Читать книгу: «Das Kontingent», страница 6

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Der Kämpfer links neben ihm war schnell gestorben. Ein glatter Kopfschuss. Das Projektil ist kurz unterhalb der Mütze nahezu mittig in die Stirne eingetreten und mit einem platzenden Geräusch am Hinterkopf wieder herausgeschnellt. Ein Stück Schädelknochen flog dabei mit und wird jetzt irgendwo, einige Meter hinter dem Toten, zwischen den Steinen liegen. Der Mann ist leicht zur Seite gesackt und sein Kopf liegt in einer Lache seines eigenen Blutes.

Der junge Mann neben dem Toten schaut unbeirrt weiter über den Lauf seines Gewehres. Er hat Glück, weil er eine neue Schnellfeuerwaffe bekommen hat. Die ist zuverlässig und schießt sehr genau. Rechts neben ihm hat sich eine junge Frau positioniert. Sie hat sich gerade auf den Rücken gedreht und ist außer Atem. In ihrem Militäranzug sieht sie sehr maskulin aus und man muss schon zweimal hinsehen, um festzustellen, dass sie ein noch recht junges Mädchen von vielleicht gerade einmal siebzehn Jahren ist. Sie hat ihr Kampfmesser genommen und ritzt damit einen Strich in den Kolben ihrer Kalaschnikow. Es ist die dreiundzwanzigste Kerbe.

Eine nahe Explosion einer Granate zwingt beide dazu, die Köpfe zwischen die Schultern zu nehmen. Der junge Mann nimmt nochmals eine bessere Deckung ein. Das war nah, denkt er. Und auch der Blick des Mädchens drückt aus, dass hätte jetzt auch schief gehen können. Gleich darauf haben beide ihre Gewehre wieder im Anschlag und feuern in die ihnen in circa achtzig Metern gegenüberliegende Häuserfront.

Während er eher mit Bedacht und mit der gebotenen Sorgfalt zielt und erst feuert, wenn er sich sicher ist, einen guten Schuss zu setzen, ist das Mädchen ungestüm und wild. Sie schießt kleine Salven, nicht wie er, der seine Automatik auf Einzelschüsse eingestellt hat. Sie ist der Meinung, dass sie so eine größere Chance hat, einen zu erwischen. Er spart lieber Munition und will sich des Schusses sicher sein, bevor er abdrückt. Am besten jede Kugel ein Treffer.

Trotzdem gefällt ihm ihre Art. Noch vor wenigen Wochen hat sie die Schafe und Ziegen ihrer kleinen Familie auf den Hügeln hinter der Stadt gehütet, zusammen mit ihrem Vater. Sie haben die Tiere gemolken oder Wolle gesponnen, Wasser geholt und der Mutter beim Kochen zugeschaut. Bis vor kurzer Zeit hat sie sogar regelmäßig die Schule im Dorf besucht. Und sie war eine gute Schülerin. Ihr Vater hatte Angst, als sie ihm sagte, sie würde in den Kampf gehen. Er hat sie aber nicht zurückgehalten. Kurz danach hat er es seiner Tochter gleichgemacht und manchmal, wenn Allah es will, treffen sie sich in irgendeinem Lager. Dann ist er besonders stolz auf sie.

Die Mädchen und Frauen, die mit ihnen gemeinsam kämpfen, haben unter den Männern größten Respekt. Nicht allein deshalb, weil sie gleichwertig neben ihnen ihr Leben für das Land, die Freiheit und Frieden einsetzen. Es ist auch die Tatsache, dass der Feind, getötet von einer Frau, besondere Schmach erfährt. Nach seinem Glauben kann dann nicht mehr in das gelobte Paradies eingekehrt werden. Man ist beschmutzt und unwert, weil man einer Frau zum Opfer gefallen ist.

Und es kämpfen deshalb viele Frauen an den Seiten der Männer. Frauen, die Muslima sind, Frauen die Alawiten, Schiiten oder Christen sind, Töchter, Mütter, Ingenieurinnen und Bauernmädchen. Sie kämpfen Schulter an Schulter mit ihren Kameraden, ungeachtet der Tatsache, dass sie im Falle ihrer Gefangennahme ein weit schrecklicherer Tod erwartet, als den Männern. Das Mädchen neben dem jungen Mann hat für einen solchen Fall Vorsorge betrieben. Sie hat einen kleinen, stets geladenen Revolver bei sich. Ein 36er Kaliber mit kurzem Lauf, leicht zu handhaben, schnell in den Mund zu halten.

