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Der Wille zu sterben

Im Ganzen wird man finden, dass,

sobald die Schrecknisse des Lebens

die Schrecknisse des Todes überwiegen,

der Mensch seinem Leben ein Ende macht.

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860)

Deutscher Philosoph

Der Mensch ist das einzige Wesen, das einen Todeswunsch entwickeln kann. Kein Tier ist dazu in der Lage, auch kein Schimpanse oder Gorilla, deren Evolutionsstufe der unseren am nächsten kommt. Tiere können fühlen, lieben, Mitleid entwickeln und nachdenken. Gewiss nicht in einer unmittelbaren Vergleichbarkeit zu uns Menschen, doch aber in einer, die es vermuten lassen könnte, sich auch das Leben nehmen zu wollen. Dennoch ist es ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen, dieses zu können.

Nun ist es bekannt, dass es viele Suizidenten gibt, deren tatsächlicher Wunsch gar nicht das Sterben, sondern durchaus das (Weiter)Leben ist, der Suizid(versuch) nur Mittel zu einem anderen Zweck ist und das Überleben erhofft, vielleicht auch einkalkuliert, zumindest dann doch aber als eine Art „Gottesurteil“ in die Hände des Schicksals gelegt wird. Doch bei allen anderen Suizidenten muss davon ausgegangen werden, dass der eigene Tod so oder so tatsächlich einem echten und unermesslich großen Wunsch entspricht, woher dieser auch immer herrühren mag.

Instinktiv und kognitiv ist uns der Tod kein anzustrebendes Szenario. Freiwillig aus dem Leben zu treten kommt daher einem weitgehend abnormalen Gedanken gleich, denn jeder will doch im Grunde (und instinktiv) das Gegenteil: leben! Der unter den Experten so umstrittene „Bilanz-Suizid“ (klassisches Beispiel: der unheilbare Krebspatient, der durch die schnelle Selbsttötung einem grausamen Siechtum entgehen will) mag vom Motiv her eine Ausnahme mit größerer Nachvollziehbarkeit darstellen. Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Tiefe gehen, warum sich die Fachwelt darüber streitet, ob es diesen „Bilanz-Suizid“ wirklich gibt, die Motivlage aber ist in besonderer Weise auch für gesunde Menschen „akzeptabel“: in einer bilanzähnlichen Kontierung wird das Für und Wider gegenübergestellt und das kleinere Übel gewählt. In Ermangelung eines qualvollen und dazu vielleicht noch langen Todes erscheint uns die Selbsttötung als gangbarer Ausweg, der sogar eine „Logik“ aufweist. Der Überlebensinstinkt ist mit einer solchen ausschaltbar.

Aber Suizid, weil man das Leben nicht mehr erträgt?

Gilbert Keith Chesterton - englischer Schriftsteller (1874-1936) – schrieb das Folgende:

Der Mensch, der einen anderen tötet, tötet nur einen;

aber der Mensch, der sich selber tötet, tötet alle Menschen;

was ihn betrifft, so löscht er das ganze Weltall aus."

Das, was Chesterton damit ausdrücken wollte, hat eine große Bedeutung. Natürlich tötet der Suizident keine anderen Menschen (abgesehen von den Fällen, in denen der Suizident andere mit in den Tod reißt). Suizid ist aber etwas Allumfassendes. Denn die Auslöschung der gesamten Menschheit betrifft allein ihn selbst. Mit seinem Tod ist für ihn alles – auch die Menschheit – vernichtet. Dazu das ganze Weltall – demnach eine Totalvernichtung.

Damit geht einher, dass die Vernichtung alles betrifft, was ihn als Individuum ausmacht, einschließlich seiner Schmerzen, Sorgen, Leiden, Ängste, Verzweiflung, Hass oder Rache. Der Wille zu sterben ist nicht etwa die Hoffnung auf eine bessere Welt nach dem Tode, auch wenn es sicher Suizidenten gibt, die dieses anstreben. Der weit überwiegende Teil der Menschen, der sich für die Selbsttötung entscheiden, will, dass „es“ aufhört. Diese haben sich in eine Ausweglosigkeit hineingedacht, die sie nur noch durch die eigene Auslöschung beheben können, die so unerträglich für sie scheint, dass nur der Tod Erlösung verspricht. Das Licht ausmachen, für immer ruhen, keine Gedanken mehr haben, keine Leiden und Schmerzen ertragen, keine Zwiespälte mehr erdulden, Konflikte nicht mehr austragen, keine Angst mehr haben zu müssen.

