Читать книгу: «Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit», страница 7

Шрифт:

4.3 Adressat: RessourceneinsatzRessourceneinsatz

Switchen wir jetzt auf die Seite des Adressaten, der mit einem Text konfrontiert wird. Seinen Anteil an der Verständlichkeit hat schon die traditionelle Hermeneutik erkannt. Um wichtige – ursprünglich mythologische, religiöse und juristische Texte – zu verstehen und zu interpretieren, hat sich seit der Antike die Wissenschaft der Hermeneutik herausgebildet. Sie hat eine sehr interessante Geschichte hinter sich: als Methode der InterpretationInterpretation, als Grundlegung der Geisteswissenschaft bis zu einer universalen Theorie des Verstehens (Scholz, 2016). Hermeneutische, psychologische und linguistisch-pragmatische Ansätze benutzen zwar eine unterschiedliche Terminologie, aber inhaltlich gibt es viele Überschneidungen, auf die wir im Folgenden aufmerksam machen.Sachtext1 In den aktuellen Theorien des Verstehens spielt die Hermeneutik nur eine marginale Rolle in geistreichen Fußnoten und Exkursen.

Hermeneutische Voraussetzungen

Martin Scholz hat in seiner Aufarbeitung der Frühgeschichte der Hermeneutik aufgedeckt, dass bereits im 18. Jahrhundert Regeln der InterpretationInterpretation aufgestellt wurden. So postuliert der Philosoph und Theologe Christian August Crusius vier PräsumptionenPräsumption, also Voraussetzungen, mit denen ein Interpret an einen Text herangehen soll (Scholz, 2016, S. 49/50, S. 159).

 PräsumptionPräsumption der Konsistenz. Der Adressat geht davon aus, dass der Text in sich konsistent ist und keine Widersprüche enthält.

 PräsumptionPräsumption der Deutlichkeit. Der Adressat unterstellt, dass ein Autor sich Mühe gibt, verständlich zu formulieren, um verstanden zu werden: „daher präsumiret man auch von ihm, daß er mit dem Sprachgebrauch rede, und daß er Dunkelheit und Zweideutigkeit verhüte. Denn es ist der natürliche Zweck der Rede, daß man verstanden sein will“ (zitiert nach Scholz, 2016, S. 49).

 PräsumptionPräsumption der Zweckrationalität. Hier werden das Kooperationsprinzip und die Maxime der Relation bzw. Relevanz von Grice vorweggenommen: Ein Beitrag soll dem allgemeinen Zweck, also den geteilten Intentionen der Kommunikationspartner dienen.

 PräsumptionPräsumption der Zustandsgemäßheit. Diese Unterstellung muss man wohl so verstehen, dass das Geschriebene dem derzeitigen Zustand des Autors entspricht. Das entspricht dem Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit bei Habermas.

Es fällt auf, dass die PräsumptionenPräsumption wieder an die Rationalität gekoppelt sind: Ein vernünftiger Interpret handelt nach einem hermeneutischen „principle of charity“, das dem Autor und seinem Text wohlwollend und nachsichtig entgegenkommt. Der amerikanische Philosoph Donald Davidsons formuliert später ein globales Rationalitätsprinzip: „Interpretiere die fremde Person als rationale Person“ (zitiert nach Scholz, 2016, S. 117). Zwar sind die Präsumptionen grundsätzlich als widerlegbar gedacht, immer wieder wird die Klausel „bis zum Nachweis des Gegenteils“ beschworen. Wer aber an der Rationalität seines Gegenübers zweifelt, bei dem liegt auch die Beweislast. Ein Problem bleibt ungelöst: Welche konkreten Kriterien gibt es, um festzustellen, dass ein Autor sich nicht um Verständlichkeit bemüht, nicht aufrichtig ist und lügt oder gar verwirrt und unzurechnungsfähig ist? Die geforderte Nachsicht hat sicher ihre Grenzen: Zu viele unscharfe Begriffe, Widersprüche, Mehrdeutigkeiten, Fehlschlüsse, Inkonsistenzen, dunkle Passagen, Inkohärenzen usw. wird man auch bei aller hermeneutischen EmpathieEmpathie keinem Textproduzenten durchgehen lassen.