Vor ihnen wird nicht mehr gefeuert. Auch Granaten sind nicht mehr zu hören. Entweder haben sich die Gegner an dieser Stelle gerade zurückgezogen, oder sie wurden getötet. Als nächstes ist jetzt die Aufgabe zu erledigen, aus der eigenen Deckung heraus die Distanz nach vorne zu überwinden und die Ruine zu besetzen. Sie sind hier jetzt insgesamt etwa fünfzehn Kämpfer. Die Zahl der Feinde gegenüber wird mindestens viermal so groß sein. Munition oder Handgranaten haben sie nur noch wenig. Es reicht sicher nicht, um sich in einem anstehenden Häuserkampf behaupten zu können. Doch zurück werden sie auch nicht gehen. Das heute und hier geflossene Blut der Brüder und Schwestern lässt das nicht zu.

Aus dem zurückliegenden Bereich rücken ein Dutzend Kämpfer nach. Der junge Mann ist erleichtert. So wird es einfacher und ist nicht mehr ganz aussichtslos. Einen Rückzug auf der Gegenseite können sie zwar nicht wirklich erwarten. Mit Glück formieren sie sich lediglich aufgrund der Verluste gerade neu. Dann wäre ein schnelles Vorrücken jetzt die richtige Taktik.

Es wird auch nicht gezögert. Ein kurzer Blick über das vor ihnen liegende Gelände, die Felsen, Deckungsmöglichkeiten und die Lage der toten Kämpfer, ihre Waffen und Munition. Dann springen sie auf und rennen, so gut es geht in gebückter Stellung, mit der Waffe in der Vorhalte auf die Ruinen vor ihnen zu. Kaum sind sie in Bewegung, wird in fast gleicher Sekunde das Feuer auf sie eröffnet. Es liegen scheinbar doch noch ein paar der feindlichen Kämpfer hinter irgendwelchen Steinen oder Mauern und die Geschosse zischen durch die Luft. Der junge Mann hört die Projektile an seinem Kopf vorbeisausen, hört das dumpfe Einschlagen in den Brustkorb seines Nebenmannes, hört, wie dieser im Lauf zusammenkracht und wie dessen Schädel auf dem Felsstück aufschlägt und aufplatzt.

Der junge Mann läuft weiter, unbeirrt, schießt auf die Stellen, wo er gerade noch Mündungsfeuer gesehen hat. Er merkt gar nicht, dass er schreit, mit weit aufgerissenem Mund wie ein Tier zu brüllen begonnen hat. Seine Augen sind blutrot und er hat nur eines im Sinn: so viele zu töten, wie Gott es ihm möglich macht.

Er erreicht die Ruinen vor ihm. Deckung gibt ihm ein Betonpfeiler und er sieht, wie wenige Meter weiter ein IS-Kämpfer liegt und seine Waffe nachlädt. Der junge Mann greift sein Kurzschwert, das er am Gürtel trägt, und während er sich mit kurzen und überaus schnellen Sprüngen zur Deckung des feindlichen Kämpfers bewegt, hat er es aus dem Gürtel gezogen und sticht es mit aller Wucht auf den immer noch nachladenden Mann ein.

Er trifft nicht etwa dessen Brust. Sein kurzes Schwert landet mit der Spitze voran direkt im Kehlkopf des Feindes, dessen Augen vor Schmerz und Todesangst hervorquellen, als seien sie Tennisbälle. Der junge Mann bewegt sein Schwert geschickt und ruckartig in verschiedene Richtungen. Als er es mit gleichem Schwung herauszieht, ist der Hals des bereits Toten fast ganz durchtrennt.

Er hört einige kurze, halblaute Rufe seiner Mitkämpfer, die signalisieren, dass der Ruinentrakt feindfrei sei. Das Gebäude ist stark beschädigt und die Mauern sind von Geschossen und Granatsplittern durchsiebt. Einige der Kämpfer beziehen gleich Posten. Ihr Anführer hat eine kurze Einteilung befohlen und die entscheidenden Positionen besetzt. Mit der restlichen Truppe macht er eine kurze Bestandsaufnahme. Dieser Angriff hat nur vier seiner Leute das Leben gekostet. Ein gutes Ergebnis.

An ihrer linken Flanke hatte ein Trupp mit zehn Kämpferinnen geholfen, diesen Komplex zu erobern. Diese Gruppe ist ein Teil einer Gemeinschaft von syrischen Frauen, die sich in den Kampf begeben haben. Er besteht ausschließlich aus Frauen, meist jüngeren. Sie haben wieder einmal mutig und mit besonderer Härte gekämpft und liegen jetzt im Nebengebäude.