Als Hinterbliebene eines Suizidenten haben wir ständig das Argument parat, dass der Tod unseres geliebten Menschen „unnötig“, „unsinnig“ war. Nach unserem Dafürhalten kann es nur sehr wenige Probleme geben, die so groß sind, dass diese unseren Tod rechtfertigen können. Ein langjähriger Freund von mir litt über zehn Jahre an Lungenkrebs. Der Tod war nur eine Frage der Zeit für ihn, und er kämpfte dennoch kraftvoll und schaffte es einige Jahre sich gegen das Unvermeidliche zu stemmen. Zuletzt lag er seit Wochen nur noch in seinem Krankenbett und wurde durch einen Schlauch mit Sauerstoff versorgt. Spät nachts entschied er sich seinem Leiden ein Ende zu setzen. Das Einzige, wozu er noch fähig war, tat er dann auch: er drückte sich mit der Hand selbst die Zufuhr des lebensnotwenigen Sauerstoffs ab. Sein Todeswille war so stark, dass seine Hand den Schlauch noch zupresste, als er schon längt tot war.

Ich denke, Sie werden nun zu sich selbst so etwas wie „verständlich“, „nachvollziehbar“ gesagt haben. Vielleicht auch: „Hätte ich ebenso gemacht!“ So wird die Mehrheit aller Menschen reagieren, zudem ganz gewiss auch den Mut und die Kraft bewundern, die für eine solche Tat aufgebracht werden muss. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und spreche von „Disziplin“, denn alles, was für eine solche von Nöten ist, steckt in der Tat meines Freundes. Tugenden, für die wir Menschen bewundern, ehren und sie wertschätzen. So gerät mit einem Mal der Suizid zu einem Akt der Größe, wird nahezu heroisch.

Wir senken den Blick, verneigen uns vor einer Leistung, zu der man sich selbst nicht fähig sieht. Unser Schutzmechanismus, unser Instinkt, funktioniert automatisch. Auch entwickeln wir in den meisten Gesellschaften auf unserem Planeten ein bedingtes Verständnis für den Suizid in besonders „einleuchtenden“ Lebenslagen. Der bettlägerige Greis, der seinen ihn pflegenden Kindern nicht mehr zur Last fallen will. Vielleicht auch der Suizid eines Menschen, der schwere Sünde, eine furchtbare Untat, auf sich geladen hat und nun „sich selbst gerichtet hat“, oder aus Verzweiflung über das Unglück, dass er über andere gebracht hat, sein eigenes (Weiter)Leben nicht mehr für gerechtfertigt ansah. Und in bestimmten Kulturkreisen ist es die Scham um eine verlorene Ehre, die in der relevanten Gesellschaft sogar als „richtig“ (und anständig) verstanden, und von vielen mit einer Art Verpflichtungsempfinden respektiert wird.

Wir werden aber in eine Fassungslosigkeit gestürzt, wenn es dem Motiv für den Suizid an Heldenhaftem oder unserem „Einverständnis“ mangelt, wir eben nicht mehr nachvollziehen können, warum für eine (aus unserer Sicht) „lösbare Problematik“ aus dem Leben getreten werden wollte. Wir raufen uns viel mehr die Haare, weil doch „alles“ regelbar, geraderückbar gewesen ist.

Wie konnte sie/er nur so blind sein …?

Die heutige Wissenschaft hat innerhalb der Suizidforschung feststellen können, dass es nicht „den einen“ Grund, auch nicht „die eine“ psychische Störung (inkl. Ursache) gibt, die den Suizid ausmachen. Es kommt eine Reihe von ungünstigen Gründen, Zusammenhängen und psychischen Einflüssen korrelierend zusammen, so wie ein Taifun von verschiedensten meteorologischen Zusammenhängen abhängt, um seine verheerenden Eigenschaften entwickeln zu können.

