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5.2 Indikatoren des VerständnissesIndikatorenVerständnis

Das Verständnis ist das Produkt des Verstehens und kann nach dem Verstehen über Leistungen erfasst werden, die ein Verständnis des Textes voraussetzen. Dabei bleibt ein Schluss von einer Leistung auf die dahinterliegenden Prozesse und Strukturen allerdings immer gewagt, also auch hier muss die jeweilige Validität hinterfragt werden.

FragenFrage beantworten

Die Beantwortung von offenen FragenFrage nach der Textlektüre ist die älteste Methode zur Erfassung des Verstehens, die bis heute in pädagogischen Situationen (mündliche Prüfungen, Tests) verbreitet ist (Anderson, 1972; Graesser & Black, 2017). Es gibt verschiedene Typen von Fragen, die ganz unterschiedliche Anforderungen an den Adressaten stellen:

Wissensfragen sind durch den direkten Abruf von Wissen im semantischen LangzeitgedächtnisGedächtnisLangzeit- zu beantworten: Bezeichnungen, Definitionen, Daten, Fakten. Die richtige Beantwortung einfacher Faktenfragen sagt aber wenig über das Verstehen aus, das geht auch über schlichtes Behalten.

Verständnisfragen sind anspruchsvoller, denn sie erfordern Inferenzen, Kombinationen, Verallgemeinerungen über den Text hinaus. Dass Verständnisfragen Verstehen erfassen, ist unstrittig, allerdings ist es schwierig, den jeweiligen Aufwand einzuschätzen, den ihre Beantwortung erfordert.

Anwendungsfragen sind am anspruchsvollsten, denn sie verlangen die Übertragung des Gelernten in neue Bereiche.

Auf offene FragenFrage kann die Person frei antworten, die verbalen Daten sind aber nicht einfach auszuwerten, dazu sind AuswahlfragenAuswahlfrage (Multiple Choice [MC]) besser geeignet.

AuswahlfragenMultiple ChoiceAuswahlfrage (Multiple Choice [MC]), Multiple Choice (MC)

MC-Fragen zu einem Text geben Antwortmöglichkeiten vor, von denen die zutreffenden angekreuzt werden müssen. In der Pädagogik gelten sie als wenig geeignet zur Überprüfung von Verstehen, da man auch mit Raten einen guten Wert erreichen kann. MC-Aufgaben können aber durchaus valide sein, wenn die falschen Antworten (sogenannte Distraktoren) sorgfältig konstruiert werden. Zudem gibt es Varianten, bei denen man mit Raten nicht weit kommt, z.B. beim Aufgabentyp „n aus 5“. Dabei werden fünf Antworten vorgegeben, von denen eine, zwei oder drei zutreffend sein können (Friedrich, Klemt & Schubring, 1980). Derartig komplexe MC-Aufgaben haben sich im Testwesen durchaus bewährt. Testen Sie Ihr Wissen aus dem vorangegangenen Kapitel:

Welche Aussage/Aussagen über die MaximenMaximen von Grice sind zutreffend (ein, zwei oder drei Ankreuzungen sind möglich):

☐ 1. Die Maxime der Aufrichtigkeit fordert die Wahrheit der Aussagen.

☐ 2. Die Maxime der Relation wird auch Maxime der Relevanz genannt.

☐ 3. Konversationelle Implikationen sind die Ursache von Missverständnissen.

☐ 4. Das Kooperationsprinzip setzt rationale Kommunikationspartner voraus.

☐ 5. Verständlichkeit wird in der Maxime der Qualität gefordert.1

Inhalte behalten

In der kognitionspsychologischen Gedächtnisforschung werden verschiedene Maße des Behaltens verwendet. Sie sind einfach zu erheben, aber als Indikatoren des Textverstehens nicht unproblematisch.

Freies Wiedergeben (Free ReRecallcallWiedergabe (Recall)). Nach der Lektüre wird eine Reproduktion des Inhalts bzw. eine Paraphrasierung verlangt.2 Diese verbalen Daten haben nur eine begrenzte Validität, denn ein Verständnis wird nicht unbedingt erfasst. Wie schon die Alltagserfahrung zeigt, gibt es Inhalte, die wir beim Lesen verstehen und doch wieder vergessen und es gibt Inhalte, die wir nicht verstehen, die aber haften bleiben.

