Читать книгу: «Konfrontation mit einer Selbstvernichtung», страница 4

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Meine geliebte Frau hatte in den letzten neun Monaten ihres Lebens eine zunehmend reduzierte Libido. Ein drei Viertel Jahr ist schon ein langer Zeitraum, der den anderen Partner zum Nachdenken (und vielleicht sogar Nachfragen) kommen lässt. Doch wenn in dieser Zeit bestimmte Lebensereignisse und –umstände vorherrschen, die den Spaß an einem lebendigen Sexualleben ganz nachvollziehbar trüben können, dann ist es eher die Sorge um die Ereignisse und Umstände, als um den (temporär) sexualgehemmten Partner. In meinem Fall waren es drei Ereignisse, die signifikant waren: die Weiterbildung (mit Examen) meiner Frau, die Krebsdiagnose ihres Vaters (mit allen nachfolgenden Unannehmlichkeiten) und ihr Start in einer neuen Firma mit der jüngst erworbenen Qualifikation (einschließlich Probezeit). In dieser Zeit war es für alle schwer genug, die Ereignisse und Verantwortung so unter einen Hut zu bekommen, dass alles irgendwie noch bewältigt werden konnte. Dass in einer solchen Zeit das eheliche Sexleben hinten herunter fällt, ist weder verwunderlich noch ungewöhnlich. Und ein sorgenvolles, betrübtes Verhalten, deutlich weniger Fröhlichkeit und durchblitzender Pessimismus stellt niemand in einer solchen Situation mit Depressionen und Selbsttötungsüberlegungen in den Zusammenhang.

Wie oft habe ich mir im Nachgang die Fragen gestellt: Warum hat sie mir nur nie etwas gesagt? Wieso hat sie kein Vertrauen mehr gehabt, mir von ihren selbstzerstörerischen Gedanken zu erzählen? Und es gehört zu den schlimmsten Momenten in der eigenen Tragödie, wenn man zu dem Schluss gelangt, dass es nur eines einzigen Hinweises bedurft hätte, und die Rettung wäre geglückt. Ein Satz mit zwei Worten: „Rette mich!“. Im Anhang (Suizid-Report) habe ich detaillierter über das Verhalten meiner geliebten Frau in den letzten wenigen Monaten vor ihrem Tod berichtet. Dort habe ich beschrieben, wie sehr sie bemüht war, sich zu vernebeln und zu tarnen. Die Kommunikation – als der Schlüssel allen Austausches – muss zumindest Ansätze liefern, die es dem Sendungsempfänger ermöglichen, richtig zu interpretieren und zu reagieren.

Zuhören allein nutzt (dem Laien) so gut wie gar nichts, wenn es an den wahrhaftigen Inhalten mangelt.

Und schlussendlich müssen wir uns bei all diesen Fragen in Bezug auf „Sendungen“ und „Empfang“ stets mit dem Wissen arbeiten, dass der Wille zu sterben ein enorm großer gewesen ist. Und mit diesem Willen wird – ganz gewiss innerhalb der Entschlussphase (siehe Suizid-Phasen) – ein starker Reflex einhergegangen sein, alles daran zu setzen, dass das Vorhaben vom direkten Umfeld nicht vorzeitig erkannt und damit verhindert werden konnte.

Meine geliebte Frau empfand es in ihrer gestörten Psyche noch wenige Stunden vor ihrem Suizid für wichtiger, ihr berufliches E-Mail-Postfach zu bearbeiten und offene Aufgaben zu erledigen. Parallel dazu täuschte Sie noch „geschickt“ und äußerst glaubwürdig Zuversicht und Normalität vor – dieses, obwohl sie davon ausging, nur drei bis vier Stunden hiernach bereits tot zu sein. Sie spielte mir ein letztes Mal ihr Schauspiel vor, erklärte mir mit sensibler Vorausschau auf meine möglicherweise entstehende Skepsis ihr Verhalten und tat alles, um mich nicht zu beunruhigen oder gar „wachzurütteln“. Sie wollte mit großer Kraft ihren Tod herbeiführen – und dafür tat sie alles, was diesen Plan ohne Störung oder gar Entdeckung umsetzen lassen sollte.