Als methodisches Prinzip ist es sicher sinnvoll, nicht bei jedem unverstandenen Satz sofort an den Fähigkeiten des Absenders zu zweifeln, sondern sich um ein Verstehen zu bemühen. Das Prinzip hat heuristische Funktion, es soll bewirken, unvoreingenommen und offen für neue Einsichten zu bleiben. Die PräsumptionenPräsumption werden als konstitutiv für das Interpretieren angesehen, allerdings wird das Gelingen des Verstehens den Adressaten aufgebürdet, während die Absender mit großem Wohlwollen und Vertrauensvorschuss behandelt werden.

Die Spirale des VerstehensSpirale des Verstehens

Hermeneutiker haben zwar die Verstehensprozesse nicht im Detail untersucht, wie heute die Psycholinguistik und die Kognitionspsychologie, aber sie haben eine Theorie entwickelt, wie ein Text im zeitlichen Verlauf verstanden und interpretiert wird.

1. Ausgangspunkt ist die hermeneutische Differenzhermeneutische Differenz, der Unterschied zwischen Absender und Adressat. Zwischen beiden können historische, gesellschaftliche und sprachliche Unterschiede bestehen. In unserem Modell stecken diese Differenzen in den nur teilweise geteilten Intentionen und Wissensbeständen. Diese Differenz taucht bei vielen Hermeneutikern auf: Wilhelm Dilthey spricht von einer „Verfremdung“, Hans-Georg Gadamer sieht die Hermeneutik „zwischen Fremdheit und Vertrautheit“, Paul Ricœur spricht von einer „distanciation“.

2. Wir gehen immer schon mit einem gewissen VorverständnisVorverständnis an einen Text heran, mit dem wir ihn zu verstehen suchen (Kümmel, 1965). Dieses Vorverständnis wird sich teilweise bestätigen, teilweise muss es aufgrund der Lektüre verändert werden. Das Textverständnis erweitert und modifiziert das Vorverständnis, mit dem weitergelesen wird usw. (Bild 4). Beim Verstehen schriftlicher Texte durchläuft der Lesende einen hermeneutischen Zirkel, oder besser eine hermeneutische Spirale (Bolten, 1985; Stegmüller, 1996). Dabei geht es um das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen auf zwei Ebenen: Wir verstehen ein Wort im Kontext des Satzes, einen Satz im Kontext des Gesamttextes, dieser Gesamttext aber setzt sich aus den zu verstehenden einzelnen Sätzen zusammen. Aufgelöst wird diese Zirkularität durch das fortlaufende Lesen, da die Lektüre jedes Satzes das Verstehen des Gesamttextes erweitert, was wiederum auf das Verstehen der folgenden Sätze zurückwirkt (Dilthey, 1981). Das ist eine Beschreibung des kontinuierlichen Zusammenwirkens von textgeleiteten und wissensgeleiteten Verstehensprozessen, das schließlich zu einem Verständnis führt, das aber grundsätzlich vorläufig ist. Denn der Prozess der InterpretationInterpretation ist nie abgeschlossen, ein Text kann immer wieder neu gelesen und neu interpretiert werden. Das gilt vor allem für literarische Texteliterarischer Text, denn sie sind grundsätzlich für verschiedene Interpretationen offen (Eco, 1999), aber auch Sach- und Gebrauchstexte bleiben davon nicht verschont: So lesen wir heute z.B. die Bücher von Charles Darwin oder Sigmund Freud mit einem anderen Vorverständnis als ihre Zeitgenossen.

3. Ein Problem stellt die Validität (Gültigkeit) einer InterpretationInterpretation dar. Sind grundsätzlich alle Interpretationen gleichwertig, oder gibt es Kriterien für mehr oder weniger adäquate Verständnisse (Rusterholz, 1979)? Eine Interpretation kann auch einen Text bzw. den Autor bzw. die Autorin vergewaltigen, indem Deutungen unterstellt werden. Susan Sontag (2016) spricht in ihrem Essay „Against Interpretation“ von aggressiven und pietätlosen Interpretationen, die einen Text für eine Theorie oder Weltanschauung vereinnahmen.

Die hermeneutische Theorie verlagert das Problem der Verständlichkeit auf die Adressaten. Sie müssen Verstehensarbeit leisten, während den Autoren erstaunlich viel Nachsicht entgegengebracht wird. Einen Freibrief zum Formulieren bekommen die Textproduzenten allerdings nicht, auch Crusius verlangt mit der Präsumption der Deutlichkeit, dass sich ein Textproduzent verständlich für die Adressaten ausdrückt. Damit ist seine Hermeneutik nicht weit von unserem kommunikativen Ansatz von Verstehen und Verständlichkeit entfernt.