Gelenktes Wiedergeben (Cued RecallWiedergabe (Recall)). Es wird eine Hilfestellung zum Abruf gegeben, z.B. ein Stichwort, das dem Gedächtnis Aussagen entlocken soll.3 Dieses Maß hat noch weniger mit dem Verstehen zu tun, denn auch unverstandene Aussagen können mit geeigneten Cues rekonstruiert werden. Zudem ist es nur für kurze Texte geeignet. Bei längeren Texten kann ein formales Raster vorgegeben werden, das von der Vp ausgefüllt werden muss, um die Erinnerung an den Text voll auszuschöpfen: Hauptaussagen, Beispiele, Anwendungen, Vertreter usw. (Christmann, 1989).

WiedererkennenWiedererkennen (Recognition) (RecognitionRecognition). Ein Wort oder Satz wird vorgelegt und die Vp muss entscheiden, ob sie im Ausgangstext vorkamen. Auch dieses Maß ist ein schlechter Indikator des Verstehens, denn Wiedererkennen kann man auch ohne jedes Verständnis.

Jan Kercher (2013) schließt die Maße des Behaltens aus seiner Liste von Verstehensindikatoren aus, da sie weniger das Verstehen, sondern das Lernen betreffen. Dies ist allerdings radikal, denn auch wenn Behalten nicht gleich Verstehen ist, sind beide doch nicht völlig unabhängig voneinander: Was man versteht, integriert man in seine Wissensstrukturen und kann es wahrscheinlich auch besser abrufen. Verstehen ist zwar keine notwendige, aber sicher eine förderliche Bedingung für das Behalten (Schwarz, 1981). Ein zweites kritisches Argument in Hinblick auf die Validität: Es bleibt unklar, welche Verstehensprozesse mit dem Behalten erfasst werden: Prozesse zum Zeitpunkt der Verarbeitung oder Prozesse zum Zeitpunkt der Wiedergabe oder beides (Rickheit, Sichelschmidt & Strohner, 2002).

Zusammenfassen

Hier wird das Behalten des Wesentlichen aus einem Text verlangt. Die Konstruktion einer ZusammenfassungZusammenfassung ist eine anspruchsvollere Aufgabe als das bloße Wiedergeben. Wer die Inhalte eines Textes prägnant und kohärent zusammenfasst, der muss ihn wohl verstanden haben. Die reduktive Verarbeitung mittels spezieller Inferenzen ist recht gut erforscht (Ballstaedt, 2006).

Schnotz, Ballstaedt & Mandl (1981) legten Vpn einen schwierigen soziologischen Text mit der Instruktion vor, zunächst eine mündliche ZusammenfassungZusammenfassung der wichtigsten Inhalte zu erstellen. Später wurde unerwartet eine freie WiedergabeWiedergabe (Recall) des Textes verlangt. Ausgangstext, Zusammenfassung und Wiedergabe wurden in Bedeutungseinheiten zerlegt und inhaltlich miteinander verglichen. So konnten zahlreiche Verarbeitungsprozesse wie Tilgungen, Elaborationen, Verallgemeinerungen, Bündelungen nachgewiesen werden, die den Ausgangstext in eine Zusammenfassung überführen.

Die Validität der Methode ist gut, allerdings fallen keine zwei ZusammenfassungenZusammenfassung eines Textes gleich aus, denn was als wesentlich angesehen wird, hängt auch von den Intentionen und Interessen der Lesenden ab.

Textlücken ausfüllen

Der LückentestLückentest (Cloze Procedure) (Cloze Procedure) ist besonders in der amerikanischen Instruktionspsychologie beliebt, da er einfach durchzuführen ist und harte reliable Daten liefert. Nach der Lektüre eines längeren Textes (min. 250 Wörter) wird dieser noch einmal vorgelegt, dabei ist ursprünglich jedes fünfte Wort gestrichen und muss von der Vp ergänzt werden. Alle Lücken sind gleich groß und in der strengen Variante wird nur genau dasselbe Wort des Ausgangstexts als korrekt akzeptiert.

Die Kritik an der Validität des Verfahrens liegt auf der Hand: Es misst weniger das Verstehen, sondern eher den Redundanzgrad eines Textes (Heringer, 1979). Die Validität des Verfahrens kann aber durch die Art der Auslassungen gesteigert werden (Christmann, 2009). Es sollten nur Inhaltswörter sein, die möglichst auch noch zentrale Konzepte betreffen. Auch das Auslassen von kausalen, temporalen, adversativen und anderen Konjunktionen ist ein brauchbarer Indikator für Verstehen.