Das Mädchen mit der Kalaschnikow kämpft lieber mit den Männern. Sie hat sich neben dem jungen Mann gesetzt. Ihr rinnt eine Blutspur von der rechten Stirnseite am Gesicht herunter. Die Wunde scheint aber schon getrocknet und damit wohl nicht so schlimm zu sein. Sie nimmt von ihrer Verletzung keinerlei Notiz und schnitzt in ihren Gewehrkolben bereits wieder eine Kerbe und gleich drauf eine weitere. Stumm sitzt sie da, schaut niemand an.

Der Kommandant der kleinen Truppe hat einen schmutzigen Zettel in der Hand und geht reihum. Alle sagen ihren Namen und er notiert sich diese. Als er bei dem jungen Mann ist, sagt auch dieser ihm leise seinen Namen: al-Basir, Abu. Als ihr Führer alle Namen hat, gibt er seine Lage, die Namen der Überlebenden und einige Informationen an seine Führung weiter.

Noch nicht einmal zwei Kilometer von dieser Ruine, in der Zone, die bisher noch kein Kampfgebiet ist, kommt ein alter Mann gerade wieder von seinen heutigen Besorgungen zurück. Er wurde von seiner Familie schon von Herzen erwartet. Der Vater von Sharif und Abu al-Basir hat heute nur ein wenig weißes Brot kaufen können, mehr nicht. Er wird es am darauffolgenden erneut versuchen, Besseres für seine Frau, die Tochter und seine Enkelin zu besorgen. Und die Seinen werden wieder auf ihn warten, hoffen, dass er auch diesmal unversehrt wiederkommt.

9

Marta und Julius stehen noch eine kurze Zeit schweigend vor der Grabstelle auf dem Altonaer Hauptfriedhof. Marta hatte eben noch die verwelkten Blumen entsorgt und einen kleinen Strauß weißer Rosen in eine der grünen Stecktöpfe vor dem Grabstein platziert. Der einzige Schmuck, den die ansonsten schlichte Grabstelle ziert. Nach einiger Zeit des Innehaltens schauen sie sich an, dann machen sich wieder auf den Rückweg zum Auto.

Schweigend gehen sie über die sandigen Wege des Friedhofes. Wäre dieser nicht ein Ort der Trauer, könnte man auch meinen, es handele sich um einen schönen Park. Herrliche alte Bäume säumen ihren Weg. Sie gehen an so manch prunkvollem Grab mit monumentalen Steinen, Kreuzen und Inschriften vorbei, lesen Namen, Geburts- und Sterbedaten. Hier liegen Familien und berühmte Väter der Stadt, Künstler, Senatoren oder erfolgreiche Kaufleute. Üppige Rhododendren, hohe Zypressen, kunstvoll beschnittene Buchsbäume und prächtige Oleander mit dunkelroten oder elfenbeinfarbenen Blüten zieren die Gräber und grenzen die großen Familiengräber hochherrschaftlich von den unbedeutenden, kleineren ab.

Selbst im Tod muss scheinbar der Nachwelt belegt werden, mit welcher Kapitalausstattung der Verstorbene seine Nachkommen versorgt hat. Dabei reicht wohl ein polierter Marmorblock nicht immer. Kleine Mausoleen, mit protzigen Säulen und kupfernen Dächern, mit eigener Wegeführung und schweren schwarzen Ankerketten, die als Zäunung satt an den gusseisernen Säulen hängen, sollen dem Besucher sagen: hier ruht jemand, der etwas ganz Besonderes war. Haltet Abstand, bestaunt sein Lebenswerk, habt Ehrfurcht. So beerdigt zu sein, ist eigentlich nur Königen vorbehalten. Sie sehen schwarze Obelisken, auf goldgefassten Fundamenten, die Spitze in den Himmel ragend, hoch hinaus, schier bis zu den Wolken reichend, einen langen Schatten auf andere Gräber werfend, so, als wollte der hier beerdigte Mensch auch noch nach seinem Ableben das warme Licht für sich allein reservieren.

Sie gehen auch an dem Feld der anonym Bestatteten vorbei. Eine große Wiese, mit breiten Sandwegen umrahmt, mit Holzbänken am Rande und einer angenehmen Stille. Wer hier liegt, wollte kein Aufheben um sich, keine Tränen vor poliertem Granit, wollte eingelassen werden, in den Schoß der Erde und sich den Ort nur mit anderen Seelen teilen, die wie er, ungestörten, schnörkellosen Frieden suchen.

Marta und Julius erreichen das weiße Gatter am Friedhofseingang. Erst jetzt möchten Sie wieder sprechen.

„Marta“, sagt Julius. „Ich weiß, dass er Dir mehr bedeutet hat …“

„Und ich weiß, dass Du es schon lange weißt.“ beruhigte ihn Marta.

„Du warst für mich immer meine Mutter. Dafür möchte ich Dir heute danken.“ Julius hakt Marta unter und drückt ihren Arm.

Marta möchte vom Thema ablenken: „Was wirst Du jetzt tun?“ fragt sie ihren jungen Begleiter. „Du musst jetzt an Dich denken, Dir schnell wieder einen Job suchen und alles, was zu regeln ist, hinter Dich bringen.“

„Leichter gesagt, als getan.“ seufzt Julius nachdenklich. „Wenn es der Job allein wäre. Aber die Schulden, die jetzt da sind, auch noch die Kosten für die Bestattung. Auf die Schnelle ist all das nicht einmal einfach so zu regeln.“ Und nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: „Ich bin völlig ratlos und ich habe Angst, Marta.“

„Ich habe leider keine Mittel, mit denen ich Dir helfen könnte.“ gibt Marta schweren Herzens zu. „Die letzten Piselotten auf meinem Sparbuch sind höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber ich werde sie Dir gerne geben. Vielleicht helfen diese Dir wenigstens, die ersten Hürden zu nehmen“

Julius schüttelt vehement den Kopf. „Das wirst Du schön bleiben lassen. Deinen Notgroschen werde ich ganz bestimmt nicht an mich reißen und den Bankfritzen in den Rachen schieben.“ Er ist ganz bestimmt in seiner Antwort. „Nein, eher überfalle ich einen Geldtransporter …“

„Gott bewahre!“ ruft Marta entsetzt. „Dich auch noch ins Unglück stürzen … nein! Und wenn ich Dich im Klo einsperren sollte, aber das würde ich schon zu verhindern wissen.“ Die alte Dame lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie es ernst meint. Aber sie lächelt bereits wieder.

„Ich gebe mich geschlagen“, sagt Julius schnell. „Dem Klo ziehe ich dann doch ein gutes Essen in Freiheit vor. Komm, ich lade Dich zu einer Portion Spaghetti di Mare bei Vito ein.“

„Machen wir, aber nur unter einer Bedingung“, antwortet Marta. „Ich zahle!“

Während sie zum Restaurant fahren, ist Marta wieder ganz still und nachdenklich. Sie mag es zwar sehr, ruhig im Auto zu sitzen und die schöne Stadt an sich vorbeiziehen zu lassen, doch ihre Gedanken lassen wenig Freude aufkommen. Sie schaut auf die großen alten Häuser aus den Zwanzigerjahren, die gepflegten Vorgärten und die großen Kastanien, die in dieser Gegend häufig rote Blüten tragen. Gerade hier, zwischen Altona, Ottensen und den sich gen Westen erstreckenden Elbvororten, ist der Unterschied zwischen den Armen und Reichen besonders deutlich erkennbar. Es ist fast wie eine Reise in eine andere Welt. Unerreichbar und mit kühler Schönheit.

An vielen Stellen ist das Bild Altonas geprägt von Mietskasernen, klapprigen Wohnblöcken und ärmlichen Straßen, die sich nach und nach zu kleinen Ghettos wandeln. Hier lebt der Teil der Bevölkerung, der immer ärmer wird. Die geringen Mieten saugen förmlich die Armut an. Hier leben kleine Rentner, Sozialhilfeempfänger und ausländische Familien. Die Straßenbilder sind geprägt von langen Mänteln, verschiedenen Sprachen und den kopftuchtragenden Frauen.

Wo sie jetzt aber fahren, nur einen Katzensprung von all dem entfernt, zwischen Elbstrand und der Osdorfer Landstraße, beginnt das Revier der Reichen. Villen, inmitten großer Gärten, mit alten Bäumen und hohen Zäunen, reihen sich schier ununterbrochen aneinander. Kaffeemühlen, so genannt, weil sie an die Form alter Kaffeemühlen erinnern, rote, meist quadratisch gebaute Backsteinhäuser mit weißen Fenstern und ausladenden Eingangstüren, stehen neben herrlichen mehrstöckigen Jugendstilvillen, stuckverziert, in strahlendem Weiß oder zartem Gelb, mit grünen Kupfertürmchen und breiten, geschwungenen Treppen hinauf zu ihren doppelflügeligen Eingangsportalen.

Sie fahren durch eine Kastanienallee, an hohen weißen Mauern vorbei, hinter denen ausladende Appartementblöcke liegen. Weiße Paläste mit Penthäusern und gläsernen Terrassen. Sie fahren über kopfsteingepflasterte, schmale Straßen, vorbei am Derbyplatz, dann entlang des Jenischparks mit seinem kleinen Schlösschen, passieren Straßen mit klangvollen Namen, wie Baron-Vogt-Straße, Jürgensallee oder Parkstraße. Hier zu wohnen ist ein Privileg und für die Allgemeinheit unerschwinglich.

Die Schulen dieser Gegend haben keine sozial unverträgliche Vermischung, kein Übergewicht der türkischen oder arabischen Sprache. Sie sind `sauber´, sie gehören den Erfolgreichen, erfreuen sich höchsten Spendenaufkommens und bleiben elitär, für andere unzugänglich. Die vielen Drogenprobleme der Kinder aus den umliegenden besten Häusern werden still und ohne Aufheben intern geregelt. Man kennt das seit Jahren und offiziell ist ein derartiges Thema nicht existent. Man hat hier keine Probleme und im Falle einer zu großen Auffälligkeit wird der Schüler dezent in ein adäquates Internat umgeschult.

Marta und Julius erreichen das italienische Restaurant, welches rückwärtig zur Altonaer Kinderklinik liegt. Sie steigen aus und setzen sich an einen Tisch, der von einer großen blau-weißen Markise überdeckt ist. Sie werden jetzt bestellen und sich Mühe geben, eine Stunde nicht an all ihre Probleme zu denken.

Während die beiden bei Antipasti und Spagetti di Mare sitzen, sind wir anderen fast in unmittelbarer Nähe. Der Altonaer Bahnhof liegt wenige Autominuten vom Restaurant entfernt und weder Marta, noch Julius ahnen, dass dort gerade etwas Aufregendes passiert.

Fredo hat es in der Bahnhofsvorhalle besonders eilig und geht unserem kleinen Männer-Trupp dominant voran. Willi versucht mit aller Macht unverdächtig auszusehen. Künstlich schlendert an der Seite von Ruprecht und fällt dabei so auf, dass er sich auch gleich ein Schild mit der Aufschrift `Taschendieb´ vor seine Brust hätte halten können. Fritz ist unsicher, ihm ist die Sache sichtlich unangenehm. So schwitzt er gerade noch mehr, als sonst. Fredo aber geht unverblümt an den Informationsschalter. Dort erkundigt er sich nach dem Ort, wo die Schließfächer für die Gepäckaufbewahrung zu finden sind. Ich sehe, wie ihm mit dem Finger die Richtung gezeigt wird. Fredo nickt der jungen Frau im Schalter einen kurzen Dank zu und deutet uns anderen mit dem Kopf dorthin, wo die Schließfächer sein sollen.

Kurz darauf nähern wir uns dem Bereich und zögern gleich wieder. Ruprecht gebietet, kurz noch einmal zusammen zu kommen und möchte etwas erklären.

„Also, ich denke, es ist nicht unbedingt förderlich, wenn wir uns jetzt zu fünft vor die Schließfächer begeben und blöd wie Ochsen dreinschauen.“ Er sieht uns reihum an und prüft unser Einverständnis. „Ich schlage vor, dass Fredo und ich zu zweit an die Schränke gehen und erst einmal schauen, ob es hier überhaupt ein Fach mit dieser Nummer gibt. Sollte es kein Fach geben, dann kommen wir ohne weitere Anzeichen einfach wieder zu Euch zurück. Ihr könnt ja eine Rauchen und Euch über das Wetter unterhalten.“

Er schaut wieder in unsere Runde. Kein Widerspruch.

„Sollte es diese Nummer tatsächlich hier geben, wird sich Fredo unauffällig so hinstellen, dass ich kurz den Schlüssel probieren kann. Passt dieser nicht, brechen wir ab und kommen ebenfalls wieder sofort zu Euch zurück.“

Nach einer kleinen Pause fragt er: „Ist das so klar? Oder gibt es noch Fragen?“

Wir schütteln alle verneinend den Kopf. Unsere Anspannung aber wächst sekündlich und ich spüre, wie mir der Schweiß unter meinem Hemd den Rücken herunterläuft. Willi ist knallrot bis blau im Gesicht und ich habe für eine kleine Sekunde Angst, dass er uns jetzt hier umfällt.

Ruprecht wendet sich noch kurz an Willi: „Und Du mein Freund, komme bloß nicht auf den Gedanken Deine Lippen zu spitzen und herum zu pfeifen. Pfeifen ist noch verdächtiger, als sich ständig umzusehen.“ Er schaut noch kurz in unsere Gesichter. „Bleibt alle ganz locker – wir machen das schon!“

Dann geht er mit Fredo schlendernd zu den Fächern. Während sie näherkommen, schauen sie schon nach den erkennbaren Schließfachnummern und schlagen dann einen Haken nach links, um gleich wieder rechts hinter der ersten Reihe zu verschwinden. Meine Spannung wächst noch einmal und ich zittere, so dass ich meine Hände in die Hosentasche stecke. Ich will mit meinen drei bei mir stehenden Freunden ein lockeres Thema anfangen, mir fällt aber keines ein. Schließlich rede ich tatsächlich über das Wetter:

„Sicher wird es in den nächsten Stunden trocken bleiben.“ vermute ich und lasse dabei die Schließfächer nicht aus den Augen.

„Naja, man kann ja nie wissen. Könnte auch regnen.“ erwidert Fritz.

„Ich glaube aber, dass es sonnig bleiben wird.“ sage ich wieder.

„Oder es regnet.“ auch Willi beteiligt sich.

„Jaaah …. oder eben das.“ Ich bin mir vollkommen bewusst, dass wir uns absolut bescheuert verhalten und hoffe, dass uns niemand belauscht.

Aber wer sollte sich schon für uns hier interessieren. Die Menschen um uns herum huschen und eilen entweder von den Zügen heraus auf die Straßen, oder eben herein, um ihre Bahnen nicht zu verpassen. Es ist geschäftig und teilweise hektisch. An den vollsten Stellen stehen Männer, die die `Penner-Zeitung´ verkaufen, an verschiedenen Ecken sitzen Obdachlose, die mit einem Pappschild am Boden um ein Almosen bitten. Ein einzelner Bettler humpelt an einem krummen Gehstock langsam durch den Bahnhof. Er hält einen leeren Plastikbecher vor sich, solch einen, den es in den Kaffeeautomaten gibt. Zitternd, stumm und irgendwie penetrant hält er diesen den vorbeihuschenden Passanten hin. Aber nur selten fällt dort etwas für ihn ab.

Ich drehe mich kurz um und sehe, wie zwei Polizisten auf ihrem Streifengang in unsere Richtung kommen. Einer von ihnen trägt eine Maschinenpistole vor dem Bauch. Beide haben Schusswesten an, tragen an ihren Koppeln gut gesicherte Pistolen, und ihre weißen Mützen signalisieren etwas Hoheitliches. Ich werde nervös, denn mit zwei Polizisten möchte ich mich hier und jetzt nicht unbedingt unterhalten. Sie kommen geradewegs auf uns zu. Mir läuft sofort ein kalter Schweiß den Rücken herunter. Was wollen die, frage ich mich. Sehen wir aus, wie Schwerverbrecher? Fritz legt beruhigend seinen Arm auf den meinen und drückt mich kurz dreimal hintereinander.

„Wenn Tante Erna gleich kommt, dann siehst Du zu …“ dabei sieht er mir direkt und fest in die Augen, „…, dass Du den Rollstuhl aus dem Waggon bekommst.“ Das Wort `Rollstuhl´ betont er dabei besonders.

Ich sehe ihn dämlich an. Wer ist Tante Erna? Fritz wird lauter.

„Und du schaffst das Gepäck von Tante Erna dann auf einen Gepäckwagen, damit wir nicht so viel schleppen müssen.“ Er hat sich an Willi gewendet und der nickt, ohne dass dieser irgendein Wort verstanden hat.

Die Polizisten sind jetzt auf unserer Höhe und schauen uns an.

Fritz fährt unbekümmert fort: „Draußen sind ja ausreichend Taxen. Ich denke, da wir auch eine dabei sein, die Tante Ernas Rollstuhl mitbekommt.“ Auch dieses Mal betonte er den Rollstuhl wieder.

Die Polizisten sind an uns vorbei und haben nun einen der Obdachlosen ins Visier genommen, der an der Ecke gerade lauthals Passanten anpöbelt. Ich danke dem Mann insgeheim für sein Dasein und werde ihm dafür nachher einen Euro in die Hand drücken.

Da erscheinen Ruprecht und Fredo wieder. Sie kommen um die Ecke der Schließfachanlage und ihren Gesichtern ist rein gar nichts zu entnehmen. Sie sind jetzt bei uns und Fredo raunzt uns an: „Los kommt. Nicht hier. Wir müssen Ruhe haben.“

Wir ziehen uns gemeinsam zurück und beschließen, dass wir uns in meine Wohnung begeben. Wir gehen besonders schnell. Wir laufen schon fast und Fredo gibt das Tempo vor. Willi stöhnt und schnauft, er ist derlei Bewegung nicht gewohnt und ich habe wieder Angst, dass er den Weg zurück vielleicht nicht übersteht. Ich bin ich Hochspannung, mich fröstelt es leicht und merke, wie meine Hände zittern.

Die Strecke, so schnell wir sie auch bewältigen, will kein Ende nehmen. Unsere Gedanken kreisen wirr. Weder Fredo noch Ruprecht haben irgendeinen Ton verlauten lassen. Sie gehen beide mit erster Mine voran und wir anderen eilen ihnen wie Lemminge hinterher. Wir erreichen die Straße mit unserem Haus und eilen durch das Tor in den Hinterhof. Mit doppelten Schritten jagen wir die Treppenstufen hinauf zu meiner Wohnung und als wir an meiner Türe ankommen, sind wir völlig außer Atem. Ich nehme meinen Wohnungsschlüssel und zittere so, dass ich ihn fast nicht ins Schloss bekomme. Mein Herz rast und als wir eintreten, schließe ich hinter allen mit Schwung die Eingangstüre. Wir lassen uns in die Sessel fallen. Nur Ruprecht steht mit dem Rücken zu uns am Fenster und schaut hinaus. Die Spannung ist unerträglich und alle warten auf die erlösende Information der beiden.

Fredo legt den Schließfachschlüssel vor unseren Augen in die Mitte meines Wohnzimmertisches. Ruprecht dreht sich jetzt um, zieht etwas aus der Innentasche seines Sakkos und legt es ebenfalls auf den Tisch, direkt neben den Schlüssel. Es sind mehrere Fünfzig-Euro-Scheine, glatt und schier, als kämen sie gerade aus der Druckerpresse.

Ich traue meinen Augen nicht und in meinem Kopf kreisen sofort die wildesten Gedanken. Mit offenen Mündern gaffen wir auf die Scheine – keiner von uns wagt etwas zu sagen.

Ruprecht aber erklärt ganz ruhig: „Davon sind noch ein paar Bündel im Schließfach.“ Er klingt fast so, als rede er von alten Socken, die ein Reisender dort vergessen hat.

„Wieviel?“ frage ich.

„Keine Ahnung.“ Antwortet Ruprecht. „Es sind zehn Bündel. Geschätzt vielleicht irgendwas zwischen dreißig- und fünfzigtausend Euro.“

„Habt ihr das denn nicht gezählt?“ Willi ist leicht entrüstet.

„Gezählt?“ ruft Fredo. „Ja, wir stellen uns da mitten im Bahnhof hin, und zählen Geld.“ Seine Augen blitzen Willi an. „Mensch, für wie blöd hältst Du uns eigentlich?“

„In dem Schließfach ist noch was.“ berichtet Ruprecht weiter. Wir halten alle sofort inne und schauen ihn gespannt an.

„Ein Karton. Und wenn ich mich mein Laienverstand nicht irren lässt, dann sind darin verschiedene Druckplatten.“ Ruprecht schaut wieder aus dem Fenster.

Uns hat es wieder die Sprache verschlagen. Hat er eben `Druckplatten´ gesagt? Wenn das stimmt, dann können es nur solche sein, mit denen man das Geldpapier bedrucken kann. Das kann der einzige Grund sein, warum Kalli Druckplatten in einem Schließfach versteckt hat.

Nach kurzer Besinnung greife ich auf den Tisch und nehme die Fünfziger in die Hand. Ich verteile die beiden anderen Scheine an die Runde. Wir alle betasten das Papier und halten die Scheine gegen das Licht. Sie fühlen sich nicht nur echt an, sie sehen auch so aus, zumindest auf den ersten Blick. Ich selbst bin überhaupt nicht in der Lage, etwas Gefälschtes zu entdecken. Diese Scheine könnte man mir ohne weiteres unterjubeln – ich würde nichtsahnend ohne Argwohn bleiben.

„Ist das denn nun Falschgeld … oder … ?“ fragt Fritz als Erster.