Bild 4:

Unser Vorverständnis (1. VV) beeinflusst das Textverstehen (1. TV), dieses wirkt wieder auf das Vorverständnis (2. VV) zurück, mit dem wir dann weiterlesen usw. Der hermeneutische Zirkel wird zur Spirale, sobald wir eine Zeitachse einziehen.

4.4 Probleme der Verständlichkeit

„Nichts ist leichter, als so zu schreiben, dass kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, dass jeder sie verstehen muss“, so ein Diktum von Arthur Schopenhauer (1986, S. 552). Warum gibt es schwer verständliche Texte? An dieser Stelle ist ein kurzer Blick auf die Kehrseite des Verstehens notwendig, auf die Fälle, in denen die Verstehensbemühungen scheitern. Drei Störfälle des Verstehens und der Verständlichkeit lassen sich unterscheiden: UnverständlichkeitUnverständlichkeit, SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit, MissverständlichkeitMissverständlichkeit.

UnverständlichkeitUnverständlichkeit

Ein völliges Unverstehen ist z.B. der Fall, wenn man einen Text in einer fremden Sprache (fehlendes Kodewissen) oder über eine völlig unbekannte Wissensdomäne (fehlendes Weltwissen) liest. Ob es in der mündlichen Kommunikation einen „complete communicative breakdown“ geben kann, lässt sich bezweifeln, da über paraverbale Zeichen immer eine teilweise Verständigung möglich ist. Meist haben wir es mit einem partiellen Nichtverstehen zu tun, denn nur ein Teil der Mitteilung bleibt unverständlich oder nur eine Ebene des Verstehens ist betroffen.

MissverständlichkeitMissverständlichkeit

Dies ist der kommunikativ heikelste Fall, denn der Adressat glaubt verstanden zu haben, aber der Absender hat es anders gemeint. Marcus Friedrich (2017, S. 24) spricht treffend von einem Scheinverstehen. Im Alltag kann man aneinander vorbeireden. In der mündlichen Kommunikation wird Scheinverstehen entdeckt, wenn ein manifestes Missverständnis auftaucht: „So habe ich das doch gar nicht gemeint!“ Durch Rückmeldungen kann es schneller ausgeräumt werden als in der schriftlichen Kommunikation (Falkner, 2007). Tückisch ist das unbemerkte Missverstehen, weil es als vermeintliches Verstehen getarnt ist (Hinnenkamp, 1998). Die Grenzen zwischen Verstehen und Scheinverstehen sind fließend.

SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit

In vielen Fällen verläuft das Verstehen spontan und automatisch. Kommt es aber ins Stocken, müssen wir Verstehensarbeit leisten, d.h. mentale Ressourcen einsetzen. In diesem Fall sprechen wir von schwer verständlichen Mitteilungen. SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit resultiert aus der KomplexitätKomplexität der Sache oder der Art der Formulierung. Das Letztere ist dann ein Fall für die Praxis der TextverständlichkeitVerständlichkeitText-.

Es gibt auch Verteidiger schwer verständlicher Texte, deren Argumente in unserem Kontext durchaus interessant sind. Es werden in verschiedenen Variationen drei Argumente vorgebracht (Ballstaedt, 2016):