Häufig begegnen wir einem für uns völlig unverständlichen Suizidfall mit einer Logik, die es uns erklärlicher machen soll: eine Kurzschlussreaktion. Das erklärt zwar nicht das Unerklärliche, ist aber wenigstens entlastend zu verstehen: bei einem Kurzschluss sind wir nämlich alle machtlos. Spontaner Suizid aus einer plötzlich erkannten Ausweglosigkeit oder Verzweiflung, Angst oder traumatischen Erinnerung? Ja, es gibt sie, diese „Kurzschlüsse“, wenngleich sie bei Weitem seltener vorkommen sollen, als es im Allgemeinen angenommen wird. Die Fachwelt hat hierbei die Grenzen äußerst eng gefasst, und es werden nur die Fälle gewertet, die dem Charakter eines tatsächlichen „Kurzschlusses“ entsprechen. So zum Beispiel der Gast in einem Restaurant, der ohne Vorwarnung oder vorausgegangene Signale weiß wie Kreide wird, aufspringt und sich aus dem Fenster in den Tod stürzt, weil ein neuer Gast das Lokal betreten hat, dessen Antlitz den Suizidenten an ein grausames, traumatisches Kindheitserlebnis erinnerte (von diesem Fall habe ich tatsächlich gelesen). Hierbei soll nun nicht das Motiv hinterfragt werden – es sind allein die Spontanität und der „Kurzschluss“, welche diese Suizidform beschreiben.

Suizid ist die schärfste Form der Aggressivität. Und diese richtet sich gegen sich selbst. Empfunden wird vielleicht völlige Wertlosigkeit, große Fehlerhaftigkeit, Belastung für andere, etwas nicht mehr verdient zu haben, Unzufriedenheit mit sich selbst (Leistungsanspruch, Perfektionismus, Karrierestreben, sich zurückgesetzt oder abgelehnt fühlen). Jemand, der aggressiv geworden ist, hat alle Ehrerbietung verloren. Die Aggression gerät vielleicht sogar zu einer Form der Selbstbestrafung, zumindest doch aber zu einer „gerechten“ Maßnahme, da es anderen besser ergehen wird, wenn man selbst nicht mehr existiert. Zweifellos verfolgen Menschen mit ihrem Suizid vereinzelt auch das Ziel einen anderen Menschen (oder eine Gruppe) zu bestrafen, zu belehren, sich zu rächen. In diesen Fällen richtet sich die hohe Aggressivität zwar nach Außen, das eigene Leben wird aber als Mittel zum Zweck eingesetzt – die Aggression ist gleichermaßen auch auf sich selbst ausgerichtet.

Ich habe vor kurzem von einem Sportler lesen können, der einst mit verkrüppelten Beinen zur Welt kam und sich mit Eintritt seiner Volljährigkeit für die Amputation entschied. Er empfand die Zukunft mit Prothesen erstrebenswerter als weiterhin mit seiner Verkrüppelung zu leben. Heute ist er einer der weltweit führenden Sportler in der Leichtathletik. Das hat nichts mit Aggressivität zu tun – vielmehr mit einer Abwägung von Wohl und Wehe in Aussicht auf eine bessere Zukunft. Vor allem aber kostet diese Entscheidung nicht das Leben – ist dennoch mit dem Suizid an einem Punkt vergleichbar: dem eigenen Willen etwas Drastisches zu tun, was Erlösung bringen soll.

Ein gesunder Mensch wird es sich nur schwer vorstellen können, sich freiwillig die Beine amputieren zu lassen. Nur aus einer Logik (Bilanz) heraus, kämen wir zu dem Schluss (und der Nachvollziehbarkeit), einen solchen Schritt zu befürworten, wenn wir die Verbesserung der Lebensqualität gegenüberstellen. Streichen wir den Wortteil „Lebens“, dann bleibt nur noch „Qualität“ übrig. Der Wille zu sterben zielt auf eine „Qualitätsverbesserung“ ab, denn das „Leben“ ist für den Menschen höchstwahrscheinlich bereits schon seit längerer Zeit nicht mehr erträglich, und der Wille zu sterben wird damit das bestimmende Moment – der eigene Tod ist qualitativ das Beste.

