Читать книгу: «Konfrontation mit einer Selbstvernichtung», страница 2

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Hinweis und Empfehlung zur Lektüre dieses Buches

Auch wenn ich mir als Autor Mühe gegeben habe, dieses Buch thematisch so zu strukturieren, dass ich Sie, verehrte/r Leser/in, behutsam und empathisch durch dieses Werk führen kann, so ist es Ihnen ganz allein überlassen, ob Sie meinem Vorschlag folgen wollen/können, denn allein Sie selbst können empfinden, welche Reihenfolge der von mir verfassten Texte für Sie die geeignetste ist.

Schauen Sie sich deshalb (nochmals) das Inhaltsverzeichnis an und entscheiden Sie selbst, welche der Themen Sie gegenwärtig am meisten interessieren und mit den vielen Fragen und Irritationen in der von Ihnen erwünschten Abfolge korrespondieren. Es tut diesem Buch keinen Abbruch, wenn Sie sich Ihre eigene Struktur schaffen. Springen Sie bei Bedarf hin und her – es sind allein Ihre Emotionen und Bedürfnisse, die zählen. Entscheiden Sie selbst, wann Sie sich für bestimmte Themenfelder in diesem Buch interessieren, wann Sie innerlich bereit und in der Lage sind, sich mit diesen auseinander zu setzen.

Überblättern Sie überdies die Stellen, die Ihnen zurzeit noch zusätzliche Schmerzen bereiten. Kommen Sie auf diese dann zurück, wenn Sie innerlich dazu bereit sind, oder durch das vorliegende Buch überzeugt werden, diese Passagen dann doch zu lesen. Seien Sie sich dabei gewiss, dass ich sehr wohl weiß, wie schmerzvoll und anstrengend, wie belastend und mühselig ein solches Lesen/Hören ist.

Als Autor kommt es mir allein darauf an, Ihnen in der wohl schwersten Zeit Ihres Lebens eine Hilfe angedient haben zu können – und diese ist weder protokollarisch festgelegt, noch quantitativ vorgegeben.

Teil 1: Das Unfassbare begreifen

In diesem Buchteil befasse ich mich mit unserer Verzweiflung, die so groß ist, dass wir aufpassen müssen, nicht selbst ein nachhaltiges Trauma zu entwickeln. Wir müssen uns deshalb mit dem Grundsätzlichen auseinandersetzen: dem Willen unseres geliebten Menschen zu sterben. Und ich greife dazu auch die Frage auf, warum wir höchstwahrscheinlich keinen Hilfeschrei wahrgenommen haben.

Dass Unfassbare. Wie anders können wir es ausdrücken? Es ist der Zeitpunkt unseres Eintritts in die Hölle, die Sekunde auf unserer Lebensuhr, die fortan nichts mehr so sein lassen ließ, wie es zuvor noch war. Unsere Welt zerbarst in Myriaden von Teilchen, verschwand in einer Apokalypse. Und das Leid, die Schmerzen und Qualen, die wir nun zu durchleben haben, sind mit keiner Sprache zu beschreiben. Unfassbar, dennoch wissen wir: es ist geschehen.

Unser geliebter Mensch hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Er hat sich vernichtet. Und wir begreifen es nur sehr langsam, dass auch unser Leben damit nahe einer Vernichtung steht. Denn ein Großteil von uns hat dieser Mensch mit in seine Auslöschung genommen. Liebe, Miteinander, Zusammengehörigkeit, Wünsche, Pläne, Zukunft, Freude und Leichtigkeit. Alles im Tausch gegen tiefe Verzweiflung, quälende Fragen, unendliches Leid und eine gebrochene Seele – alles allein uns nun auferlegt. Wir stehen unvermittelt einem Schutthaufen gegenüber und realisieren mit voller Wucht: Unser Leben wird fortan ein anderes sein.