Fredo ist sich sicher: „Darauf kannst Du einen lassen …“ Er setzt sich auf die Lehne meines Sessels. „Und zwar einen, der richtig stinkt.“

Ruprecht nimmt seine Geldbörse aus der Tasche und holt einen Fünfziger heraus. Wir alle greifen in unsere Portemonnaies. Nur Willi und ich haben noch Fünfziger. Wir vergleichen unsere mit den Noten aus dem Schließfach. Es dauert einige Minuten, bis wir alle einmal darauf geschaut haben. Dabei fühlen wir jeweils in der einen Hand den Schein von mir, in der anderen den aus dem Schließfach, halten beide nebeneinander gegen das Licht, fahren mit der Fingerspitze über die Scheine, drehen sie um und wiederholen das Gleiche für die andere Seite.

Willi scheint besorgt: „Wir müssen uns merken, welcher Schein von uns ist.“ gib er zu bedenken.

Und er hat Recht. Die beiden Scheine ähneln sich nicht nur, wie ein Ei dem anderen, sie sind für uns Laien überhaupt nicht auseinander zu halten. Wir haben kein geschultes Auge für die Echtheitsprüfung von Banknoten und das bisschen Wissen über die Sicherheitsmerkmale reicht nicht, um eine verlässliche Expertise abgeben zu können. Ich habe mir den Silberstreifen angesehen: absolut identisch. Dann das Wasserzeichen: ebenso exakt, wie das auf dem Originalschein. Farben und Druck sind nicht wirklich zu unterscheiden und selbst das Hologramm wirkt auf mich bei beiden nahezu gleich.

Ich nehme meine Leselupe zur Hand und mache das Oberlicht an. Ich suche mir eine Stelle auf dem Schein von mir, die ich sofort darauf mit der gleichen Stelle des anderen Scheines vergleiche. Ich wechsele dabei schnell hin und her. Ich will mir kleine Details merken, die vielleicht unterschiedlich sind. Ich kann nichts feststellen. Beim Hologramm allerdings fällt mir auf, dass das auf dem Schein aus meinem Portemonnaie in der Vergrößerung anders schimmert, nicht ganz so metallisch, finde ich. Darüber hinaus kann ich nichts Auffälliges entdecken.

Fredo nimmt die mitgebrachten Scheine nochmals in die Hand und sieht sich diese nacheinander einzeln an. „Sie haben alle unterschiedliche Nummern.“ bemerkt er. „Auch das hat Kalli bedacht.“

„Moment einmal“, sage ich, „Du sagst also, dass die Scheine aus dem Schließfach Blüten von Kalli sind? Dass er demnach Falschgeld produziert hat?“ Ich bin immer noch entrüstet und will es nicht fassen.

„Mein Freund“, antwortet Fredo und richtet sich an alle, „ich sage das nicht nur, es ist für mich eine klare Sache. Warum wohl sollte man so viel Geld in ein Bahnhofsschließfach legen? Gleich neben ein paar Druckplatten, die auf den ersten Blick, dann aber auch sehr deutlich zu erkennen, das Muster von einem Fünfziger aufweisen? Und nebenbei liegt im Hofgebäude ein Haufen Banknotenpapier – ebenso Fünfziger?“ Er macht eine rhetorische Pause. „Für mich ist eins und eins gleich zwei. Hat jemand eine andere Erklärung zu bieten?“

Keiner von uns kann dem etwas entgegen setzen. Fredo hat es auf den Punkt gebracht – auch wenn wir es als schmerzlich empfinden, dass sich unsere Vorahnungen in dieser Sache zu bestätigen scheinen.

Fritz versucht dennoch eine andere Überlegung zu platzieren: „Geld im Schließfach, aber selbst hohe Schulden?“ Er ist dabei nachdenklich, aber bestimmt. „Das wäre doch irgendwie idiotisch…“

Ruprecht fährt dazwischen: „Es sei denn, der liebe Kalli hatte einen gewichtigen Grund dafür – oder einfach nur ein sauschlechtes Gewissen.“ Dann fährt er fort: „Im Karton ist übrigens noch etwas. Ein schwarzes Schulheft mit Notizen. Ich konnte zwar nicht lesen, um was darin stand, aber ich habe eine Vermutung.“

„Denke bitte laut …“ flehe ich.

Ruprecht ist hochkonzentriert. „Nun ja, es werden möglicherweise Hinweise zu der Druckweise sein, die er sich da notiert hat. Vielleicht so etwas, wie eine Verfahrensanleitung oder Hinweise, wie er bestimmte Dinge gemacht hat, damit es bei einer Wiederholung gleich wird und er anfängliche Fehler vermeiden kann. So würde ich das jedenfalls gemacht haben. Und das würde ich dann auch in das Schließfach packen.“

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