Das inhaltliche Argument. Die Wirklichkeit ist so komplex, dass sie sich nicht mit einfachen Wörtern und einfachen Satzkonstruktionen ausdrücken lässt. Mit diesem Argument verteidigt der Philosoph Johann Hamann (1730-1788) seine dunkle Prosa, hier theologisch eingefärbt: Da die Welt nur Gott und nicht dem Menschen verstehbar ist, kann ein Mensch über sie auch nicht verständlich schreiben. Die Texte spiegeln sozusagen die Nichtverstehbarkeit der Welt für den Menschen. UnverständlichkeitUnverständlichkeit wird hier als Protest gegen die Aufklärung und deren Forderung, sich klar auszudrücken, verstanden. Denn Aufklärer fordern eine klare und verständliche Sprache, z.B. Jean Lerond d’ Alembert (1717-1783) für die Enzyklopädie. Auch die deutschen Aufklärer fordern einen verständlichen Schreibstil, der auch außerhalb des akademischen Elfenbeinturms verstanden wird. Friedrich Nicolai (1773, S. 121), ein Vertreter der Berliner Aufklärung, beklagt, dass die Schreibenden in Deutschland nur auf sich selbst und „auf den gelehrten Stand“ bezogen sind und die übrigen Menschen verachten. Noch schärfer geht Christian Garve (1796, S. 343) mit den Schreibenden ins Gericht. Er verlangt „Klarheit und Leichtigkeit des Styls“ und lässt das beliebte Argument nicht gelten, dass Tiefe und Gründlichkeit mit Unverständlichkeit erkauft wird, im Gegenteil: „Man kann also mit Recht sagen, daß der höchste Grad der Vollkommenheit und Ausbreitung philosophischer Ideen dann erst erreicht ist, wenn sie sich allen Menschen von gebildetem Verstande, auf eine leichte Art, mitteilen lassen.“ In dieselbe Kerbe schlägt Georg Christoph Lichtenberg (1971, S. 157): „Die simple Schreibart ist schon deshalb zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken künstelt und klügelt.“ Er spottet über Autoren, die ihre „gelehrte Notdurft auf Papier verrichten.“ Dies sind klare Worte gegen einen schwer verständlichen akademischen Imponierstil, der insbesondere in Deutschland bis heute gepflegt wird und zur Sozialisation in einige Disziplinen gehört (Groebner, 2012). Bei den Adressaten wird eine unverständliche Sprache als Ausdruck von Expertise oder Intelligenz aufgefasst. Doch KomplexitätKomplexität ist nicht Kompliziertheit!

Das didaktische Argument. Dieses Argument wird gern mit pädagogischem Zeigefinger vorgetragen: Man darf es den Lesenden nicht zu einfach machen, schwierige Texte führen zu tieferer Verarbeitung. So wünscht sich Hamann Adressaten, die wiederkäuend lesen und sich durch den Text zum Denken anregen lassen. Lesen wird hier zwar als ein kreativer, kein rezeptiver Akt gesehen, aber die Verantwortung für das Verstehen wird völlig auf die Seite der Lesenden abgeschoben. Der oder die Schreibende braucht sich nicht um Verständlichkeit zu bemühen, im Gegenteil: UnverständlichkeitUnverständlichkeit wird geradezu als Voraussetzung für Verstehen gesehen, sozusagen als produktiver Trigger für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Text (Schumacher, 2000). Unter bildungspolitischem Aspekt ist dieses Argument indiskutabel, vor allem, da es oft nur ein kleiner Schritt dazu ist, die Adressaten als unverständig oder dumm abzustempeln (Pogarell, 1999).1

Das ästhetische Argument. SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit bereitet intellektuell anspruchsvollen Adressaten einen ästhetischen Genuss. Dies betrifft vor allem literarische Texteliterarischer Text, da bietet sich dieses Argument an. Keiner wird von Thomas Mann oder Thomas Bernhard einfordern, dass sie verständlich schreiben sollen. Norbert Groeben (1982, S. 152) nennt Verständlichkeit ein „Un-Kriterium für literarische Texte“. Für Verstehensprobleme werden gern rhetorische StilmittelStilmittel wie Metaphern, Ironie und Allusionen (= Anspielungen) verantwortlich gemacht, die eben manchen Lesenden überfordern. Das ästhetische Argument gilt aber sicher nicht für Sachtexte.

Alle drei Argumente haben eine gewisse Plausibilität, aber sie verschweigen die dunkeln Seiten der SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit, diese dient oft der Verschleierung und Abschottung.

AbschottungAbschottung. SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit kann als Mittel der sozialen Abgrenzung eingesetzt werden. So schreibt Friedrich Nietzsche im 381. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“: „Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers – er wollte nicht von ‚irgend jemand‘ verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mitteilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen die anderen seine Schranken.“ (Nietzsche, 1981, S. 256) Schwerverständlichkeit ist hier eine elitäre Strategie, sich nur Gleichgesinnten mitzuteilen und andere auszuschließen. Eine vergleichbare sektiererische Einstellung findet man in den „Schwarzen Heften“ von Martin Heidegger (2014): „Künftig muss das Unverständliche gewagt werden: jedes Zugeständnis an Verständlichkeit ist schon Zerstörung.“ Noch ein Zitat: „Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie“. Hiermit wird Kommunikation bewusst verweigert und nur Eingeweihte dürfen in den Elfenbeinturm des Philosophen eintreten. Schwerverständlichkeit wird zum Statussymbol.