StrukturlegenStrukturlegen, Wissensdiagnose

Die Veränderung von Wissensstrukturen beim Verstehen kann über Karten externalisiert werden. Ein Verfahren dazu ist die Heidelberger Struktur-Lege-Technik, sie wurde als standardisierte Methode zur Erfassung subjektiver Theorien entwickelt (Scheele & Groeben, 1984). Dabei müssen sich die Vpn zuerst in einem Übungsteil mit einem Satz vorgegebener Relationen zwischen Konzepten vertraut machen, z.B. Überordnung, Inklusion, Attribut, positive, negative und wechselseitige Abhängigkeit usw. Danach beschriften sie Karten mit ihnen bekannten Konzepten aus einer Wissensdomäne und basteln daraus mittels der Relationen ihre Wissensstruktur.

Ballstaedt & Mandl (1991) haben die Methode zur Erfassung von Wissen vor und nach der Lektüre eines Textes eingesetzt. Die Vpn externalisierten zuerst ihr Wissen über Vulkane, indem sie Kärtchen mit Begriffen beschrifteten und mit einem Satz vorgegebener Relationen zu einer kohärenten Struktur verknüpften. Danach lasen sie einen wissenschaftlichen Text über Vulkanismus und bekamen die Möglichkeit, ihre Struktur zu verändern. Auf diese Weise konnten Prozesse der Anreicherung, Ausdifferenzierung, Umstrukturierung (accretion, tuning, restructuring nach Rumelhart & Norman, 1976) sichtbar gemacht werden.

Bei der Keyword Sorting Task werden den Adressaten nach der Lektüre textrelevante Wörter auf Kärtchen angeboten, die sie in eine Struktur bringen müssen. Gemessen wird die Übereinstimmung dieser Struktur mit der semantischen Struktur des Textes (McNamara & Kintsch, 1996).

Die Validität dieser Verfahren ist nur zufriedenstellend, wenn sich die Vpn wirklich Mühe geben, ihr Wissen auf den Tisch zu legen.

UsabilityUsability-Testing

Handlungsorientierte Texte wie z.B. BedienungsanleitungenBedienungsanleitung oder Kochrezepte werden mit der Intention gelesen, anschließend etwas zu können, sie sollen Anschlusshandlungen vorbereiten. Nach dem Diktum „Der Leser liest, um zu X-en“ hat Christoph Sauer (1995) die Anwendbarkeit oder „Intentionsadäquatheit“ als einen Indikator der TextverständlichkeitVerständlichkeitText- eingeführt (Prestin, 2001). Hier ist der Indikator der korrekten Umsetzung der Anleitungen in Handlungen überaus valide: Wer aufgrund einer Bedienungsanleitung ein Gerät benutzen kann, der hat den Text verstanden. Bei UsabilityUsability-Tests bekommt der Benutzer den Text und eine Aufgabe, die er mit der Lektüre lösen soll, z.B. mit einer Montageanleitung ein Bett zusammenbauen. Bei der Umsetzung werden die Dauer einzelner Handlungsschritte, Fehler bei der Umsetzung und die verbalen und paraverbalen Reaktionen registriert und ausgewertet.

Methodenmix

Diese breite Palette an empirischen Möglichkeiten, um an Verstehen und Verständnis heranzukommen, könnte noch durch weitere Verfahren und Varianten ergänzt werden. Von der quantitativen Messung von Millisekunden bis zur qualitativen Analyse von verbalen Daten sind sehr verschiedene methodische Zugänge zum Verstehen beschritten worden. Damit erfüllt die Forschung zwei Forderungen an die Empirie (Hussy, Schreier & Echterhoff, 2013): 1. Sich einem Forschungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven anzunähern und dabei 2. unterschiedliche, quantitative wie qualitative Methoden einzusetzen. Bei einem Methodenmix können sich Daten ergänzen und Befunde wechselseitig validieren. Das Fachwort: Datentriangulation.

Zusammenfassung

1. Die Prozesse des Verstehens und das daraus resultierende Verständnis sind nicht direkt beobachtbar, sondern nur über Indikatoren erschließbar, die ein Verstehen voraussetzen. Man unterscheidet Methoden, die Variablen während und nach dem Verstehen erheben.