Und an alledem ist nichts Gutes zu finden. Es erfüllt keinen höheren Zweck, nichts wird dadurch besser, nichts hat einen Sinn. Egal, was uns andere auch immer an klugen oder weisen Kalendersprüchen offerieren, hoffend, wir halten uns an diesen Strohalmen aus Worthülsen fest um nicht gänzlich abzusaufen, sie haben alle gar keine Vorstellung über das Leid, welches wir nun zu durchleben haben. Und nur wir selbst können lernen, mit dieser Katastrophe für den Rest unseres Lebens klar zu kommen, lernen zu begreifen, was da passiert ist. Und je schneller wir damit beginnen, desto wirkungsvoller wird unser Lernergebnis sein. Zögern wir, verschleppen wir, ja leugnen wir vielleicht sogar die Realität, wird es einen Schaden geben, der gewaltig sein kann.

Helfer sind notwendig und nützlich – sofern sie es richtig anstellen und gewisse Regeln beachten. Vor allem aber dürfen sie nicht eine einzige Sekunde annehmen, sie könnten antizipieren, was in uns vorgeht, es sei denn, sie haben eine derartige Tragödie selbst durchleben müssen. So müssen unsere Helfer mit uns gemeinsam lernen – durch Zuhören, durch emotionale Intelligenz, durch allergrößte Vorsicht und schier übermenschliche Geduld. Sie müssen uns noch stärker lieben, als sie es bisher getan haben, sie müssen bereit sein, ihre kulturellen Klischees ad acta zu legen und ab sofort nur noch auf ihr Herz zu hören. Und wenn sie uns steuern, uns justieren müssen, dann mit Behutsamkeit und ohne Egozentrik.

Wir müssen begreifen – nicht belehrt werden.

Wir müssen akzeptieren – nicht gezwungen werden.

Wir müssen verstehen – nicht missioniert werden.

*

Niemand wird jemals wieder diesen einen Augenblick vergessen können. Den Moment der Wahrnehmung, dass der geliebte Mensch Suizid begangen hat und nicht mehr lebt. Ob durch behutsame Mitteilung eines mitfühlenden Verwandten oder durch das eigene und damit zutiefst schockierende Auffinden des Leichnams. Wir wurden mit etwas konfrontiert, was einer Totalvernichtung gleichkommt. Das Schicksal zeigt einen Rest an Milde, wem es die Bilder der/des Toten erspart. Denn die Härte dieser erkennen wir erst Zug um Zug, mit jeder Nacht mehr, mit jedem Tag intensiver. Und sie lassen uns nicht mehr los, überdecken alle schönen Erinnerungen, geraten zur Unerträglichkeit und vergrößern unseren Schmerz mit jedem Erscheinen vor unserem inneren Auge, so dass wir fragen:

Hast Du das tatsächlich gewollt?!“

Hast Du mir diesen Anblick wirklich zugemutet?!“

War es Dir so egal, was Du damit anrichtest, oder hast Du einfach nicht mehr darüber nachdenken können?!“

Der geliebte Mensch hat sich für seine Selbstvernichtung entschieden. Uns hat er mit dieser Entscheidung aus unseren Lebensbahnen entgleisen lassen. Wir können es nicht begreifen, nicht nachvollziehen. Wir ringen nach Luft, wollen es nicht wahr haben, hoffen auf einen Alptraum, auf das schnelle Erwachen, auf das Ende dieser schrecklichen Schmerzen. Denn es bleibt für uns noch lange Zeit etwas entsetzlich Unfassbares.

Jeder einzelne Tod eines geliebten Menschen hat sein individuelles Leidenskaleidoskop. Und es darf auch nie der Versuch unternommen werden, die Schmerzen und die Trauer in einem Vergleich zu skalieren. Es gibt aus der persönlichen Betrachtung kein „weniger schlimm“ oder „am schlimmsten“ – für jeden Menschen bleibt der Verlust durch Tod eine nicht relativierbare Schmerzgröße. Und als Hinterbliebene/r stürzen wir in unsere ureigene Bodenlosigkeit, in unermessliche Tiefen, vielleicht sogar in eine schier endlos erscheinende Finsternis.