VerschleierungVerschleierung. Immer wieder wurde der Verdacht geäußert, dass schwer verständliche Texte nur eine Schwäche der Argumentation verdecken sollen. Wer klar denkt, der kann sich auch klar ausdrücken. Wer verschwurbelt schreibt, der denkt auch so. Es gibt die „intendierte SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeitintendiert“ (Göpferich, 2002, S. 226), bei der durchaus gewollt ist, sich unverständlich auszudrücken, weil man eigentlich wenig zu sagen oder etwas zu verschweigen hat. Schwer verständliche Texte benötigen dann Vermittler wie Exegeten, Pressesprecher, Übersetzer, Kommentatoren usw., die eine Interpretationshoheit beanspruchen. Schwerverständlichkeit haftet oft etwas Esoterisches und Sektiererisches an.

Machtausübung. UnverständlichkeitUnverständlichkeit verweist auf eine verdeckte Machtausübung in Politik, Religion oder Recht, denn schwierige Texte führen zu einem Deutungsprivileg einer sozialen Gruppe (Enzensberger, 2004). SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit von theologischen, philosophischen oder juristischen Texten führt zu Berufen, die für die InterpretationInterpretation bzw. AuslegungAuslegung zuständig sind, Juristen, Theologen oder Philologen (hermetische Hermeneutik). Ausgerechnet in der Politik dienen schwer verständliche Texte oft dazu, Interessen zu verschleiern und sich vor konkreten Äußerungen zu drücken: Schwerverständlichkeit begründet eine Abhängigkeit von Experten und Ratgebern.

Auf Seiten des Adressaten gibt es allerdings auch den Fall, dass er nicht verstehen kann oder will: „Doch was, wenn mein Gesprächspartner mich nicht verstehen kann, aus intellektuellen oder psychischen, aus kulturellen oder gesundheitlichen Gründen oder weil ihm einfach ein paar Informationen über mich fehlen? Was, wenn ich mein Gegenüber nicht verstehen will, weil mich kulturelle Vorurteile leiten, ich die Person nicht ausstehen kann oder sie dominieren will, weil mir der gute Wille zum Verstehen einfach fehlt?“ (Schulte, 2013). In der schwarzen RhetorikRhetorik wird sogar empfohlen, den Absender absichtlich misszuverstehen, z.B. empfiehlt Arthur Schopenhauer (2009, S. 61) diesen Kunstgriff: „Man erzwingt aus dem Satze des Gegners durch falsche Folgerungen und Verdrehung der Begriffe Sätze, die nicht darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind.“

4.5 Texte verständlich machen

Eine Verbesserung der schriftlichen Kommunikation ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen erwünscht, sie sind im Kapitel 1 aufgezählt. Da das 11. Kapitel ausführlich die Evaluation und Optimierung der Verständlichkeit behandelt, werden hier nur drei Szenarien angeführt. Wer die Verständlichkeit in der schriftlichen Kommunikation verbessern möchte, der kann an drei Komponenten der Kommunikation ansetzen: auf der Seite des Absenders, auf der Seite des Adressaten oder am Text selbst.

SchreibtrainingSchreibtraining. Hier geht es um Schulung im adressatenorientierten und verständlichen Schreiben durch Handreichungen und Schreibwerkstätten, um die Schreibfähigkeiten von Autorinnen und Autoren zu verbessern. Dieser Ansatz ist in der Ausbildung für Berufe mit professioneller Vermittlungsfunktion unverzichtbar. Für einige Arbeitsfelder liegen Handreichungen (GuidelinesGuidelines) für verständliches Schreiben vor, z.B. für technische Dokumentation (Baumert & Verhein-Jarren, 2012), für journalistische Beiträge (Häusermann, 2005), für amtliche Schreiben (Brettschneider et al., 2012), für Public Relations (Ebert, 2014). Auch für die besonders schwierige Gruppe der Wissenschaftler gibt es Schreibanleitungen (Bünting, Bitterlich & Pospiech, 2004; Moll & Thielmann, 2017). Zusätzlich ist eine Unterstützung und Kontrolle des Schreibens durch elektronische Tools möglich, z.B. Style Checker, die auf die stilistischen Schwächen eines Autors eingestellt sind, etwa zu lange Sätze oder viele Passivsätze (dazu Kap. 12.5). Fernziel ist eine Workbench zum Schreiben, ein Softwarepaket, das „den Schreibaktivitäten und Gewohnheiten der jeweiligen TextschreiberInnen angepaßt ist bzw. anpaßbar ist“ (Rothkegel, 1995, S. 179).