Es gelingt uns Hinterbliebenen nur sehr, sehr schwer diesen Willen unseres geliebten Menschen zu verstehen – und noch viel schwerer diesen zu akzeptieren. Täten wir das vielleicht zu voreilig und oberflächlich, erklärten wir uns mit seinem Vorgehen und seinem (Frei)Tod sogleich einverstanden. Und das wollen wir gewiss nicht ausstrahlen. Ich verfolge an diese Stelle, sehr geehrte/r Leser/in, ganz sicher nicht die Absicht, Ihnen die Absolution des Suizids Ihres geliebten Menschen abzuringen. Vielmehr wünsche ich mir, dass Sie in Ihre eigene Bewertung Ihrer Tragödie einbeziehen, dass dieser Mensch einem übermächtigen Willen unterworfen war, der das Weiterleben kategorisch ausschließen ließ. Und so wie das dem (kranken/gestörten) Kalkül des Suizidenten unterlag, so ist es allein unsere eigene (gesunde, zutreffende) Betrachtung, dass dieser damit so tragisch falsch lag.

Wir sind im Allgemeinen durchaus in der Lage, Schmerzen eines anderen so zu antizipieren, dass wir dessen Leid erkennen und in unserer Vorstellungswelt bewerten können. Auch wenn wir zum Beispiel die Zahnschmerzen unseres Kindes selbst nicht verspüren, so wissen wir aus eigener Erfahrung, wie sehr einen derlei peinigen können. Zahnschmerzen sind ein Teil unserer Erinnerung, eine Lebenserfahrung, die in der Regel nicht vergessen werden kann. Sie bleibt präsent, eingebrannt in unserem Bewusstsein. Den „Zahnschmerz“ unseres geliebten Menschen, der diesen zum Suizid hat kommen lassen, können wir aber nicht nachempfinden, da wir diesen selbst so nie erfahren haben. Dessen Leid, Verzweiflung, Ängste und seine empfundene Ausweglosigkeit sind für uns komplett abstrakt und daher nicht begreiflich. Unsere Zähne sind seit jeher intakt, nicht kariös, wiesen noch nie eine Wurzelentzündung auf. Wir sind somit per se gar nicht in der Lage, das Leid des Anderen auch nur annähernd zu verstehen. Und erst Recht können wir mit „gesunder Psyche“ nicht nachempfinden, was eine „kranke/gestörte“ dazu kommen lässt, sich zu suizidieren.

Unsere Empfindung, dass der frei gewählte Tod auf einer tragischen Fehlinterpretation beruht, kann somit nahezu unmöglich das Drama erfassen, welches unserem geliebten Menschen alle Zuversicht und jedweden Lebenswillen geraubt hat. Alle unsere Wertungen sind somit nahezu blanke Theorie, basierend auf der Tatsache, selbst „gesund“ und „psychisch stabil“ zu sein. Begegnen wir einem an Demenz Erkrankten, dann versuchen wir die Auswirkungen dieser Krankheit zu berücksichtigen. Was Demenz wirklich bedeutet, wissen wir nicht, können uns auch gar nicht vorstellen, was im Kopf des Kranken vor sich geht. Wir wissen nur: dieser Mensch ist nicht mehr mit Normalmaßstäben zu messen – und wir berücksichtigen diese Erkenntnis, soweit es im Zusammenspiel mit dem Betroffenen eben geht. Die Basis aller Wertungen dabei: Wir haben es mit einem kranken Menschen zu tun. Und dieser kann für sein Leid nichts, er ist selbst ein „Opfer“.

In ebensolcher Weise müssen wir uns bei einem Suizid positionieren. Unser geliebter Mensch, den wir nun so tragisch verloren haben, befand sich in einem Zustand, den wir weder verstehen, noch nachempfinden können. Aus diesem entsprang der unbedingte Wille zum Sterben. In der Psyche des Suizidenten hat ein Prozess stattgefunden, der nur in seiner eigenen und ganz isolierten Empfindungswelt den eigenen Tod als Erlösung verstehen ließ. Und es entstand der Wunsch zur Selbstvernichtung, zur Auslöschung, zur Beendigung des eigenen Martyriums.

Wir argumentieren im Nachgang mit vermeintlich bestechender Logik: Die Kraft, die unser geliebter Mensch für seinen Suizid aufgewendet hat, hätte mehr als ausgereicht, das Leben fortzusetzen, die Probleme zu lösen, einen positiven Weg zu gehen. Damit werden wir nicht falsch liegen – zumindest theoretisch. Doch an einer Wegegabelung haben wir uns alle zu entscheiden, ob wir nach links oder rechts gehen. Unser geliebter Mensch hat sich nicht nur für eine dieser Richtungen entschieden, er hat alle Kraft und Energie aufgewendet, die für ihn einzig richtige Entscheidung zu treffen. Eine gewaltige Willensleistung, an deren Ende die vollkommene Selbstvernichtung stand.