Das erwartete, das angekündigte, das prognostizierte Ableben eine geliebten Menschen mag eine gewisse Gutmütigkeit der Fügung in sich bergen. Der Schicksalsschlag – nicht die einsetzende Trauer und das Leid – warf seinen Schatten bereits voraus. Ein Suizid – selbst bei zuvor erkannter Gefährdungslage (siehe schwere Depressionen; Teil 4) – erschüttert dann aber doch vor allem durch die Überrumpelung, einhergehend mit einer (zumeist) völligen oder weitgehenden Unkenntnis um Motive und/oder die Unfähigkeit eines Nachvollzuges der (psychisch intakten) Hinterbliebenen.

Die Unerbittlichkeit, die Grausamkeit, die Brutalität eines Suizids sind für die hinterbliebenen „Opfer“ zudem deswegen so massiv, weil wir mit einer freiwillig, selbst entschiedenen und selbst herbeigeführten Eigenvernichtung konfrontiert werden, deren Sinnhaftigkeit und Motivlage (wenn denn überhaupt verlässlich erkennbar) sich uns weder erschließt noch auf eine annehmbare Begründung der Notwendigkeit stößt. Uns versagt sich eine Motivkopplung. Unsere Fassungslosigkeit ist so dermaßen groß, dass uns ad hoc alle Sinne schwinden, und wenn wir es besonders schlecht treffen, tragen wir selbst einen irreparablen Schaden davon.

Doch neben dem unsagbaren Schmerz, unserem dauerhaften Brennen in unserer Seele, wollen wir – ja wir müssen es sogar – begreifen. Dabei geraten wir wohlmöglich auf viele Abwege und verirren uns in Analysen und der Suche nach etwas Greifbarem. Nur wenn wir begreifen können, können wir auch verarbeiten. Das sagt uns unser Instinkt – zumindest, wenn wir in uns hineinhören. Wir können das Unfassbare damit nicht ungeschehen machen. Wir können es nur zu einem Bild zusammenfügen, es von dem undurchsichtigen Schleier befreien, um uns selbst zu positionieren.

Verzweiflung und die Gefahr einer Traumatisierung

Verzweiflung befällt zwangsläufig die,

deren Seele aus dem

Gleichgewicht gekommen ist.

Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.),

römischer Kaiser und Philosoph

Wie eine giftige, dornige Schlingpflanze hat uns die Verzweiflung umfasst. Sie würgt uns, raubt uns die Luft, benebelt uns mit ihren toxischen Dämpfen, dringt durch unsere Haut und nimmt noch den letzten Rest unseres Inneren ein. Sie ist vollkommen, total, unerbittlich und drückt uns mit tonnenschwerer Last zu Boden. Nichts was wir zuvor jemals verspürt haben, ist mit ihr vergleichbar. Sie ist ein mächtiger Dämon, der unsere Seele bei lebendigem Leibe zu fressen begonnen hat. Grenzenlose Verzweiflung erfüllt uns, eine Kraft, die uns aus unserer Umlaufbahn geworfen hat. Und jetzt jagen wir in Lichtgeschwindigkeit inmitten eines Meteoritenhagels durch eine fremde Galaxie.

Obwohl doch der Tod mit unserem ersten Atemzug auf dieser Welt vollkommen unausweichlich verbunden ist, ja mehr noch, von allem im Leben das tatsächlich einzig Garantierte ist, – das eigene Ende, die eigenen Vergänglichkeit – so wird von uns Lebenden und denkenden Individuen nicht mehr verdrängt, nichts wird weniger wahrgenommen und erwartet als der eigene Tod. Begleitet uns dieser auch auf noch so vielen Wegen, erscheint er uns im Laufe unserer Existenz in so mannigfaltiger und manchmal tragisch deutlichen Weise, bleiben wir für uns selbst, eingeschlossen unsere nächsten Menschen, mit stoischer Ignoranz ausgestattet. So, als ob wir selbst und unsere Liebsten von alledem verschont sein würden, das Unglück, der Schmerz, die Schicksalsschläge ausschließlich anderen überlassen bleiben. Trotz der Tatsache, dass je älter wir werden, die einzelnen Vorfälle im Familien- und Freundeskreis immer näher rücken, uns in unzähligen Varianten die Realität vor Augen führen, in Gnade oder mit dramatischer Wucht, so erschüttert es den Menschen immer wieder aufs Neue zutiefst, sich mit dem Ableben eines Nahestehenden abfinden zu müssen.