TextoptimierungTextoptimierung. Liegt bereits ein formulierter Text vor, kann seine Verständlichkeit für die Adressaten eingeschätzt werden. Dazu dienen Verfahren der Textevaluation, wie z.B. Verständlichkeitsformeln, Checklisten, Expertenratings oder Usability-Tests (ausführlich Kap. 11). Aufgrund der Ergebnisse überarbeitet der Autor oder ein Experte den Text, z.B. ein Wissenschaftsredakteur oder eine Lektorin. Der Text wird sozusagen an die Adressaten angepasst. Der Textexperte muss dabei den Text erst verstehen und eventuell interpretieren, bevor er eine verständlichere Formulierung vorschlagen kann. Dieses Szenario der Textoptimierung impliziert eine theoretische Voraussetzung: Es gibt synonyme Texte, derselbe Inhalt lässt sich in verschiedener sprachlicher Verpackung ausdrücken, so dass eine Variante durch die andere ohne semantischen Verlust substituiert werden kann. Diese Prämisse wird nicht nur von Sprachwissenschaftlern (z.B. Biere, 1989), sondern auch von der Translationstheorie zurückgewiesen. Jedes andere Wort oder jede andere Satzkonstruktion ist gegenüber dem Inhalt nicht neutral und hat einen Einfluss auf das Verstehen und Interpretieren. Eingriffe in den Text können das Verstehen erleichtern, aber auch die ursprüngliche Aussage des Textes verfälschen. Die meisten Richtlinien zur Textoptimierung empfehlen dennoch die Ersetzung eines Wortes oder eines Satzes durch einen anderen. Das ist die Ersetzungungstaktik, aber es gibt als Alternative die ErgänzungstaktikErgänzungstaktik. Dabei bleibt der Text unberührt, wird aber mit Erschließungshilfen flankiert, z.B. Vorstrukturierungen, Zusammenfassungen, Glossar (ausführlich Kapitel 9).

Lese- und Verstehenstraining. Da Verständlichkeit kein alleiniges Merkmal des Textes ist, kann in der schriftlichen Kommunikation auch ein Beitrag des Adressaten eingefordert werden. Das beginnt damit, dass ihm zugemutet werden kann, eine Textpassage oder einen ganzen Text wiederholt zu lesen, wenn er sie bei der ersten Lektüre nicht verstanden hat. Denkt man dabei an die hermeneutische Spirale, ist das sogar eine Voraussetzung für tieferes Verstehen, denn das Verständnis des Ganzen wirkt auf das Verstehen der Teile zurück. Die aktive Auseinandersetzung mit einem Text kann zusätzlich durch Techniken der Aneignung gefördert werden. Bei diesem Ansatz werden die Verstehensfähigkeiten bzw. Lesekompetenzen der Adressaten trainiert, es geht um Techniken der Texterschließung (Schnotz & Ballstaedt, 1995). Hier werden nicht die Texte an die Adressaten, sondern die Adressaten an die Texte angepasst. Der Ansatz bei den Adressaten ist sinnvoll, wenn z.B. klassische Texte vorliegen, in die nicht durch TextoptimierungTextoptimierung eingegriffen werden darf. Das VorverständnisVorverständnis ist schwer zu verändern, aber es können Techniken eingeübt werden, die das Verstehen durch die bessere Nutzung von Ressourcen verbessern. Zu diesen Lese- und Lerntechniken gehören: Anstreichen, Gliedern, Exzerpieren, Zusammenfassen, Visualisieren, Fragen stellen, Beispiele suchen u. v. m. (Keller, 2005; Mandl & Friedrich, 2006). Die Wirkung derartiger Techniken ist empirisch erprobt, es bleibt allerdings aufwendig, sie durch Übungen zu vermitteln. Einzelne Techniken wurden zu LesestrategieprogrammenLernstrategieprogramm zusammengefasst, z.B. die PQ4R-Methode (Thomas & Robinson, 1972): Preview, Question, Read, Reflect, Recite, Review. Das Verstehen wissenschaftlicher Texte kann durch Training der metakognitiven Fähigkeiten gefördert werden, d.h. der Einschätzung der eigenen Verstehensleistung (Wiley & Sanchez, 2010). Analog zu den Schreibwerkstätten kann es Lesewerkstätten geben, wie z.B. Lektüreseminare in den Geisteswissenschaften. Eine Anleitung speziell zur Erschließung von Fachtexten hat Ulrike Langer (2013) vorgelegt.

Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
575 стр. 26 иллюстраций
ISBN:
9783846351154
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают