Читать книгу: «Das Kontingent», страница 4

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Die aufgehende Sonne wirft einen ersten hellen Schein auf die Stadt, deren Menschen jetzt aufwachen. Die leichte Kühle der Nach weicht vorsichtig den zu dieser Stunde immer noch rötlichen Sonnenstrahlen. Ein neuer Tag beginnt, ein weiterer, an dem sie alle nicht wissen, was geschehen wird. Noch kurz zuvor, in der Dunkelheit, durchzuckten helle Blitze die Nacht, gefolgt von dem bedrohlichen Grollen der immer näher kommenden Einschläge. Mit dem Morgenlicht tritt nun aber erstmals wieder Ruhe ein. Selbst der Terror muss einmal schlafen.

Es wird wieder Tote zu beklagen geben. Noch mehr Vermisste. Einen gnädigen Gott haben die gefunden, die sofort gestorben sind. Einige werden vielleicht aber erst in diesem Moment erlöst, haben die Nacht mit einem abgerissen Bein oder mit aufgerissenem Bauch in den Trümmern nach ihrer Mutter geschrien. Sie verstummen endlich mit dem Anbruch des neuen Tages.

Die Verdammten aber tragen jetzt Fesseln und einen Sack über dem Kopf. Sie riechen bereits den Tod und sie hören das Wimmern, das gequälte, stumpfe Gurgeln derjenigen, die aus ihrer Mitte zur Hinrichtung bestimmt wurden. Es ist der grausame Alltag, der mit dem Anbruch des Tages, mit den ersten wärmenden Strahlen der Sonne über Kobane, seinen gewohnten Lauf nimmt.

Der alte Mann schaut durch die schützenden Bretter vor seinem Fenster. Er sieht über die einst so herrliche Stadt und die Hügel dahinter. Er schaut auf die andere Seite, auf das türkische Gebiet, dort, wo die Kurden sind, wo es Hilfe gäbe. Alles nur einen Steinwurf entfernt. Er bräuchte nur kurz herüberspazieren, an der einen Hand seine Tochter, an der anderen seine liebe Frau. Vielleicht aber würde er auch sein kleines Enkelkind tragen, es so besser beschützen, den Kopf des Kindes an seiner Brust, abgewandt von allem Leid umher. Er könnte einfach so losgehen und alle damit retten. Doch so nah es scheint, so unerreichbar ist dieses Ziel.

Auch heute werden seine Augen wieder nass und seine Hände zittern. Hat Gott das so gewollt? Kann das alles der Wille des Herrn sein?

Er wendet seinen Blick ab und dreht sich um. In das kahle, noch etwas düstere Zimmer tritt seine Frau und reicht ihm wortlos ein Glas Tee. Zucker haben sie schon lange nicht mehr und der Tee stammt aus dem dritten Aufguss. Er setzt sich auf eines der Kissen und trinkt in kurzen Schlucken das lauwarme Getränk. In seiner Tasche ist immer noch der Rosenkranz mit dem kleinen silbernen Kreuz. Beten aber will er nicht mehr. Wozu? An wen soll er seine Bitten richten? An den, der diesem Terror und dem unsäglichen Leid all der Menschen hier zusieht? Und so sitzt er auch jetzt nur da und wartet darauf, dass das Zittern seiner Hände wieder für einige Zeit aufhört.

Kindliches Getrampel schallt in den Raum. Die Kleine ist wach und die Vierjährige setzt sich neben ihren Großvater. Gleich darauf kommt auch ihre Mutter. Die junge Frau geht langsam. Als sie hereinkommt, lächelt sie, weil sich ihre Tochter so eng an ihren Großvater geschmiegt hat, die Arme fest um ihn verschlungen hält. Die junge Frau ist Mitte Zwanzig, hat ein schönes, grazil gezeichnetes Gesicht, und ihre schwarzen Augen funkeln wie Feuer. Sie trägt eine zierliche Goldkette am Hals, die ein massives Kreuz im Ausschnitt ihres Kleides zum Vorschein kommen lässt. Mit ihren schönen Händen und den langen Fingern streicht sie sich durch ihr langes, dunkles Haar und bindet dieses gleichdarauf geschickt mit einem Gummi zusammen.

Ihre Mutter reicht nun auch ihr ein Glas Tee. Dem kleinen Mädchen drückt sie liebevoll einen Rest Maisbrot in die Hand. So sitzen Sie still in dem immer heller werdenden Raum, trinken den dünnen Tee und schauen auf das Kind, das an seinem Brotstückchen herumknabbert. Es ist die nun schon gewohnte morgendliche Schweigsamkeit der Familie, nach einer Nacht mit dröhnenden Granateneinschlägen, bellenden Schüssen, dumpfen Donner und dem immer näher rückenden Tod. So dicht ist alles, dass sie manchmal sogar die Kämpfer schreien hören können, wie sie Befehle geben, wie sie laufen, fallen, aufschlagen, sterben. Sie glauben manchmal sogar das Atmen der Männer hören zu können, deren Schnaufen und immer wieder auch deren Röcheln, wenn sie im Dreck der zerschossenen Häuser verbluten.

Die Straßenkämpfe und das Ringen um jedes Haus, jede noch so zerstörte Ruine, nimmt kein Ende. Fehlende Munition wird durch blanken Hass ersetzt. Hass auf die Ungläubigen, Hass der Verteidiger auf jeden Kämpfer des IS. Menschlichkeit und Gnade werden weder gesucht, noch gegeben. Jeder Tote bedeutet einen kleinen Sieg, jeder Kopf des Gegners eine Trophäe. Und Köpfe werden dieser Tage viele abgeschlagen.

Als die junge Syrerin noch vor kurzer Zeit inmitten der friedlichen Demonstrationen gegen das Assad-Regime teilnahm, sich der arabische Frühling in vielen Gebieten und Städten dieser weiten Region Syriens und der Nachbarländer über alle Grenzen hinweg abzeichnete, wären sie und ihre Freunde nie auf den Gedanken gekommen, dass sie wenig später auf der Flucht vor marodierenden Mördern sein werden. Auf einer Flucht vor Ermordung, Schändung und Folter. Auf der Suche nach einer Möglichkeit des Überlebens für sich, ihre Familie, ihre Tochter und das ungeborene Kind in ihrem Bauch, verfolgt von wütenden, die Menschlichkeit verachtenden Anhängern eines zweckentfremdeten und fehlgeleiteten Islams.

Das morgendliche Schweigen hier und jetzt unter ihnen wird noch eine Weile vorhalten. Mit dem Anbruch des neuen Tages wird der Vater wieder das Haus verlassen müssen. Dieser Stadtteil von Kobane ist noch ein wenig intakt und es gibt Möglichkeiten, das Notwendigste zu beschaffen. Wenn er Glück hat, dann ergattert er sogar etwas aus den Hilfslieferungen, falls diese dann durchgekommen sind. Vielleicht kann er auch etwas tauschen. Er hat ein paar Wertsachen auf der Flucht aus Hama mitnehmen können, und wenn die Not groß ist, dann versucht er einen guten Tausch. Wenn er noch mit seinem Gott sprechen würde, dann würde er ihn auch bitten, einen mitleidigen Menschen zu finden, über dessen Mobiltelefon er eine Nachricht an einen seiner Söhne schicken könne.

Der Alte macht sich zum Aufbruch bereit. Er schaut nicht in die Gesichter der anderen. Er geht hinaus und er weiß, dass er vielleicht nicht mehr wiederkommen kann. Er weiß auch, dass er bei seiner Wiederkehr seine Familie nicht mehr vorfinden könnte. An diesem Tage hofft er aber auch, etwas über seinen ältesten Sohn erfahren zu können, wenigstens die Nachricht zu erhalten, das er noch lebt. Und wie immer, wenn er geht, ist sein Herz schwer wie Blei.

Auch der hiesige Stadtteil ist nun erwacht und es macht sich erste Geschäftigkeit breit. Die alten Gassen, in denen noch vor Kurzem der Kleinhandel blühte, die Händler ihre Waren heraushängten, es nach Safran, Pfeffer und Koriander duftete, Tee oder ein süßer Mokka gereicht wurden, sind fast leer und die Menschen hetzen durch die Straßen. Ihre einst so gelobte Gelassenheit haben sie verloren, Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben und Argwohn schaut aus ihren Augen.