Bemerkenswert dabei ist der Umstand, dass wir Lebenden schon frühzeitig gelernt haben, den Tod in mehr oder minder schwer hinzunehmende Kategorien einzuteilen. Stirbt ein alter Mensch, nach einem langen und erfüllten Leben, trifft diesen des Nachts beim Schlaf der Schlag, oder schläft er einfach ruhig und beschwerdefrei ein, so empfinden wir landläufig den Tod sogar in tiefer Dankbarkeit als schön und fast begehrenswert. Stirb ein geliebter Mensch nach langem und schweren Leiden, so hält uns die Tragik sicher schon länger fest im Griff, doch empfinden wir den Tod eher als Erlöser von Qualen und Beschützer vor einem vielleicht nicht mehr menschengerechtem Siechtum. Auch hier überwiegt Dankbarkeit und die Einsicht in eine gnädige Natur und Schicksalsfügung. Haben wir allerdings ein Unfallopfer zu beklagen, einen Nahestehenden, der unversehens und vielleicht inmitten seines Lebens aus diesem gerissen wurde, so ist die Qual über den Verlust, das Erleben der Tragödie – verbunden mit der Klageführung in Bezug auf ein „ungerechtes Schicksal“ - schon eine ganz andere Schmerzdimension. Der Verlust entpuppt sich in einer Dimension, deren Anfang und Ende von niemandem – mag man sich auch noch so bemühen – ohne eigene Erfahrung antizipiert werden kann.

Doch der Verlust durch Suizid geht mit nichts von alledem einher. Es fehlt mir an mathematischem Verständnis und ethischer Hemmungslosigkeit eine Relation in Form einer Metapher zu beschreiben, die auszudrücken vermag, in wie weit sich der Schmerz und die Verzweiflung doch dimensional von allen anderen Todesereignissen in Kraft und Zermürbung absetzt. Ich habe es selbst nur so beschrieben: Man wird in Nanosekunden in eine ferne und fremde Galaxie katapultiert, für deren Unerträglichkeit noch keine Sprache erfunden werden konnte. Ein philosophischer Gedanke, der von einigen unserer Vordenker schon vor langer Zeit zur Frage „Gibt es eine Hölle?“ ausgesprochen wurde, hat sich mir in diesen Zeiten in epischer Breite aufgedrängt: Ja, es gibt eine Hölle, und wir sind mittendrin, wir müssen nicht mehr auf das Jüngste Gericht warten, es liegt bereits hinter uns und es muss die Höchststrafe gegen uns verhängt worden sein, denn diese sitzen wir nun ab. Auch wenn das sehr pathetisch klingt, so erscheint mir dieser Ansatz als der einzige, der sich als sinnsprechende und anzuführende Metapher eignet.