2. Indikatoren des Verstehens werden online, also während des Lesens und Verstehens erhoben. Dazu gehören: Vorlesen, lautes Denken, Lese- und Reaktionszeiten, Blickbewegungen, neuropsychologische Aufzeichnungen und simulative Methoden.

3. Indikatoren des Verständnisses werden nach dem Verstehen eines Textes retrospektiv erfasst. Dazu gehören: Fragenbeantwortung, verschiedene Formen der Wiedergabe, Zusammenfassen, Textlücken ausfüllen, Strukturlegen, Usability-Tests.

4. Jeder Indikator erfasst nur einen Aspekt des Verstehens, die Validität einzelner Methoden ist zudem problematisch. Viele der erhobenen Indikatoren sind schwer interpretierbar, da ein Befund sowohl auf die Formulierungen des Textes als auch auf Voraussetzungen des Adressaten bezogen werden kann. Aber unterschiedliche Methoden erlauben, das Verstehen sozusagen einzukreisen. Bei einem Mix aus verschiedenen Methoden ergänzen und bestätigen sich die Befunde.

6 Prozesse des Textverstehens

Nachdem wir Verständigung als eine kooperative Unternehmung innerhalb einer kommunikativen Situation dargestellt haben, werfen wir jetzt einen Blick in den Kopf der Adressaten und beschreiben die Prozesse des Verstehens beim Lesen. Verstehen ist die anspruchsvollste kognitive Tätigkeit des Menschen, die von der Wahrnehmung über Erinnern bis zum Denken viele mentale Prozesse umfasst. McNamara & Magliano (2009, S. 298) nennen das Verstehen den „Backbone of cognition“, Walter Kintsch (1998) spricht im Untertitel eines Buches von einem „Paradigm for cognition“. Die Frage, wie ein Lesender Wort- und Satzfolgen zu einem Verständnis integriert, ist noch immer nicht befriedigend beantwortet.

Das Verstehen von Texten hat zu einer Reihe von Modellen und Theorien geführt. Über allen dominiert das Construction-Integration-Modell von Kintsch (1998). Wichtige andere Ansätze sind: der systemische Ansatz (Strohner, 1990), das Structure-Building-Modell (Gernsbacher, 1997), das Resonanz-Modell (Myers O’Brien, 1998), das Event-Indexing-Modell (Zwaan, Langston & Graesser, 1995, 1998), das Causal-Network-Modell (Trabasso & Suh, 1993), das Constructionist-Modell (Millis & Graesser, 1994) und das Landscape-Modell (van den Broek & Helder, 2017). Bei einem Vergleich der Ansätze kann man feststellen, dass sie sich nicht ausschließen, sondern verschiedene Aspekte des Verstehens fokussieren (McNamara & Magliano, 2009).

Das Leseverstehen verläuft kontinuierlich von Wort zu Wort und von Satz zu Satz, wobei Teilprozesse auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig ablaufen. Wir starten mit der Schriftgestaltung, die das Lesen und Verstehen behindern oder erleichtern kann, es geht um die subsemantischen Prozesse bis zum Worterkennen (6.1). Das eigentliche Verstehen beginnt mit Erkennen von Wörtern, die eine konzeptuelle Struktur im Gedächtnis aufrufen (6.2). Ein Satz verknüpft eine Abfolge von Wörtern über syntaktische Mittel zur einer einfachen Bedeutungsstruktur (6.3). Diese Struktur wird Satz für Satz weiter ausgebaut (6.4). Beim Verstehen werden zahlreiche Inferenzen über Text und Vorwissen ausgelöst, die Textteile miteinander und mit dem Vorwissen verbinden (6.5). Schließlich endet das Verstehen in der Konstruktion einer mentalen Repräsentation des Textes: dem jeweiligen Verständnis (6.6). Zeitliche und kapazitative Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses beeinflussen das Verstehen, denn mentale Ressourcen stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung (6.7).

6.1 Subsemantische Verarbeitung

Verstehen beginnt mit dem Erkennen von Wörtern bzw. der Aktivierung von Konzepten, für die sie stehen. Um Wörter wahrzunehmen, müssen beim Lesen Buchstaben und Buchstabengruppen erkannt werden. Aber was hat die Wahrnehmung der Schrift mit dem Verstehen zu tun?

Die Alltagserfahrung zeigt, dass Lesen mühsam sein kann, z.B. bei Handschriften oder beim Kleingedruckten. Die LeserlichkeitLeserlichkeit (Legebility) (= legebility) eines Textes wird nur als Vorstufe zur Verständlichkeit betrachtet, da sie zum Verstehen wenig beiträgt (Groeben, 1982). Aber unter dem Aspekt der Ressourcenschonung bildet eine schlechte Leserlichkeit eine indirekte Erschwernis für das Verstehen, weil mehr Ressourcen zum Erkennen der Wörter eingesetzt werden müssen: „Ein Text ist gut lesbar, wenn der Leser nicht merkt, dass er liest. Ein Text ist dann schlecht lesbar, wenn – dem Leser unbewusst – ein noch so geringer Teil der Aufmerksamkeit von der Erfassung und gedanklichen Bearbeitung des Inhalts abgelenkt und der Entzifferung zugewandt werden muss“ (Willberg & Forssman, 1997, S. 98).Leserlichkeit (Legebility)1

Die Arbeit der Augen

Die visuelle Verarbeitung beim Lesen ist sehr gut untersucht und es gibt hervorragende Zusammenfassungen der Forschung (Just & Carpenter, 1987; Wolf, 2010; Dehaene, 2010; Rayner et al., 2012). Wir fokussieren auf einige verstehensrelevante Aspekte.

BlickbewegungenBlickbewegung (Eye Tracking). Die Aufzeichnung von Blickbewegungen beim Lesen haben wir bereits als wichtige Methode kennengelernt (Kap. 5.1). Lesen verläuft nicht kontinuierlich, sondern in einer Abfolge von Fixationen und Blicksprüngen (Staub & Rayner, 2007).

 Die Blicksprünge oder Sakkaden dauern im Schnitt 20 bis 40 Millisekunden. Bei ungeübten Lesenden, schwer leserlichen oder schwierigen Texten kommen vermehrt Rücksprünge (= Regressionen) vor. Pro Sekunde finden etwa 4 bis 5 Fixationen statt.

 Die Fixationen dauern durchschnittlich 200 bis 250 Millisekunden, allerdings mit Schwankungen von 100 bis 1000 Millisekunden.

Nur während der Fixationen werden Informationen verarbeitet, d.h. Buchstaben und Wörter erkannt, während der Sprünge ist die Wahrnehmung verwischt (McConkie & Rayner, 1975). Bei geübten Lesenden beträgt die Lesegeschwindigkeit etwa 400 Wörter pro Minute. Bietet man die Wörter eines Textes auf einem Bildschirm einzeln und nacheinander dar, kann die Lesegeschwindigkeit auf 1600 Wörter pro Minute gesteigert werden. Die Trägheit der BlickbewegungenBlickbewegung (Eye Tracking) begrenzt also die Lesegeschwindigkeit: Die Wahrnehmung ist träger als das Verstehen!

Das Muster der BlickbewegungenBlickbewegung (Eye Tracking) verrät etwas über den Verarbeitungsaufwand beim Lesen. Rückschlüsse aus Blickbewegungsdaten auf mentale Prozesse sind unter zwei Annahmen möglich (Just & Carpenter, 1980):

 Immediacy assumption: Mit dem Fixieren und Erkennen eines Wortes werden unmittelbar Verarbeitungsprozesse auf allen Ebenen – lexikalisch, syntaktisch, inferenziell – ausgelöst.

 Eye-mind assumption: Die Betrachtungsdauer eines Wortes ist ein valides Maß für den investierten Verarbeitungsaufwand.

Unter diesen Annahmen liefern Fixationen und Sakkaden Hinweise auf Verstehen und Verständlichkeit.

 83 Prozent der Inhaltswörter (Substantive, Verben, Adjektive) werden fixiert, aber nur 38 Prozent der Funktionswörter. Die Anzahl der Fixationen, z.B. in einem Satz, ist ein Indikator für schwierige Texte bzw. intensive Verarbeitungsprozesse.

 Die Fixationsdauer beträgt für ein Wort im Durchschnitt 250 Millisekunden, unterliegt aber großen Schwankungen (zwischen 100 Millisekunden bis 1000 Millisekunden): Lange, ungeläufige und mehrdeutige Wörter werden länger fixiert. Verben werden länger fixiert als Nomen. Lange Fixationen am Ende einer syntaktischen Einheit, z.B. eines Satzes weisen auf abschließende Prozesse des Satzverstehens hin. Lesende fixieren Wörter, die ein Thema einführen, und Wörter am Satzende länger (sentence wrap-up process).

 Regressionen. Anzahl und Dauer von Rücksprüngen sind Indikatoren für Verstehensprobleme, die entweder durch den Text oder durch den Lesenden verursacht sein können.

Allerdings: Was genau im Gehirn abläuft, wenn z.B. ein Wort länger fixiert wird, das bleibt unklar und müsste mit Methoden wie lautes Denkenlautes Denken oder neuropsychologischen Aufzeichnungen ergänzt werden.

WahrnehmungsspanneWahrnehmungsspanne. Darunter versteht man das Feld, das während einer Fixation in die Fovea centralis, die kleine Stelle des schärfsten Sehens auf der Retina fällt. Nur dort reicht die Auflösung aus, um grafische Details zu erkennen. Die Wahrnehmungsspanne ist oval und asymmetrisch, sie umfasst links vom Fixationspunkt 3 bis 4, rechts 9 bis 12, also insgesamt etwa 15 Buchstaben (Bild 5). Die Asymmetrie hängt mit der Leserichtung zusammen, sie wird mit dem Lesenlernen eingeübt.

Je nach Schriftgröße sowie Buchstabenbreite und –abstand fallen mehr oder weniger Buchstaben in die WahrnehmungsspanneWahrnehmungsspanne bzw. können mehr oder weniger Wörter erkannt werden. In der Sekunde haben wir durchschnittlich vier bis fünf Fixationen und erkennen etwa vier bis fünf Wörter. Damit stellt die Wahrnehmungsspanne eine Beschränkung des Lesens dar. Während der Fixation wird in der unscharfen Peripherie außerhalb der Wahrnehmungsspanne der nächste Fixationspunkt bestimmt, auf den die Augen dann springen. Anhaltspunkte sind Großbuchstaben, Wortzwischenräume und Wortlängen. Die deutsche Schriftsprache, bei der die Substantive großgeschrieben werden, hat hier einen kleinen Vorteil: Der oder die Lesende kann in der Peripherie zwischen Substantiven und anderen Wortarten unterscheiden (Bock, 1989).

Bild 5:

Das Oval umfasst die Wahrnehmungsspanne um einen Fixationspunkt, der Bereich fällt auf die Fovea, die Stelle des schärfsten Sehens auf der Retina. Oben ist die Abfolge der Fixationen angetragen. Lesen besteht aus einer Abfolge von ovalen Schnappschüssen.

Erkennen von Buchstaben

Die Buchstaben innerhalb der WahrnehmungsspanneWahrnehmungsspanne werden nicht nacheinander gelesen (also buchstabiert), sondern stehen durch Parallelverarbeitung gleichzeitig zur Verfügung. Wörter setzen sich aus Buchstaben zusammen, die bei verschiedenen Schrifttypen grafisch unterschiedlich gestaltet sind. Wenn man die Buchstaben leicht unterscheiden kann, dann sollte auch das Erkennen von Wörtern einfacher sein.

DiskriminierbarkeitDiskriminierbarkeit. Die Buchstaben aller Schriftsysteme setzen sich aus einer Anzahl einfacher grafischer Elemente zusammen: horizontale, vertikale und schräge Striche, Dreiecke, Quadrate, Kreise und Halbkreise, verschiedene Winkel. Das Gehirn erkennt Buchstaben an diesen Merkmalen. Eine Studie mit teilweise verdeckten Klein- und Großbuchstaben zeigt, dass nur wenige grafische Merkmale wie Strichenden oder horizontale Linien ausreichen (Fiset et al., 2008). Oft ist zur korrekten Identifikation nur ein kritisches Merkmal notwendig (Sanocki & Dyson, 2012): Ein F unterscheidet sich von einem E durch einen Strich, ein b von einem d durch eine Rundung. Dass die Buchstaben aller Schriften hochgradig redundant sind, zeigt der Abdecktest: Eine Schrift bleibt lesbar, wenn die untere Zeilenhälfte verdeckt wird! Wird die obere Zeilenhälfte verdeckt, ist das Lesen massiv behindert.

Bild 6:

Der Abdecktest beweist: Die obere Hälfte einer Zeile ist informativer als die untere Hälfte.

Deutlich wird die Relevanz der unterscheidenden grafischen Merkmale bei kleinen Schriftgrößen oder schlechten Sehbedingungen, denn da werden Buchstaben leicht verwechselt, z.B. „c“ und „o“. Es gibt Schriften, die auf die Unterscheidbarkeit der Buchstaben aufgebaut sind (z.B. die „Syntax“ von Hans Eduard Meier). Die Auswirkung grafischer Merkmale auf die Buchstabenerkennung kann man untersuchen, indem man verschiedene Schwellenwerte ermittelt: die Dauer, die Distanz, die Helligkeit oder die Schärfe, bis ein Buchstabe erkannt wird.

WahrnehmungsinvarianzWahrnehmungsinvarianz. Beim Lesen vor allem von Hand-, aber auch von Druckschriften haben wir es mit sehr unterschiedlichen Formen, Größen und Positionen von Buchstaben zu tun.


Trotz der grafisch erheblichen Unterschiede wird immer ein A wahrgenommen. Sogar verzerrte und schräge Schriften bleiben lesbar. Diese Befunde zeigen, dass unser Gehirn beim Lesen mit einer großen Varianz an grafischen Formen problemlos umgehen kann. Wie diese WahrnehmungsinvarianzWahrnehmungsinvarianz zustande kommt, darüber existieren bisher nur Hypothesen (Dehaene, 2010, S. 34), aber die Invarianz legt den Schluss nahe, dass Subtilitäten der Schriftgestaltung gar keine so große Bedeutung zukommt, wie die Lesbarkeitsforschung und viele Typografie-Handbücher behaupten.

Leserliche Schrift

Eine leserliche Schrift sollte ein flüssiges Lesen ermöglichen, ohne unnötige Wahrnehmungsressourcen zu beanspruchen. Der Lesefluss kann durch die typografische Gestaltung behindert werden, gewöhnlich wird das über die Lesegeschwindigkeit gemessen. Wenn der gleiche Text in einer Schriftvariante A durchschnittlich längere LesezeitLesezeit beansprucht als in einer Variante B, dann ist die Schrift von A weniger leserlich. Das klingt zunächst plausibel, aber nicht nur typografische Variablentypografische Variablen beeinflussen das Lesen, sondern unzählige andere wie Motivation, Lesefähigkeit, Vorwissen, Beleuchtung, Ermüdung, Alter usw. Aus diesem Geflecht von Variablen die Wirkung einer Schrift herauszufischen, ist methodisch überaus schwierig.

Es gibt aber keinen Zweifel, dass einige typografische Variablentypografische Variablen die LeserlichkeitLeserlichkeit (Legebility) beeinflussen: Buchstaben- und Wortabstand, Zeilenabstand, Zeilenfall (Block- oder Flattersatz), Versalien, Serifen, Schriftgröße, Schriftstärke usw. (Gorbach, 1999; ausführlich Filek, 2013).

Zusatzmaterial 4: Text zur Wirkung typografischer Merkmale

Der experimentelle Ansatz, der die Wirkung verschiedener Schriften untersucht, aber die Interaktion mit anderen Variablen außer Acht lässt, hat einen Flickenteppich von Befunden hervorgebracht. Die Effekte aus der Laborforschung sind meist gering und oft widersprüchlich.

Ole Lund hat 28 Studien genauer unter die Lupe genommen und erhebliche methodische Mängel, vor allem eine mangelnde interne Validität festgestellt, d.h. die gefundenen Effekte können immer auch anders interpretiert werden, da Variablen miteinander konfundiert sind. Zu den methodischen Mängeln kommt oft eine falsche Rezeption der Befunde, manche wurden überinterpretiert und übergeneralisiert. Sein vernichtendes Fazit: „The thesis shows that traditional experimental egibility research has provided a non-productive approach to typographic knowledge production“ (Lund, 1999, S. 247). Verwunderlich ist das nicht: Eine Schriftart setzt sich aus zahlreichen typografischen Merkmalen zusammen, davon kann ein Merkmal die LeserlichkeitLeserlichkeit (Legebility) erhöhen, ein anderes sie herabsetzten, sie können sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder kompensieren. „Das Prinzip dieser Studien, nur einen Faktor zu ändern und den Einfluss auf die Lesbarkeit zu prüfen, steht vor dem Problem, dass die Änderungen eines Faktors in der Typografie immer das Anpassen der anderen Faktoren nach sich zieht […]. Beispielsweise wird nur die Schriftart gewechselt, ohne im Anschluss Zeilenabstände, Schriftgrößen, Laufweite oder Zeilenbreite nachzukorrigieren, was die Ergebnisse schnell verfälscht“ (Filek, 2013, S. 88). Wenn man dann noch Beleuchtung, Lesedistanz, Kontraste usw. einbezieht, dann ergibt das ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für experimentelle Psychologen.