Der alte Mann geht schnell. Er hat es sich zu Eigen gemacht, mit gesenktem Kopf zu gehen und den Blicken fremder Menschen auszuweichen. Er ist vorsichtig und auf der Hut. Es ist nicht sein Wesen, das jetzt aus ihm spricht. Zuvor war er ein offener Mensch und überzeugter Anhänger der Moderne. Als Lehrer an der christlichen Schule in Hama, dieser wunderschönen orientalischen Stadt an den Fernstraßen nach Aleppo und Damaskus, war er gegenüber der neuen Welt besonders aufgeschlossen. Leicht war es nicht. Vor allem hatte die Regierung Assads ihnen als Christen bisher kaum Spielraum gelassen. Mit ihrem Glauben gehörten sie zu einer der Minderheiten in dieser Region, ebenso, wie die Alawiten, Schiiten, Jesiten und Kurden. Er erzog seine Kinder – seine Söhne, wie seine Tochter – nach westlichem Vorbild und christlichen Grundlagen, so gut es ihm möglich war.

Seinen jüngeren Sohn schickte er mit den Ersparnissen, die er über die Zeit dafür zurücklegen konnte, nach Europa, damit er dort studieren konnte. Dieser ging noch rechtzeitig fort und befindet sich heute so in Sicherheit. Seine Tochter hatte vor kurzem geheiratet und war Mutter geworden. Sein Erstgeborener arbeitete bei einer der angesiedelten Auslandsbanken und sah bis vor kurzer Zeit einer guten Zukunft entgegen. Dann geschah das Unfassbare. Über Nacht war die Idylle Hama`s Vergangenheit. Die von der Organisation der Muslim-Brüder koordinierte und finanzierte Abschlachtung von Angehörigen der nichtmuslimischen Minderheiten war an Grausamkeit nicht zu überbieten. Zehntausende Menschen fielen den Terror-Kämpfern mit ihren schwarzen Todesflaggen zum Opfer, wurden verschleppt und in Massen hingerichtet. Ein Exempel sollte statuiert werden. Das Massaker von Hama war eine ethnische Säuberung der terrorisierenden Islamistentruppen, das die orientalische Welt bis dahin nicht für möglich gehalten hätte. Wer noch konnte, flüchtete. Zeit zur Rettung von Eigentum und Werten blieb dabei niemand. Sie hatten die Wahl: eine sofortige Flucht mit dem, was ihnen am Leibe klebte, oder der sichere Tod unter den Schwertern des aufstrebenden IS, zuvor vielleicht Verschleppung, Folter, Vergewaltigung oder Versklavung.

Sein ältester Sohn fasste noch am gleichen Tag den Entschluss, sich den Rebellen anzuschließen, die sich zum Kampf gegen die islamistischen Mörderhorden zusammenfanden. Er schrieb nur einen kurzen Abschiedsbrief an seine Familie und ging fort. Dass er noch lebt, entnehmen sie den wenigen Nachrichten, die sie über die Berichte anderer erfahren. Ihnen bleibt nur die Hoffnung, dass er es irgendwie überleben wird und nicht doch zu dem Zeitpunkt, an dem eine der Nachrichten sie erreicht, bereits schon tot ist.

Ihre Flucht aus Hama mussten sie dennoch als Glück bezeichnen. Die unendliche Masse an Opfern war so groß, dass es als Zufall zu verstehen war, dass sie es geschafft hatten. Damals hat er seinem Gott noch Dank gesagt und die Familie betete jeden Tag und dankte für ihre Rettung, für das Leben ihres Sohnes. Ihre Flucht aber fand bis heute kein Ende. Seit mehr als zwei Jahren sind sie nun schon unterwegs und haben unzählige Male Orte und Unterkunft gewechselt. Sie flohen so nicht selten direkt vor dem Mündungsfeuer von Granatwerfern und Maschinengewehren. Sie liefen planlos, getrieben, verängstigt und nicht wissend, ob die anstehende Nacht nicht ihre letzte sein wird. Der Mann seiner Tochter geriet vor wenigen Monaten in einen dieser Überfälle der IS-Truppen. Er hatte Besorgungen machen wollen, begab sich auf seinen Weg und kehrte nicht mehr zurück. Sein Schicksal ist seither ungewiss, ob er tot oder verschleppt ist, niemand von ihnen weiß etwas darüber.

Der Terror verbreitete sich wie Lauffeuer. Überall wird gekämpft und niemand ist nirgendwo mehr vor Anschlägen sicher. Sie sehen, wie Autos explodieren, wie Leichenteile durch die Luft fliegen, schützen sich vor den Splittern platzender Granaten. Sie treffen andere Flüchtlinge, kauern in zerschossenen Häusern, hören die Jeeps der Banden an sich vorbeifahren. Manchmal stoppt ein Fahrzeug nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt. Sie können beobachten, wie die Kämpfer Menschen aus ihren Verstecken ziehen. Die Frauen an den Haaren, an den Kleidern oder Beinen. Sie hören, wie die Männer mit Schüssen in den Kopf hingerichtet werden, sehen blitzende Schwerter niederfahren, wie sie die Hälse durchtrennen.