Nicht zuletzt auch aus diesen Gründen bezeichne ich uns Hinterbliebene als „Opfer“. Dieses im doppelten Sinne: Wir sind Opfer der Tat, weil wir mit dieser in so fürchterlicher Weise belastet worden sind, und wir sind Opfer, weil wir auf vielfältige Weise „hintergangen“ und „betrogen“ wurden. Auch wenn diese Aspekte nicht mehr auf gesunder Psyche beruhten, somit in deutlich anderer Weise zu bewerten sind, so bleibt es im Kerne aber ein Faktum, dass unserer Erkenntnismöglichkeit bewusst entgegengewirkt wurde. Und die Frage nach einer rettenden Kommunikation (Warum hat sie/er mir denn nichts gesagt?) ist damit nahezu obsolet. Das „Schweigen“ ist ein Teil des suizidären Prozesses gewesen, alles andere hätte diesem verhindernd entgegengewirkt.

Teil 2: Mit dem Unfassbaren umgehen

In diesem Buchteil werden die sicher sensibelsten Probleme und Emotionen aufgegriffen, die es uns Suizid-Hinterbliebenen so unendlich schwer macht, mit dem Unfassbaren richtig umzugehen. Es ist das „Warum?“, die Frage nach der „Liebe“, die quälenden Überlegungen zur eigenen „Schuld“, die aufkeimende „Wut“ , welche uns über den tiefen Schmerz hinaus zusätzlich belasten. Und wir müssen uns wappnen, denn es kommt nun auch auf unser Umfeld an – dieses kann in unserer aktuellen Situation viel Gutes, aber eben auch viel Fehlerhaftes erzeugen.

Aus meiner eigenen Erfahrung sowie aus vielen Berichten betroffener Suizid-Hinterbliebenen weiß ich, wie sehr (und wie schnell) sich der fürchterliche Kreislauf der Fragen nach dem „Warum?“, „Wie konntest Du mir das antun?“ oder nach der „Schuld“ zu einem tosenden Taifun in unserem Inneren aufbäumt. In diesem Buch widme ich mich ganz gewiss und in zentraler Weise auch exakt um diese Problematiken, denn es sind wohl die quälendsten Ungewissheiten, die sich uns Hinterbliebenen bohrend und zermürbend aufzwingen.

Doch habe ich in diesem Teil des Ihnen vorliegenden Buches dennoch zwei andere Themenkomplexe vorangestellt, von denen ich – nach vielen Analysen, Überlegungen und Erkenntnissen – der Auffassung bin, dass sie gerade am Anfang unseres chaotischen Leidensweges von großer Bedeutung sein können. Das ist zum einen die Suche nach Antworten, warum die Liebe nicht mehr vorhanden zu sein schien, denn mit dem Suizid unseres geliebten Menschen hat sie/er diese doch aufgegeben. Und zum anderen ist da diese unsägliche, immer wieder aufblühende Wut, die in uns brodelt, was uns nicht nur noch mehr aufwühlt, sondern zugleich auch irritiert und Zweifel an unserer Integrität weckt.

Ich empfinde diese beiden Aspekte besonders wichtig, denn sie bereiten uns – wenn Sie und ich in unseren Ansichten im Grunde zu einer gewissen Übereinstimmung gelangen – auf die nachfolgenden Themen besser vor. Aber wie ich schon zuvor geschrieben habe: Es obliegt Ihnen allein, welche Reihenfolge Sie für sich wählen, denn in unserer aktuellen Lage sind alle Themen, Fragen, Aspekte und Wahrheiten am Ende gleich schwer erträglich.

Der Verlust der Liebe

Trauer ist instinktiv, nicht rational.

Das Heulen im Zentrum der Trauer ist roh und real.

Trauer ist Liebe in ihrer wildesten Form.

Megan Devine,

amerikanische Psychotherapeutin und Trauerbegleiterin

Sowohl für den Schmerz, als auch für die Liebe, gibt es keine Sprache. Wir sind lediglich in der Lage von tiefem, bisher ungeahnten Schmerz, oder der unendlichen, allumfassenden Liebe zu sprechen. Das sind aber nicht mehr als nur Worte. Die tatsächliche Dimension, vor allem das Wahrhaftige, können wir in keiner Sprache nachempfindbar erklären.

Unabhängig davon, ob sich unser Verlust auf einen geliebten Partner, Verwandten, das eigene Kind oder einen guten Freund bezieht, es ist der Verlust der Liebe, den Sie, liebe/r Leser/in, als das Schmerzhafteste verspüren. Und Ihre Trauer (so Megan Devine) ist der Schmerz um die verlorene Liebe, die Unerfüllbarkeit dieser im Zusammensein mit dem Menschen, dessen Tod zu beklagen ist. Bei uns als Hinterbliebene ist die Liebe nämlich ungebrochen vorhanden, wir verspüren sie nicht nur weiter, sondern nochmals viel intensiver. Der Sendungsempfänger, der Gegenpol ist jedoch nicht mehr (weltlich) gegenwärtig, unsere Liebe sehen wir deshalb als verloren an, sie geht auf einen Schlag ins Leere, findet keinen „Abnehmer“ mehr, keinen Mund zum Küssen, keine Hand zum Halten, keine Arme und Schultern, die uns noch empfangen können.

Und das ist grausam, ich kann es nicht anders beschreiben.

Zu all unserer Erkenntnis über die „verlorene“ Liebe drängt sich zusätzlich eine quälende Frage, ein Verdacht, eine zerstörerische Befürchtung auf: Hat mich der von mir so geliebte Mensch eigentlich selbst noch geliebt? Denn der Suizid – vielleicht haben wir den Toten auch noch selbst finden müssen – erzeugt bei uns reflexartig den Vorwurf: „Wie konntest Du mir dieses Bild, diesen Schmerz, diese Qual antun, wenn Du mich doch geliebt hast?“

Ohne den Anspruch auf umfassende Allgemeingültigkeit zu erheben, erlaube ich mir an dieser Stelle jedoch die womöglich ernüchternde (und erneut schmerzhafte) Einschätzung meinerseits, dass ich davon ausgehe, dass die von uns verstandene Liebe im Moment des Suizids tatsächlich nicht mehr gegenwärtig war. Ich kann mir vorstellen, dass Sie an dieser Stelle dieses Buches mit Ihren Tränen zu kämpfen haben. Und ich gestehe, auch ich muss erneut beim Schreiben dieser Zeilen weinen. Aber es hilft nichts, denn wir wollen Klarheit und keine Lügen. Sie können in diesem Buch über die Phasen des Suizids lesen und tiefergehende Analysen über diese erfahren (siehe Teil 4). Und in der Phase der Suizidausführung, in der Regel auch in einem schwer pauschal zu definierenden Zeitraum davor, ist es dem (Prä)Suizidenten gar nicht mehr möglich, sich mit der Liebe auseinander zu setzen. Würde es dieses getan haben, in der Art und Weise, in der Tiefe und Verantwortung, wie wir es als „gesunde“ und „vollständige“ Menschen tun können, dann wäre ihm die Tat nicht mehr möglich gewesen. So, wie Sie jetzt die Unmöglichkeit der Ausführung auf der Basis der Liebe für sich verstehen (und indirekt einfordern), so wäre auch der Suizident nicht mehr in der Lage gewesen, Ihnen – entgegen seiner Liebe – ein solches Unglück zuzumuten, und seine eigene Liebe zu zerstören.

Es ist somit kaum möglich, einen anderen Standpunkt einzunehmen, als die Tatsache, dass die „Liebe“ bei unserem verlorenen Menschen so stark in den Hintergrund getreten ist, dass diese für ihn keine Relevanz mehr hatte. Und das wiederum lässt einen weiteren Schluss zu: Der Todeswunsch muss derart groß gewesen sein, dass das Opfer der Liebe hinzunehmen war. Und ja, um sich seiner eigenen als unerträglich verspürten Schmerzen befreien zu können, musste die Liebe in der finalen Phase verdrängt und vielleicht sogar schlussendlich abgelehnt/bekämpft werden.

Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen jetzt gerade etwas durch den Kopf schießt, was Sie vielleicht in Ihrem Leben schon diverse Male in verschiedentlichen Situationen gedacht oder gar gesagt haben: „Das würde ich Dir nie antun!“ Und mit diesem Selbstverständnis begegnen Sie nun auch ihrem geliebten Menschen, den Sie per Suizid verloren haben. Wenn dieser Sie wirklich geliebt haben würde, dann könnte er Ihnen das doch nicht antun!

 Der Mensch hat Sie mit seinem Tod selbst herbeigeführten konfrontiert!

 Hat Ihnen vielleicht zugemutet, ihn tot aufzufinden!