Ein überraschender, für wahrnehmungspsychologisch orientierte Typografieforschung geradezu schockierender Befund stammt aus der Disfluency-Forschung: Eine Reihe von Untersuchungen ergab, dass schwer leserliche Schrifttypen zu einer besseren Behaltensleistung führten, was auf eine intensivere Verarbeitung zurückgeführt wurde (Diemand-Yaumann et al., 2011). Die Befunde ließen sich aber nicht konsistent replizieren und sind vielleicht auch auf andere Variablen zurückführbar (Merkt, 2016).

Weiche typografische Variablentypografische Variablen

Typografen gehen aus professionellem Selbstverständnis davon aus, dass Schriften einen starken Einfluss auf das Lesen und das Verstehen haben. Dabei verstehen sie sich meist als Künstler, die eher auf ihre ästhetische Intuition als auf wissenschaftliche Erkenntnisse vertrauen. Einigkeit unter Typografen und Psychologen herrscht darin, dass es die leserliche Schrift nicht gibt, da immer zahlreiche Variablen interagieren. Nachdem aus der Forschung nur wenige und unsichere Richtlinien abzuleiten sind, wendet man sich derzeit „weichen“ Variablen der Schrift zu, die einen Einfluss auf das flüssige Lesen haben (Liebig, 2009).

Vertrautheit. Schriftarten, die in unserer Lesekultur in Büchern und Zeitschriften oft vorkommen, werden leserlicher bewertet als ungebräuchliche Schriften.

Als die serifenlosen Schriften eingeführt wurden, wurden sie „Groteske Schriften“ genannt, man war sie eben nicht gewohnt. Die Sütterlin-Schrift war einmal eine beliebte deutsche Volksschrift, kommt uns heute aber altmodisch vor und weckt nationalistische Assoziationen, obwohl die Nazis sie als „Judenschrift“ verboten haben.

Ästhetik. Die spontane ästhetische Anmutung, der Atmosphere-Value einer Schrift ist schwer fassbar. Jede Schrift hat einen besonderen Charakter, jede Zeit hat ihre Typografie. Typografen, Mediengestalter und Designer jonglieren gern mit ästhetischem Vokabular: Schriften werden mit Adjektiven wie würdig, edel, gediegen, kraftvoll, sachlich, verspielt, nüchtern, elegant, träge, zurückhaltend usw. beschrieben (Korthaus, 2014).

Congeniality. Wichtig ist eine Korrespondenz zwischen Inhalt und Schrift. Hier ist ebenfalls ein schwer fassbares „Feingefühl des Gestalters“ gefragt (Filek, 2013, S. 163). Vielleicht hilft die experimentelle Ästhetik weiter, aber letztlich werden sich nicht alle gestalterischen Entscheidungen aus wissenschaftlichen Befunden ableiten lassen.

Joy of use. Darunter wird verstanden, wie angenehm eine Schrift zu lesen ist (Sanocki & Dyson, 2012). Die LeserlichkeitLeserlichkeit (Legebility) einer Schrift hat auch einen messbaren Einfluss auf die Bewertung der Inhalte. Ist ein Text flüssig lesbar, dann wird auch sein Inhalt als weniger schwierig bewertet. Eine gut leserliche Schrift führt bei Bedienungsanleitungen zu der Einschätzung, dass die beschriebenen Handlungen leicht und schnell durchführbar sind (Song & Schwarz, 2008; Dreisbach & Fischer, 2011).

Typografen werden noch viele Schriften entwerfen, überleben werden nur die wahrnehmungsfreundlichen. Schwer leserlichen Schriften bleibt eine Nischenexistenz im künstlerischen und kalligrafischen Bereich. Deshalb kann man davon ausgehen, dass das breite Mittelfeld der in einer Schriftkultur gewohnten Schriftarten im Prinzip gleich gut leserlich ist und das Verstehen wenig behindert. Nur extreme Schriften wie Handschriften und ornamentale Schriften können Schwierigkeiten bereiten. Durch neue Leseoberflächen wird sich das Problem ohnehin teilweise auflösen: Auf E-Ink-Readern, Tablets oder Smartphones kann der Lesende die ihm genehme Schriftgröße einstellen und im Prinzip ist es auch möglich, die Schriftart zu wählen.

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9783846351154
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