Manche unter den Flüchtlingen erzählen von ihren Leiden. Sie berichten, wie sie sehen konnten, wie ihre Nachbarn, nur zwei Häuser weiter, getötet wurden. Bei ihren Darstellungen weinen sei mitunter die ganze Nacht. Die Bilder würden ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen. Bilder von schwangeren Frauen, die lebendig auf Stangen gespießt werden und noch über Stunden im Wahnsinn schreien. Sie erzählen auch von Vätern, die in der letzten Sekunde ihre Frauen und Kinder erschießen und sich dann selbst richten. Und alle sagen immer wieder, dass sie sich für den Fall der Gefangennahme einen schnellen Tod wünschen, nicht aber verschleppt werden, niemals freiwillig der Folter ausgesetzt sein wollen.

Der alte Mann hat die ersten Händlergassen erreicht. Er findet eine offene Tür eines kleinen Ladens, der offenbar noch ein wenig Obst und Brot anbietet. Auch ein paar Kerzen und etwas Ziegenmilch kann er abgeben. Er verlangt aber einen viel zu hohen Preis. Der Alte kauft das Brot und sagt, dass er vielleicht noch einmal zurückkommt. In der nächsten Gasse hat er mehr Glück. Die Preise sind immer noch zu hoch, aber besser. Der Alte beschließt, hier das Beste daraus zu machen und verhandelt lange. Es erscheint ein zweiter Interessent. Als er den Blick des Alten sieht, hält er inne und wartet, bis das Geschäft erledigt ist. Er wird dann kaufen, was übrig bleibt.

Der Mann hält ein Telefon in der Hand. Als er bemerkt, wie der Alte darauf schaut, lässt er es schnell in der Tasche seines Kaftans verschwinden. Der Alte nimmt seine Sachen und geht wieder nach draußen in die Gasse. Er geht aber nicht weiter. Er wird versuchen, den noch im Laden stehenden Mann abzufangen. Er wird ihn anlächeln, ihn freundlich begrüßen. Er muss ihn fragen, ob er eine Nachricht absetzen kann. Nur ein ganz kurzes Lebenszeichen an seinen Sohn, Sharif al-Basir, in Deutschland.

5

An diesem Tag werde ich nicht zu einem Einsatz gerufen. Es wird häufiger, dass man mich nicht benötigt. Insgeheim bin ich aber auch ganz froh darüber, denn wir haben uns verabredet, nochmals über unseren Fund zu sprechen. Als ich mit meinem spärlichen Abwasch fertig bin, sehe ich durchs Fenster nach unten in den Hof. Da sitzt Julius auf der Bank. Es ist früher Nachmittag und so wundere ich mich, ihn schon hier zu sehen.

Ich öffne das Fenster und rufe besorgt hinaus: „Julius! Alles in Ordnung? Hast Du heute frei?“

Julius schaut zu mir herauf und schüttelt traurig den Kopf.

Ich zögere nicht: „Komm herauf zu mir, mein Junge. Ich mache Dir einen Kaffee.“ Dann schließe ich das Fenster wieder und kurz darauf erscheint ein leichenblasser junger Mann in meiner Wohnung.

„Bin gefeuert!“ sagt er nur kurz und setzt sich hin.

„Waaas!?“ ich traue meinen Ohren nicht. „Wieso, wann, warum …?“

„Schlechte Zahlen, Zeitungskrise. Jetzt hagelt es Stellenkürzungen!“ antwortet Julius kurz.

„Ja, aber … das ist doch eine Sauerei!“ stammele ich und erinnere mich daran, dass ich das ja auch schon einmal am eigenen Leib erfahren habe.

Julius ist niedergeschlagen: „Ich bin am untersten Ende der Sozialauswahl, wie man sagte. Nicht verheiratet, habe keine Kinder, bin erst kurze Zeit in der Firma und jung genug, um am Arbeitsmarkt noch alle Chancen der Welt zu haben.“

Die Begründung bei mir damals lautete anders. Das war dann aber auch das Einzige. Der Rest scheint gleich. Doch daran möchte ich jetzt nicht denken und ich trinke meinen Kaffee, den Blick auf meinen jungen Gast gerichtet, der sich wie ein Häuflein Elend an meinen Tisch gesetzt hat. Einen blöderen Zeitpunkt hätten die sich auch nicht aussuchen können, schießt mir durch den Kopf. Julius ist unruhig, er will das alles jetzt auch gleich Marta berichten. So macht er sich auf den Weg zu den Treppen hinauf zu ihrer Wohnung.

Kurz darauf klopfen die anderen an meiner Wohnungstür und ich mache mich zum Gehen bereit. Wir wollen in unsere Stammkneipe `Bei Erwin´. In der kleinen Wirtschaft, die nur wenige Straßen von uns entfernt ist, darf tatsächlich noch geraucht werden. Der Wirt hat sich mit nobelpreisverdächtiger Logik dafür entschieden, das Wenige, was seine Gäste bisher in seinem Etablissement gegessen haben, zu Gunsten eines Zugewinnes an Alkoholabsatz zu opfern. Er kam in seiner Berechnung dabei auf deutlich mehr Geschäft für sich, schloss seine Küche und ließ sich seine Gäste fortan nicht nur dem Nikotin, sondern vor allem nun dem Suff hingeben.

Wir haben uns an den Tisch am Fenster in der Ecke gesetzt und bestellen jeder einen Humpen voll `Holsten´. Der Wirt knallt die Gläser auf den Tisch und diese sind im Nu geleert. Fredo ordert gleich eine zweite Runde. Wir sind durstig – und nervös.

Fredo schaut in die Runde. „Und? – Wie habt Ihr alle Eure letzte Nacht verbracht?“

Ruprecht jault auf: „Mensch, Fredo. Mach doch nicht solch einen Umweg. Ich wusste genau, dass Du damit anfangen wirst …“

„Womit denn?“ Fredo gibt sich als Unschuldslamm. „Sprechen ist kein Verbrechen, oder?“ Er strotzt nur so vor Tatendrang.

Ruprecht gibt aber nicht auf: „Ihr seid doch bekloppt, wenn Ihr glaub, Ihr könnt …“ dann räuspert er sich und fährt leiser fort, „ … na, mit dem, was wir da gefunden haben, … na ihr wisst schon!“

„Wir wissen im Moment noch gar nichts.“ sage ich ruhig. „Aber zu Deiner Frage, wie ich die letzte Nacht geschlafen habe: schlecht.“

Fredo beugt sich über den Tisch und wir anderen rücken automatisch näher: „Freunde, überlegt doch einmal, was uns der Herr in seiner großen Güte da ins Nest gelegt hat.“ Fredo rückt noch näher. „Wir alle haben Ebbe in der Kasse. Das Pech, das allein an diesem Tisch sitzt, könnte für hundert unglückliche Leben reichen.“ Er schaut in die Runde. „Keiner von uns kann behaupten, dass das Schicksal es wirklich gut mit ihm gemeint hat. Und es gibt immer noch mal einen oben drauf. Für jeden von uns, sogar Julius bleibt nicht davon verschont.“

Das nächste Bier kommt. Wir rücken schnell wieder auseinander und schauen, wie der Wirt die Humpen auf die Bierdeckel absetzt. „Na, plant Ihr einen Bankraub …?“ der Wirt grinst und geht wieder.

Fredo schaut ihm hinterher und flüstert weiter. „Der hat keine Ahnung und bringt nur dumme Sprüche.“ Dann rückt er wieder näher an uns heran. „Stellt Euch doch nur einmal vor, wir machen einfach erst einmal nur ein paar Versuche. Nur um zu sehen, ob wir was hinbekommen und wie das dann aussieht.“ Er macht eine Pause und schaut uns kurz reihum an. „Ich meine, wir wissen ja gar nicht, wie man Farbe auf Papier bekommt, so, dass es echt wirkt. Aber Versuch macht klug – oder? Wir hängen ein paar Zeitungen vor die Fenster und werkeln ein bisschen vor uns hin. Und wahrscheinlich bekommen wir auch gar nichts hin. Wir können ja noch nicht einmal die Maschinen bedienen. Aber den Spaß können wir uns doch wenigstens machen.“

Wie immer hat Fredo mit seiner Logik etwas Bestechenden. Wir sind zwar nicht überzeugt, aber so Recht haben wir dem auch nichts entgegenzusetzen.

Nur Ruprecht kann erwidern: „So lange wir im Keller ein paar Kartoffelstempel schnitzen, um mit unserem Tuschkasten kleine Bilder auf den Zeichenblock zu drucken, wird uns niemand etwas anhaben können.“ Er schaut ruhig in alle Gesichter. „Hier aber sprechen wir gerade über etwas anderes. Im Strafgesetzbuch gibt es dafür Paragraphen, nach denen wir künftig allesamt schwarz-weiß-gestreifte Kluft tragen. Das ist kein Spielchen, meine Herren. Worüber wir hier gerade reden, ist ein Kapitalverbrechen.“

„Vier Wodka, Herr Wirt!“ Fredo ist rot im Gesicht. „Die gehen natürlich auf mich!“

„Uns besoffen zu machen, macht das auch nicht besser!“ kontert Ruprecht.

„Besser nicht, aber lockerer …!“ sagt Fredo grinsend. „Und ich denke, dass wir gerade ein recht schönes Spielchen begonnen haben. So richtig ernst wird das doch niemand von uns nehmen, oder? Ein wenig für unsere Fantasie, meine Lieben. Einfach, um sich ausdenken zu können, was man mit ein paar Millionen bester Blüten auf originalem Banknotenpapier anfangen könnte. Macht doch riesigen Spaß.“

Und nach einer kurzen Pause fährt Fredo fort. Zuvor hat er uns allen aber eindringlich in die Augen geschaut. „Nehmen wir das alles doch mal so: Bevor nicht ein Tropfen Farbe auf irgendein Papier kommt, ist nichts geschehen.“

Ich beginne mich mit diesem Gedanken anzufreunden: „Ein paar lustige Überlegungen anzustellen kann doch wirklich weder verboten, noch falsch sein.“

Fritz scheint das ähnlich zu sehen: „Ja, fassen wir das alles Mal als Gedankenspiel auf, als Übung für unsere müde gewordenen Gehirne. Lasst uns doch ein paar kitzelnde und freche Gedanken träumen. Das kann doch keiner ernst nehmen. Und bestraft werden kann man dafür doch nun wirklich nicht.“

Wir schauen uns in der Runde gegenseitig an. Ruprecht hat sich mit dem Rücken in die Lehne gepresst und hält die Arme verschränkt vor die Brust. Er schüttelt leicht den Kopf und schaut aus den Augenwinkeln auf das Geschehen. Fredos Augen flackern, leuchten. Er strahlt das pure Glück aus und bestellt deshalb auch gleich noch die dritte Runde.

Nach einer mehrminütigen Pause und abermals gefüllten Gläsern, fangen wir wieder zu sprechen an. Wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht allzu laut werden und uns so ausdrücken, dass selbst neugierige Ohren nicht kapieren, worüber wir hier reden.

Überraschender Weise ist es jetzt Ruprecht, der scheinbar auch Geschmack an unserem Gedankenspielt gewonnen hat: „Zugegeben, das vorhandene Material ist verlockend. Da ließe sich Einiges mit anstellen.“ sagt er fast mit sich selbst redend. „Fest aber steht, dass hier niemand am Tisch sitzt, der Verbindungen zum organisierten Verbrechen hat, wahrscheinlich auch nicht haben möchte. Eine solche aber ist von Nöten, denn einen großen Haufen Blüten werden wir nicht so ohne mir-nichts-dir-nichts absetzen können.“

Das leuchtet uns ein.

Und so fährt Ruprecht fort: „Für uns unbescholtene Normalbürger ist das ganz und gar unmöglich. Wie sollen wir denn auch größere Mengen Falschgeld in den Verkehr bringen? Derlei ist der Russen-Mafia oder der sizilianischen Camorra überlassen. Wenn wir also wirklich – ich meine rein theoretisch und … natürlich nur spielerisch – dann irgendwann vor einigen Blütenbündeln sitzen, dann wird das nur ein sehr kleines Volumen ausmachen können.“

Das verstehen wir gerade nicht und schauen Ruprecht fragend an.

Er wird ob unsers Unverständnisses ein wenig ungeduldig: „Ja überlegt doch: Wir können doch nicht eine große Summe, sagen wir mal, nur für unser Gedankenspiel, fünf Millionen, auf das Papier bringen und dann zur Volks- und Raiffeisenbank hereinspazieren, frei nach dem Motto: Können Sie das mal bitte in Hunderter wechseln? Ich sage Euch, ich war einmal mit der Anwaltskammer bei der Kripo eingeladen und da haben wir auch einen Vortrag über Falschgeld gehört. Was glaubt Ihr eigentlich, was da alles zu beachten ist, damit so was im Alltag durchgeht, man nicht gleich in der nächsten U-Bahn verhaftet wird?“

Fritz kontert mit Logik: „Wir aber haben doch echtes Papier, mit Silberstreifen und Wasserzeichen. Der Rest kann doch nicht so schwierig sein. Vielleicht genügt da ja schon wirklich ein einigermaßen guter Farbkopierer.“

Fredo versucht auf den Punkt zu kommen: „Was Ruprecht da sagt, ist schon völlig richtig. Unser Ausgangsmaterial ist zwar echt, alles was drauf muss, ist natürlich ein nicht so mal eben gemacht. Das wird nur mit einer Menge Kopfzerbrechen zu schaffen sein.“

„Und da sind noch diese Hologramme“ sage ich und bin stolz, dass mir das gerade in den Kopf gekommen ist.

Fredo war noch nicht fertig: „Was Ruprecht noch meint, ist die Tatsache, dass wir ja nicht massenweise mit Falschgeld um uns schmeißen können. Immerhin lauern dabei eine Menge Gefahren und wir gehören auch nicht zu einem albanischen Gangster-Kartell. Wenn wir also in irgendeiner Weise etwas Verwendbares herstellen, dann kann es – Ruprecht hat`s gesagt – zunächst nur ein bescheidenes Sümmchen sein. Nur eine unscheinbare Kleinmenge kann real unter die Leute gebracht werden. Und das dann auch nur mit aller Vorsicht.“

In meinem Kopf schwirrt es bereits. Ich versuche mit den Füßen wieder auf den Boden zu kommen: „Ich brauche auch keine vollen Geldspeicher.“ sage ich ganz ruhig. „Ich meine, es ist ja ein Spaß hier, aber wenn wir diesen so weiterspinnen, dann denke ich, dass wir alle – sagen wir mal: mit einer kleinen monatlichen Spritze – zufrieden sein würden, so, dass wir es ein wenig besser haben.“

„Ja, und Julius?“ schaut Willi reihum. „Ihm müssen wir doch auch helfen!“

„Langsam, langsam. Ihr schießt ja schon jetzt über das Ziel hinaus!“ Ruprecht wird wieder etwas leiser. „Das ist genau das, was wir jetzt nicht gebrauchen können. Klar ist doch nur, dass wir morgen nicht hundert Millionen fertig haben und uns darin wälzen können.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Zudem ist da etwas, was unseren Vortrieb erheblich ausbremst: die technischen Fragen. Oder kann hier jemand von Euch drucken? Ist hier ein Experte unter uns?“

„Und Marta!“ sagt Fredo. „Das Ganze unbemerkt hinter ihrem Rücken zu machen, wird das Schwierigste an dem ganzen Vorhaben werden.“

Das sitzt wie ein Peitschenhieb. Marta hatten wir gerade völlig vergessen. Mit ihr ist das alles nicht zu machen. Eher würde sie sterben, als bei einer derartigen Aktion mitzumachen. Noch nicht einmal wegsehen und uns machen lassen, würde ihr in den Sinn kommen.

„Wir suchen einfach einen Käufer, der uns das Papier zu einem fairen Preis abnimmt.“ Willi ist über seine eigene Idee erfreut.

Ruprecht schäumt: „Klasse! Wir gehen auf die Reeperbahn und sprechen jeden an, der nach mindestens zehn Jahren Zuchthaus aussieht. Den fragen wir dann: Möchten Sie vielleicht eine Palette Banknotenpapier kaufen? Oder wir stellen uns mit einem Megaphon auf die Straße: Heute frisches Banknotenpapier. Alles im Sonderangebot.“ Ruprecht ist jetzt fast noch mehr erregt. „ Wenn wir dann drei Mal aufs Maul bekommen haben, klickt beim vierten die Hamburger Acht um unsere Handgelenke und wir logieren ein paar Jahre frei auf Staatskosten. Wir können aber auch richtiges Pech haben und haben damit ein paar Profi-Gangster der organisierten Kriminalität angelockt, die schon für viel weniger einen Mord begangen haben. Mensch! Wir sitzen da auf einem riesigen Berg, mit dem mehr als hundert Millionen hergestellt werden könnte.“

So schön diese Aussichten auch sein mögen, richtig schön sind sie dann auch wieder nicht. Das leuchtet uns jetzt ein.