Psychisch Kranke, die unter schwersten Depressionen leiden, haben vielleicht noch am ehesten die Fähigkeit zur Antizipation. So beschrieb Andrew Solomon in seinem Buch „Saturns Schatten“ das Erleben seiner (schweren) Depressionen als Fall in eine endlose und schwarze Tiefe. Und die Gefahr, als Hinterbliebener eines Suizidenten selbst in zerstörerische Depressionen zu fallen, ist enorm groß. Ich selbst habe an mir beobachten müssen, dass mit dem Abstand von den ersten Tagen und Wochen nach dem Suizid meiner geliebten Frau die Schmerzen, das Leid, die Qualen noch intensiver wurden, der Pegel tatsächlich noch nicht ausgereizt war. So begann ich Angst vor den Attacken zu bekommen. Ich fürchtete mich regelrecht davor, von meinem Schmerz wieder überrascht zu werden, nur weil ich zum Beispiel beim Einkaufen ein Pärchen sah, welches Hand in Hand durch den Laden lief, und ich sofort – ungebremst und unaufhaltsam – einen Weinkrampf hatte, den ich nur mit größter Mühe von anderen Kunden verbergen konnte. Und auch den Fluss meiner Tränen konnte ich lange kaum kontrollieren. Sie strömten einfach herunter, und nach einiger Zeit bemerkte ich das nicht einmal mehr. Durch das viele verkrampfte Weinen, die sich immer wieder aufbäumende tiefe und innere Verzweiflung, war mein ganzer Körper in Mitleidenschaft geraten. Ich hatte längere Zeit eine nicht mehr unterdrückbare Schnappatmung, Hitze- oder Kältewallungen, einen am Boden zerstörten Blutdruck, zitterte immer wieder am ganzen Leibe, bekam Gelenk und Muskelschmerzen, Krämpfe, Übelkeit, war schon bei der kleinsten Kleinigkeit (Einräumen des Geschirrspülers) am Ende meiner Kräfte angekommen. Völlige Appetitlosigkeit wechselte sich unversehens mit regelrechten Fressattacken ab, wochenlang ging ich im Haus auf und ab, von Fenster zu Fenster, auf dem Weg zur Garage, in der Öffentlichkeit nach vorn übergebeugt, mein Gang hatte sich verändert, und ich war über Nacht um ein Jahrzehnt gealtert. Am schlimmsten zu ertragen waren aber die lange anhaltenden Konzentrationsschwierigkeiten, das nicht mehr einwandfrei funktionierende Gedächtnis und eine damit verbundene Fahrigkeit und Nervosität, die mich selbst fast in den Wahnsinn trieb.

Binnen weniger Schritte oder Sekunden hatte ich vergessen, warum ich in den Keller gegangen oder die Kühlschranktüre geöffnet hatte. Ich stand im Schlafzimmer und es wollte mir partout nicht mehr einfallen, warum ich mich in diesen Raum begeben hatte. War ich, wie sonst gewohnt, ohne Liste im Supermarkt, so war in dieser Phase nicht im Traum daran zu denken – ich hätte nicht mehr gewusst, was ich alles kaufen musste, um meine Versorgung zu gewährleisten. Ich vergaß, wo ich den Wagen in der großen Tiefgarage abgestellt hatte und irrte durch diverse Etagen des Parkhauses, bis ich ihn endlich fand. Meine Sprache war spontan schleppend geworden, mir fielen die einfachsten Wörter nicht mehr ein, stolperte von Satzteil zu Satzteil, um sodann vergessen zu haben, was ich überhaupt sagen wollte.

Verschlimmert wurde diese Situation zudem dadurch, dass die Regelungen mit Banken, Behörden, Versicherungen oder auch nur dem Sportklub keinen Aufschub duldeten. Nach einem Suizid des eigenen Ehepartners, wie in meinem Fall, mangelt es grundlegend an Stabilität und einer rudimentär vitalen Physis. Die aber ist schon deswegen nicht zu erreichen, da an nächtlichen Schlaf in dieser Zeit gar nicht zu denken ist. Wenn ich für wenige Stunden in den Schlaf geriet, so kam dieser eher einer Ohnmacht gleich, verbunden mit den wildesten Träumen, die mich schweißgebadet immer wieder hochschrecken ließen. In den ersten vier Wochen baute sich so ein Schlafdefizit auf, welches das Potenzial für einen physischen Kollaps barg. Doch ich hielt mich dennoch aufrecht und klappte erstaunlicherweise nicht zusammen. Das war aus meiner heutigen Betrachtung heraus ganz zweifelsfrei dem Umstand geschuldet, nicht allein gewesen zu sein. Fast durchgängig war in den ersten Wochen stets mindestens ein vertrauter Mensch bei mir – dieses Tag und Nacht, und ich kann mit großer Sicherheit behaupten, dass es nur dieser Betreuung zu verdanken ist, dass ich nicht in eine geschlossene Psychiatrie hätte eingewiesen werden müssen.

Die guten Menschen um mich herum, die teilweise aus großer Ferne angereist waren, nachdem sie alles stehen und liegen gelassen hatten, um mich auffangen zu können, hörten mir zudem schier endlos zu. Sie verschonten mich weitgehend mit eigenen Interpretationen und allgemeinverbindlichen Plattitüden, spendeten nahezu ausschließlich nur darüber Trost, in dem sie da waren, mich immer wieder dasselbe sagen ließen, meinen ewig gleichen Gedankengängen ohne Müdigkeit und Gereiztheit folgten, still beobachteten und mich fürsorglich versorgten, wenn es ums Essen oder um notwendige Aktivitäten ging. Ich kann heute meine Dankbarkeit diesen Menschen gegenüber kaum in Worte fassen, vor allem weil ich erahnen kann, wie aufreibend und belastend die Wahrnehmung ihrer Rolle in diesen langen Tagen und Wochen gewesen sein muss.

Da ich meine Frau nach ihrem Suizid selbst gefunden habe (siehe Anhang), war meine Lage nochmals besonders erschwert. Nicht nur, dass sich das Bild in meinem Kopf derart festgefressen hatte, dass es mich pausenlos begleitete, unabhängig ob ich wach war oder schlief, ich war vor allem gezwungen, mehrfach am Tage an der Todesstelle vorbeigehen zu müssen, denn schließlich lebte ich in unserem Haus (wie es sich herausstellen sollte) noch ganze fünf Monate weiter. Sicher wäre es möglich gewesen, das Haus übergangsweise zu verlassen, bei einem Freund oder in einem Hotel unterzukommen. Doch mit diesem Gedanken konnte ich mich noch weniger anfreunden. Im Gegenteil, er verursachte bei mir zusätzlichen Schmerz. Denn – trotz der Grausamkeit – bedeutete mir unser Haus, mein ungebrochenes Zugegensein, eine mentale Nähe zu meiner toten Ehefrau, die ich nicht aufzugeben bereit war. In dieser Phase (und bei mir durchaus lange darüber hinaus) klammert man sich auch an das Metaphysische, sucht auch nach Zeichen und Signalen aus dem „Jenseits“, aus der „Zwischenwelt“ aus dem Universum. Und nicht selten wird man auch fündig.

Was ist ein Trauma

Hierzu die Definition der „Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumalogie“:

Der Begriff Trauma (griech.: Wunde) lässt sich bildhaft als eine "seelische Verletzung" verstehen, zu der es bei einer Überforderung der psychischen Schutzmechanismen durch ein traumatisierendes Erlebnis kommen kann. Als traumatisierend werden im Allgemeinen Ereignisse wie schwere Unfälle, Erkrankungen und Naturkatastrophen, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt sowie schwere Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bezeichnet.

Umgangssprachlich wird der Begriff Trauma häufig in Bezug auf verschiedenste als leidvoll erlebte Vorkommnisse verwendet, um zu kennzeichnen, dass es sich dabei um eine besondere Belastung für den Betroffenen gehandelt hat. In den medizinischen Klassifikationssystemen, die maßgeblich sind für die fachgerechte Beurteilung psychischer Beschwerden, ist der Begriff jedoch wesentlich enger definiert und schließt allein Ereignisse mit ein, die

 objektiv "mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß" einhergehen oder "die tatsächlichen oder drohenden Tod, tatsächliche oder drohende ernsthafte Körperverletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit von einem selbst oder Anderen" einschließen, sowie

 subjektiv "bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden“ beziehungsweise mit "starker Angst, Hilflosigkeit oder Grauen" erlebt wurden.

Als traumatisch erlebte Ereignisse können bei fast jedem Menschen eine tiefe seelische Erschütterung mit der Folge einer Überforderung des angeborenen biologischen Stresssystems verursachen. Somit wirkt sich ein Trauma nicht nur seelisch, sondern auch körperlich aus. Die Überflutung des Gehirns im Rahmen einer überwältigenden Stressreaktion behindert die angemessene Verarbeitung des Erlebten mit der Folge, dass der Betroffene die gemachte Erfahrung nicht wie gewohnt in seinen Erlebnisschatz integrieren und dann wieder Abstand davon gewinnen kann. Dieser Umstand kann dazu führen, dass der Organismus auf einem erhöhten Stressniveau verharrt und charakteristische Folgebeschwerden entwickelt.

Es würde zu weit führen, an dieser Stelle tiefer in die Definitionen und Erklärungen einzusteigen. Ein Blick auf die Informationen bei Wikipedia zeigt auf, wie breit diese Problematik angelegt ist, wie aufgefächert die Ursachen und Symptome verstanden werden müssen und wie gefährlich es ist, ein Trauma zu unterschätzen. Deshalb ist es mehr als anzuraten, dass sich Betroffene dann therapeutische Hilfe holen, wenn eine Bewältigung aus eigener Kraft auf zu große Schwierigkeiten stößt.

Ich las bei meinen Recherchen einen Situationsbericht eines Suizid-Hinterbliebenen, der seine Frau nach fast 30jähriger Ehe im gemeinsamen Haus erhängt aufgefunden hatte. Hieraus eine Passage:

Mir war es schon nach wenigen Tagen wichtig, das ganze Haus von allen Dingen zu befreien, die mich an meine Frau zu erinnern vermochten. Und so putzte ich sogar über Tage das Haus vom Boden bis zum Keller, um noch nicht einmal mehr Fingerabdrücke oder Staub vorzufinden. Als ich das Haus verkauft hatte und den Umzug vorbereitete, fand ich in einem Bücherregal ein langes Haar meiner Frau. Es war nur ein einziges, aber als ich es sah und aufnahm um es zu entsorgen, erfasste mich ein heftiger Weinkrampf, der minutenlang andauerte. Ich zitterte und hatte Atemnot. Für mehrere Stunden war ich kaum noch in der Lage zu sprechen, und das Bild ihres toten Körpers, das mich seither verfolgt, war präsenter als je zuvor. Und das geschah nach fast einem Jahr nach ihrem Tod.“

Selbst leichte Traumata sind geeignet, ein Leben lang zu prägen (und zu belasten). Ich selbst erlebte als Kind – ich war vielleicht vier Jahre alt – an der Hand eines Nachbarvaters auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten, wie ein Blitz direkt neben uns in den Schornstein eines kleinen Einfamilienhauses schlug. Den tosenden, krachenden Einschlag höre ich bis heute. Wir Kinder schrieen sofort in großer Panik und bis in diese Tage kann ich meine Angst nur mit Mühe unterdrücken, wenn es gewittert, es blitzt und donnert.

Suizid verursacht schwerste Verlustempfindungen und das Leid nimmt schier grenzenlose Dimensionen an. Allein das ist schon ausreichend, um ein schwerwiegendes Trauma zu verursachen. Kommt dann noch hinzu, dass Hinterbliebene den Suizidenten selbst auffinden, von dessen Bild und der Erkenntnis um diese Tat überrumpelt werden, ist ein Trauma fast vorprogrammiert. In dessen Kern steckt das Epizentrum der Verzweiflung, die mit einem Schlag so mächtig ist, dass sie jede einzelne Körperzelle einnimmt und sogleich mit lähmendem Gift zu zersetzen beginnt. Auch wenn sich diese Beschreibung von mir theatralisch und vielleicht sogar überzogen anhören mag, so komme ich nicht umhin zu bestätigen: So habe ich mich gefühlt, anders kann ich es gar nicht ausdrücken. Für lange Zeit besteht der ganze Körper, alles in der Gedankenwelt, nur noch aus Verzweiflung. Alle Freude oder Fröhlichkeit ist weggeblasen, man sieht nur noch grau, als wäre man farbenblind geworden, ein Genuss nicht mehr möglich, und selbst ein leichter Gang ist einem versagt, die Augen brennen, der Gaumen krampft, das Denken tut sogar körperlich weh, man bewegt sich fast wie in Trance.

Nicht von Ungefähr wird von Psychologen und Therapeuten diese Phase als suizidgefährdet beurteilt. Nicht nur wegen des „Werther-Effektes“ (dem geliebten Menschen in den Tod zu folgen und ebenfalls Suizid zu begehen), sondern auch (und vor allem) wegen der Schmerzdimension, die die bisher gekannten Grenzen der Erträglichkeit überschreiten lässt. Da ich im Nachgang sehr viel über Depressionen und psychische Störungen studiert habe, ziehe ich an dieser Stelle die Parallele zu einer tiefen Depression. Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieses wohlmöglich zu laienhaft und sicher wenig wissenschaftlich fundiert erscheint. Ich möchte auch nicht behaupten, dass diese Phase die ärztliche Diagnose „Depression“ rechtfertigt. Aus meiner Erfahrung, und den Erkenntnisse aus dem Studium so mannigfaltiger Fachbeiträge und wissenschaftlichen Arbeiten aber sehe ich viele (identische) Übereinstimmungen, und deshalb empfinde ich es als hilfreich, wenn man sich hierüber und über diesen Ansatz ein eigenes Bild erarbeiten kann.

Vergleiche ich die körperlichen (physischen) Symptome einer schweren Depression mit denen aus der Phase der Suizid-Folgezeit, so sind die Ähnlichkeiten frappierend. Und frisst sich das Trauma tatsächlich im Körper und Geist des Hinterbliebenen fest, erzeugt es auch in die Zukunft hinein weiterhin die bittere psychische Dynamik seines Seins, dann haben wir es nicht nur mit den Spätfolgen eines Traumas zu tun, sondern mit einer – aus meiner persönlichen Sicht – massiven Depression, die sich nicht von anderen unterscheiden lassen wird, deren Entstehung z.B. auf einer frühkindlichen traumatisierenden Erfahrung entwickelt hat.

Warum empfinde ich dieses im Rahmen meines Buches für wichtig?

 Das Wissen um die Zusammenhänge lässt einen betroffenen Hinterbliebenen schneller und gezielter seine eigene Lage und Verfassung erkennen.

 Zweifel um die eigenen Emotionen (man hat schon genug mit sich selbst zu tun) zermürben zusätzlich.

 Unkenntnis lässt falsche Rückschlüsse entstehen, was gegebenenfalls dazu führt, professionelle Hilfe nicht rechtzeitig in Anspruch zu nehmen (Gefahrenprävention).

 Auch tut es „gut“ zu erfahren, dass man selbst nicht der Einzige ist, dass das umgestülpte Gefühls- und Seelenleben, inklusive der körperlich/geistigen Einschränkungen, zumindest phasenweise, eine Schutzreaktion des Körpers ist, die zwar nicht „normal“ ist, aber eben auch nicht unbedingt „krank“ oder gar „krankhaft“.

 Auch ist hierüber eine weiterführende Sorgsamkeit gegenüber sich selbst (oder gegenüber dem betroffenen Hinterbliebenen) zu erzeugen, was fürsorglich beobachten und rechtzeitig handeln lassen sollte.

 Der betroffene Hinterbliebene ist nicht „wahnsinnig“, auch nicht übersensibel oder gar ein Hypochonder. Sein ganzer Körper ist auf einen Schlag zu einer offenen Wunde geworden – und so sollte man sich selbst sehen /verstehen (oder von anderen) verstanden werden.

 Wenn sich die Trauma-Symptome beharrlich halten, sich vielleicht sogar verschlimmern, dann darf nicht gezögert werden: fachliche Hilfe ist dann ein Muss, um ein späteres psychisch gesundes Leben zu ermöglichen.

286,32 ₽
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