 Ihren Schock in Kauf genommen!

 Sie brutal in ein Trauma gestürzt!

 Sie fühlen sich verraten!

 Sie fühlen sich vielleicht sogar missbraucht!

 Sie fühlen sich entwurzelt, beraubt!

 Sie erkennen, wie Sie getäuscht wurden, belogen, in die Irre geführt!

 Sie müssen davon ausgehen, dass ihm Ihre jetzt entstandenen Probleme, Ihr Schmerz, Ihr Leid völlig egal waren!

 Ihr Leben fühlt sich vollkommen zerstört an.

 Ihr Leben wird nie wieder so sein wie es einmal war.

 Sie haben vielleicht sogar ein Trauma davongetragen, leiden selbst an Depressionen, an Ängsten und sind bis ins tiefste Innere verzweifelt.

Ich las in meinen Recherchen von einer Suizid-Hinterbliebenen, deren Mann sich wenige Monate zuvor in den Tod gestürzt hatte. Sie berichtete in einem Interview über ihre Qualen und Leiden, wobei sie aber zu einem Resümee kam, das ich mir auch schon selbst vor Augen geführt hatte: „Wenn mein Mann auch nur annähernd gewusst hätte, was er mir mit seinem Tod antuen würde, dann hätte er es nicht übers Herz gebracht, sich selbst zu töten.“ Setzen wir die gewohnte Liebe und Fürsorge voraus, so erscheint es uns angesichts der eigenen Verzweiflung und der unsäglichen Leiden für ausgeschlossen, dass man derlei seinem geliebten Menschen antun kann. Die Liebe hätte diese doch verhindert – ergo wird unser Verlorener einfach nicht gewusst haben, was er mit seiner Tat bei uns anrichtet.

Aber es ist nicht so, jedenfalls kann davon nicht generell ausgegangen werden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass an die Stelle der Liebe die Konzentration auf die Ausführung des eigenen Todes trat. Die Liebe wäre nämlich hinderlich gewesen. Derlei Gedanken können die Hölle bedeuten. Sie haben nicht nur den Tod Ihres geliebten Menschen zu verkraften, zudem auch noch die vermeintliche Versagung der Liebe in den vielleicht wichtigsten Stunden dieses Menschen. Was mag alle gezeigte und bekundete Liebe zuvor noch bedeuten, wenn in einem solchen Moment nichts mehr von dieser übrig zu sein scheint? Schlimmer noch: diese mit einem irrationalen, verwirrten Wunsch nach Tod ausgetauscht wurde!

Aber was ist, wenn wir einmal versuchen, eine andere Perspektive einzunehmen, empathisch die Gefühlswelt unseres geliebten Menschen einzunehmen, wenngleich uns das gewiss nur bruchstückartig gelingen kann?

 Wollte uns der Mensch vielleicht von sich entlasten? Aus Liebe zu uns, aus Fürsorge, aus Anerkennung unserer bisherigen Zuwendung oder Aufopferung?

 War er der Meinung, er hätte uns nicht „verdient“? Waren wir zu „gut“ für ihn, konnte er unsere Erwartungen nicht mehr erfüllen?

 Befürchtete dieser Mensch vielleicht, dass seine Probleme dazu führen würden, dass wir ihn abweisen, wohlmöglich sogar verlassen werden?

 Ist er einer tragischen Fehleinschätzung unterlegen, dass wir es ohne ihn im Leben „besser“ haben würden?

 Wollte dieser Mensch uns nicht mehr zumuten, was er für sich selbst an Zukunft (z.b. Krankheit, Schmerz, Siechtum) befürchtete?

 Bestand wohlmöglich die Auffassung, dass wir ohne ihn (nach seinem Tod) zu einem besseren Leben gelangen könnten, so zum Beispiel eine (neue) Liebe finden würden, die wir „verdienen“?

 Glaubte unser geliebter Mensch vielleicht, unsere Wünsche nicht (mehr) erfüllen zu können?

 Bestand ein Entscheidungskonflikt zwischen „uns“ und einer anderen Priorität (z.B. Familie), den er gegen „uns“ nicht erfolgreich beenden konnte?