Fredo spricht jetzt aus, was uns allen gerade klar geworden ist: „Entweder, wir machen da selbst etwas draus, oder wir vergessen das alles wieder ganz schnell.“

Wir ordern noch einmal Bier und auch ein paar Wodkas kommen hinzu. Der Ernst ist bald gewichen und wir lachen laut und jeder von uns hat begonnen, seine Fantasie zum Besten zu geben. Mit der gebotenen Vorsicht tauschen wir nacheinander immer blödere Gedanken aus, wie wir mit einem Bündel von falschen Scheinen in der Tasche die Kohle unter die Leute bringen könnten. Selbst Ruprecht hat eine Idee und meint, es wäre moralisch durchaus verträglich, wenn er in das Gerichtsgebäude gehen würde, an allen seinen wartenden Ex-Kollegen vorbei, sich an der Gerichtskasse anstellt und dann ganz frech bittet, ihm zwei Fünfziger in einen Hunderter zu wechseln. Das würde ja auch niemand wirklich schädigen. Die Gerichtskasse ist ein Bankschalter der Hansestadt Hamburg. Die gibt so viel Geld für Unsinn aus, dass es nur gerecht wäre, wenn er ab und an einmal zur Geldwäsche vorstellig würde. Einmal wöchentlich und er hätte im Monat vierhundert Euro netto mehr in der Tasche. Das wäre schon mal ein Anfang.

Willi gab etwas zum Besten, was seinem aufkommenden Hunger gerecht wurde. Er könnte sich vorstellen, täglich ein paar Pizza-Services anzurufen und sich etwas zu essen in Haus liefern zu lassen. Das würde ihn zum einen satt machen, zum anderen hätte er mit mindestens 35 Euro Wechselgeld auf den Fünfziger zu rechnen. Zwei- bis dreimal die Woche würden dann auch die vierhundert im Monat einbringen und er könnte mit Ruprecht gleichziehen.

Fredo war spitzfindiger. Er würde am Mittwoch und Samstag immer wieder verschiedene Lottoschalter anlaufen und dort seine Tippscheine abgeben. Einerseits könnte er das so steuern, dass er immer einen guten Batzen Wechselgeld dabei macht, zum anderen bestünde ja eine gute Chance auf einen tatsächlichen Lotteriegewinn. Wir sollten uns mal vorstellen, dass er damit einen Sechser mit Zusatzzahl macht. Und da die Lottoeinnahmen ohnehin weitgehend vom Staat abgezogen werden, ist er damit mindestens ebenso honorig, wie Ruprecht mit seiner Gerichtskasse.

Mir selbst will einfach nichts Gescheites einfallen und ich gebe auf, darüber nachzudenken. Wir haben jetzt schon alle reichlich getankt und es wird Zeit für uns, dass wir nach Hause gehen. Es ist inzwischen Abend geworden und es regnet mal wieder. Einen Schirm hat keiner von uns mit. Wir schlagen die Kragen hoch und gehen schnellen Schrittes durch das berühmte Hamburger Schietwetter.

Marta sitzt derweil zuhause auf ihrem Klavierhocker und sortiert ihre Notenhefte für die in den nächsten Tagen anstehenden Unterrichtsstunden. Ihr bleibt es nicht verborgen, dass die einlaufende Mannschaft wieder einmal ganz gut getankt hat. Unsere Schritte sind entsprechend laut und auch stimmlich sind die Zügel locker. Marta schmunzelt. Gut, dass die Männer es immer schaffen, sich ein kleines Stückchen heile Welt zu bewahren. Es reichen ein paar Quadratmeter in einer stickigen Spelunke, und sie sind ebenso glücklich, wie Matrosen beim langersehnten Landgang.

Marta steht auf und schaut noch einmal aus dem Fenster, hinunter in den Hof. Der Regen ist noch einmal stärker geworden und dicke Tropfen prasseln an die geschlossenen Scheiben. Morgen möchte sie wieder auf den Friedhof, das Grab von Kalli besuchen. Sicher muss sie dort ein wenig Ordnung herstellen, denn ihre Blumen werden ganz bestimmt schon verwelkt sein. Außerdem wird ihr die Ruhe guttun und sie hat dadurch ein wenig Abwechslung. Am Nachmittag wird sie dann noch eine Stunde geben. Eine neue Schülerin, Anfängerin aus der Elbchaussee. Sie wird nicht merken, dass das Klavier unbedingt gestimmt werden muss.

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