach. Zu guter Letzt gelangte sie im stärksten Trab durch ein andres Stadttor auf die Landstraße, auf der Seine Majestät kommen musste. Ihr Wagen fuhr nun dicht hinter der trabenden Ehrenwache, in einer anständigen Staubwolke.

Vor der Stadt hatte der Bürgermeister die Ehre, den König mit einer Ansprache zu begrüßen. Zehntausend Bauern brüllten mit: »Es lebe der König!« Eine Stunde später hielt er in der Stadt seinen Einzug. Wiederum donnerten die Salutschüsse des alten Geschützes vom Wall herab. Dabei passierte ein Malheur, nicht den Kanonieren, die ihre Feuerprobe bei Leipzig und Montmirail bestanden hatten, wohl aber dem Vizebürgermeister in spe, Herrn von Moirod, den sein Gaul sanft in die einzige Pfütze beförderte, die auf der Hauptstraße vorhanden war. Das war besonders peinlich, weil der königliche Wagen erst weiterfahren konnte, als man Moirod auf die Beine geholfen hatte.

Karl X. verließ seine Kutsche an der schönen neuen Kirche, die an diesem Tage im vollen Schmuck ihrer karmesinroten Behänge prangte. Dann sollte der König das Mittagsmahl einnehmen und unmittelbar darauf nach Hohen-Bray fahren, um die berühmte Reliquie des heiligen Clemens zu besuchen. Kaum war er in die Kirche eingetreten, da ritt Julian im Galopp nach dem Rênalschen Hause. Dort legte er seufzend seinen Säbel ab, zog den schmucken kornblumenblauen Waffenrock samt den Schulterklappen aus und kroch wieder in seinen tristen schwarzen Rock. Dann saß er von neuem auf und war in wenigen Minuten in Hohen-Bray, das auf einem anmutigen Hügel thront. »Die Begeisterung stampft Bauern aus der Erde!« scherzte Julian. »In Verrières stehen sie knüppeldick, und um die alte Abtei hier nicht minder!« Die Abtei war durch das Vandalentum der Revolution halb zerstört, in der Restaurationszeit aber prächtig wiederhergestellt worden. Man begann auch bereits von Wundern zu fabeln.

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9783961180882
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