Welche weiteren Aspekte und Überlegungen sie auch immer mit dem gleichen Tenor für sich anführen werden, sie haben mit den vorgenannten eines gemeinsam: sie sind nichts anders als ein Liebesbeweis. Der vollzogene Suizid basierte so wohlmöglich auf der unfassbar starken Liebe zu Ihnen, auch wenn das Ergebnis, der Endeffekt, aus unserer Wahrnehmung des Hinterbliebenen das von allen möglichen Varianten extremste Gegenteil vermuten lässt.

Mir sagte der Arzt, der nicht nur von der Polizei zur Leichenschau gerufen wurde, sondern zudem auch unser Hausarzt war, dass er nach seiner jahrelangen Erfahrung und der Begegnung mit diversen Suiziden zu der Auffassung gelangt sei, dass Menschen, die sich im eigenen Hause selbst töten, dieses aus „Liebe“ tun. Ich verstand ihn nicht sofort und fragte, wie er das meinen würde. Seine Antwort war einfach: Die Wahl des eigenen Hauses, der gewohnten Umgebung, des Ortes, an dem die Liebe vorherrscht, würde in der schwersten Stunde des Menschen (der Selbsttötung) der Beweis sein, dass dieser die Liebe besonders stark empfindet. Auch die Tatsache, dass die eigene Leiche nach dem Suizid zumeist vom Partner gefunden wird, stützt sich auf Liebe. Denn es ist dieser Mensch, der einen in dieser entmenschlichten Lage finden soll, und kein Fremder.

In unserem Schmerz, in all unserer Verzweiflung, fällt es schwer, derlei Gedanken anzunehmen oder zu Ende zu führen. Ich erlaube mir aber die Empfehlung, dass Sie es versuchen, liebe/r Leser/in. Versuchen Sie die vielleicht nur noch rudimentär erkennbaren Liebessignale ohne Zorn und Enttäuschung zu sehen, diese in die Welt der Normaldenkenden proportional zu übersetzen. Es besteht auf diese Weise vielleicht die Chance, dass Sie den Nukleus Ihrer gemeinsamen Liebe, den Wesenskern Ihrer Verbindung zu dem verlorenen Menschen, erkennen und nicht mehr daran zweifeln, dass dieser Sie in großartiger Weise geliebt hat. Vielleicht sogar mehr als sein eigenes Leben.

Wie passt das nun mit meiner Einlassung zu Beginn dieses Kapitels zusammen? Schließlich habe ich recht drastisch klarzumachen versucht, dass Ihr geliebter Mensch Sie eben nicht mehr „geliebt“ haben wird. Und nun behaupte ich, seine Liebe war „großartig“?! So paradox das erscheinen mag, es ist überhaupt kein Widerspruch vorhanden. Und mich krampfhaft bemühen zu wollen, mit unsinnigen Argumenten meine Trauer besser bewältigen zu können, ist auch nicht meine Zielsetzung. Vielmehr bin ich der Meinung, dass das Paradoxon nur dann besteht, wenn wir uns die Liebe weiterhin in der Charakteristik vor Augen führen, die Menschen untereinander empfinden, welche nicht in einer präsuizidalen Phase stecken. Mit anderen Worten – lassen Sie es mich einfach so drastisch sagen: Ich kann doch nicht bei einem psychisch verwirrten Menschen den Maßstab weiter ansetzen, der früher galt, als dieser noch gesund war.

Und nochmals nein: Das ist kein verzweifelter Versuch einer laienhaften, unrealistischen Selbstberuhigung. Ich bin überzeugt, dass wir so zu denken und zu werten haben, denn das Leid unseres geliebten Menschen muss so unermesslich groß gewesen sein, dass dieses die bisherige Liebe übertrumpfen ließ, vielleicht sogar um diese hierdurch erst beweisen zu können. Die Liebe dieses Menschen zu uns mutierte in eine andere Form, und war deshalb in der von uns immer noch so sehr herbeigewünschten Weise nicht mehr sichtbar, nicht mehr existent. Sie ist in eine andere Sphäre gerückt, eine, die wir nicht so leicht empfinden können, in der wir uns nicht auskennen, die uns fremd und vielleicht sogar abstoßend vorkommt. Die Liebe des Menschen zu uns hat die Farbe gewechselt, die Form. Sie ist damit zu etwas geworden, was wir nicht auf Anhieb verstehen können, vor allem deshalb nicht, weil das Mutieren bei uns nicht stattgefunden hat. Wir lieben auf die uns bekannte Art und Weise, in der bisherigen „Farbe“, in unveränderter „Form“.

Meine geliebte Ehefrau hat in unseren gemeinsamen Jahren oft hervorgehoben, wie sehr sie meine Fähigkeit bewunderte, stets optimistisch zu bleiben, mit allen Unwägbarkeiten zurechtkommen zu können. „Dich kann ja gar nichts umwerfen!“ – hat sie mir so häufig gesagt. „Deine Kraft möchte ich auch gern haben.“ Und ich erinnere mich, dass sie noch wenige Wochen vor ihrem Suizid mich fragte: „Woher nur nimmst Du immer Deinen Optimismus?“ Unsere Liebe zueinander war groß, mächtig und im Freundeskreis wurden wir für unsere Verbundenheit bewundert und bestaunt. Über all die Jahre beteuerte meine Frau ungebrochen ihre „unendliche Liebe“ zu mir und ich hatte zu keiner Sekunde Zweifel daran hegen können, so klar war die Wahrheit zu erkennen – bis zu diesem Tage, diesem Moment, als ich mit ihrem Suizid konfrontiert wurde. Da brach in mir auch das bisherige Gerüst der Liebe krachend zusammen.

Das Vorwort zu diesem Buch beginnt mit einem Spruch von Shakespeare. Blättern Sie noch einmal zum Anfang und lesen Sie diesen bitte erneut. Meine Frau hatte ihn in ihrem Smartphone gespeichert. Ein wenig versteckt, in den Notizen meines Kontakteintrages. Wann sie diesen gelesen hatte und „bei mir“ abspeicherte, ist nicht mehr nachvollziehbar – leider. Doch habe ich – nach langen Überlegungen – mich dazu entschieden, die Frage des „Wann?“ für nicht wirklich relevant zu betrachten. Es reicht mir inzwischen, dass es meiner geliebten Ehefrau von besonderer Wichtigkeit war, sich eine Mahnung vor Augen führen zu können, nicht an der Liebe zweifeln zu dürfen. Es ist – bei näherer Betrachtung – auch unerheblich, wessen Liebe sie damit meinte: die ihre oder die meine? Denn in beiden Fällen war ihre Angst um den möglichen Verlust der Liebe von ebenen dieser getrieben. Nur wer wirklich liebt kann sich fürchten, die Liebe (die eigene, die des anderen) zu verlieren. Und ich glaube, dass sie es gemerkt haben muss, dass sich etwas veränderte: sie selbst veränderte sich (siehe Suizid-Phasen). Sie hatte Angst, wusste, dass ihre Gedanken und ihre Abwägungen gefährlich waren, es dazu kommen könnte, dass die so immens wichtige Liebe zwischen uns bezweifelt werden könnte.

So ist es für mich absolut sicher, dass ihre Liebe zu mir in der Farbe und Form existierte, bis ihre Psyche die Mutation erzeugte. Aber selbst in dieser letzten Phase informierte sie sich über die Konsequenzen eines Suizides für die Hinterbliebenen. Ich fand die Browserverläufe, konnte die neun Artikel lesen, die sie selbst, wenige Tage vor ihrer Selbsttötung, gelesen hatte. Ihre Gedanken waren ganz offensichtlich weiter von der Liebe geprägt. Und von ihrer Überzeugung, dass ihr Mann sicher auch „damit fertig werden“ würde. Sie muss daher abgewogen haben: zwischen Liebe und ihrem Schmerz, der so mächtig gewesen sein muss, dass nur der Tod noch infrage kam – und meiner vermuteten Stärke, mit alledem zu Recht zu kommen.

In den Momenten, in denen sie sich aufmachte um zu sterben, die Augenblicke, in denen sie zur Tat schritt, in der Zeit, in der sich der Sterbeprozess vollzog, sie noch bei Bewusstsein war, in diesem Zeitfenster wird sie mit allen Gefühlen nur bei sich gewesen sein. Die Liebe war nicht mehr zugegen. Sie konnte, sie durfte es nicht mehr sein. Sie wird aber mit dem Gefühl gestorben sein, dass es der geliebte und liebende Ehemann sein wird, der sie findet und als erster den toten Körper berührt.

Ich hoffe sehr, liebe/r Leser/in, dass auch Sie zu ebensolchen oder ähnlichen Erkenntnissen gelangen können. Da Sie ganz sicher ohnehin auf der Suche nach Klarheit sind, werden Sie auch auf der Suche nach der Liebe sein. Verwerfen Sie also nicht gleich Ihre Hoffnung, Ihren Glauben an die Liebe. Suchen Sie weiter nach Signalen, kleinsten Puzzleteilchen, gehen Sie in sich, erinnern Sie sich an Worte, Blicke, Gesten und Berührungen, die Ihnen die Liebe Ihres verlorenen Menschen bezeugen. Tun Sie das auch, wenn es schon eine Zeitlang her sein sollte, dass die Liebe sich Ihnen noch offenbarte. Verweigern Sie sich nicht zu erkennen, dass auch andere Farben und Formen von Liebe sprechen können. Aber so schwer es auch immer ist – zweifeln Sie niemals an der Liebe!

Und vielleicht akzeptieren Sie, dass Ihre Trauer eben nur die wildeste Form Ihrer Liebe darstellt. Ich unterhielt mich über diesen Aspekt mit einem jungen Mann, mit dem ich recht zufällig zusammentraf und mit dem sich ganz unvermutet ein intensives Gespräch entwickelte. Er verstand auf Anhieb, dass Trauer auf Liebe basiert. Doch er antwortete mir:

„… aber dass Trauer die wildeste Form der Liebe ist – das verstehe ich nicht."

Ich versuchte es mit einer Metapher und antwortete ihm das Folgende: „Stelle Dir vor, dass die Liebe ein Fluss ist. Aus einer Quelle entsprungen, zunächst als ein kleiner Bach, vielleicht sogar nur ein Rinnsal, nunmehr ein breiter, ruhig dahinfließender Strom geworden ist. Doch auf einmal – Dein geliebter Mensch hat Suizid begangen – ist der Fluss mit einem Schlag zu einem reißenden Gewässer geworden. Stromschnellen, mit tosenden und schäumenden Engstellen, gefährlichen Felsen, hohen Wellen und tödlichen Strudeln sind an die Stelle des sanften Fließens getreten. Die bisher so verlässliche Liebe ist zu einem ungezähmten Wildwasser in abgrundtiefen Schluchten mutiert. Deine Liebe, die Trauer, hat die wildeste aller Erscheinungsbilder eines Flusses angenommen. Das ist damit gemeint.“

Er schien verstanden zu haben. Und er besann sich für einen kurzen Moment.

„Darf ich Dir eine ganz persönliche Frage stellen?“ Und er schaute mir sehr klar in die Augen. Und als ich nickte fragte er mich: „Und wie siehst Du den weiteren Verlauf dieses Flusses für Dich? Wirst Du die Stromschnellen überwinden? Wird es nach diesen wieder ein sanfter Strom für Dich werden können?“

Ich war ziemlich baff über seine Ergänzung meiner eigenen Metapher. Und ich musste überlegen, wie meine eigene Prognose sein würde. Ich besann mich und prüfte meine innersten Empfindungen. Dann antwortete ich ihm:

„So wie der Fluss am Anfang ein dünnes Bächlein war, so wird er auch nach den wildesten Wassern am Ende ruhig und mächtig ins Meer münden, in das große Ganze, in den Ozean der Liebenden. Und ja: Ich bin mir sicher, dass die Liebe – in ihrer wildesten Form, der Trauer – nur diese letzte eine und gewaltige Stromschnelle zu überwinden hat, bevor der Fluss in all seiner Unaufhaltsamkeit seiner Mündung entgegen fließt. Und dort, bei den Sandbänken, dort werde ich erwartet werden. Dort ist der Liebe Ende und Anfang zugleich.“

Der junge Mann, er war gerade 33 Jahre alt, lächelte verständig, und ich glaube, dass er in diesem Moment begriffen hat, was Liebe bedeuten kann.

Sie, liebe/r Leser/in, werden auch Ihre Flussmündung finden können. Sie existiert bereits, und sie kann nur dadurch auf Ihrem weiteren Weg dorthin verfehlt werden, wenn Sie in den Stromschnellen zuvor die Orientierung verloren haben, oder in diesen untergegangen sind.

Alles was schön ist, bleibt auch schön, wenn es welkt.Unsere Liebe bleibt Liebe, auch wenn wir sterben.

Maxim Gorki (1868 – 1936)

russischer Schriftsteller

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