Kommunikationsdefizite in präsuizidalen Phasen

Um etwas zu sagen, ist immer Zeit vorhanden,

aber nicht um zu schweigen.

Vilma Espin (1959 – 2007),

kubanische Revolutionärin

Wie oft haben Sie sich in Ihrer Tragödie schon gefragt, warum Sie nicht mehr über „alles“ gesprochen haben, warum Sie vielleicht nicht aufmerksam genug zugehört haben, warum Ihr geliebter Mensch so verschlossen und so still war. Sie haben doch sonst immer über alles miteinander sprechen können. Ihre Vertrauensbasis war doch intakt. Die Liebe war das Bindemittel. Geheimnisse gab es doch zwischen Ihnen nie wirklich.

Und hat sich bei Ihnen nicht auch der Gedanke nach und nach eingeschlichen, dass Sie wahrscheinlich nur zu ignorant, zu oberflächlich, zu sehr mit sich selbst beschäftig waren? Dass Sie – wenn Sie denn nur ein wenig aufmerksamer und einfühlsamer gewesen wären – es natürlich gemerkt hätten, was in Ihrem geliebten Menschen innerlich vorging? Und in dem furchtbaren Wissen um dessen Suizid mischt sich nun die Tragik in Ihren Schmerz, dass Sie es doch hätten verhindern können, sofern Sie nicht so egoistisch, Sie nur ein wenig mehr fürsorglicher, kommunikativer gewesen wären.

Ob dieses nun ein Reflex ist, oder tatsächlich in einzelnen Situationen sogar zutreffend war, es ist ein innerlicher Ablauf bei Ihnen, der damit zu vergleichen ist, was ein Vater oder eine Mutter fühlen, die einen kurzen Moment weggeschaut haben, und in dieser Sekunde ist der Vierjährige gegen die offene Türe gerannt und hat sich eine Platzwunde zugezogen, die zeitlebens eine deutliche Narbe hinterlassen wird.

 Wie konnte ich nur wegsehen?

 Ich hatte doch die Verantwortung!

 Warum habe ich die Türe auch offen gelassen?

 Wie konnte ich so leichtfertig sein?

 Nur weil das Handy klingelte!

 Weil ich in diesem Moment so egoistisch war!

 Es war doch nur ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit!

Das ist ein Beispiel, na klar. Doch ähnelt es nicht in seinem Charakter Ihrer heutigen Situation? Das tragische Unglück ist geschehen, Sie wissen nun (plötzlich), was in Ihrem geliebten Menschen vor sich ging. Und Sie haben – so ist Ihre Empfindung – nicht ausreichend hingeschaut! Nicht genug gefragt! Signale übersehen! Nicht aufmerksam hingehört! Waren vielleicht gerade zu sehr mit sich selbst beschäftigt! Und so weiter, und so weiter …

Falls Sie es vorhaben, diese Selbstmarterung fortzusetzen, dann werden Sie sich einen massiven Schuldkomplex einhandeln – und das ganz sicher zu Unrecht (siehe hierzu „Schuld“). Das wäre noch nicht einmal berechtigt, wenn Sie vorsätzlich gehandelt haben würden, oder zumindest grob fahrlässig. Denn für den Suizid ist nur Ihr geliebter Mensch selbst verantwortlich. Doch weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit werden bei Ihnen in Ansatz zu bringen sein. Auch da bin ich mir sicher. Wie „schlecht“ Sie auch immer gegenwärtig über sich denken und urteilen möchten, Sie werden wohl kaum beabsichtigt oder bewusst in Kauf genommen haben, dass Ihrem geliebten Menschen etwas Derartiges passiert.

Sie gleichen derzeit aber die Erkenntnis um das tragische Ende mit den (theoretischen) Möglichkeiten ab, die (allein) Sie sich nun im Nachgang als rettende Maßnahme vorstellen. Wie in so vielen harmlosen Beispielen gesagt wird: Hätte, hätte, Fahrradkette. Denn Fakt wird es sein, dass in Ihnen kein (ausreichender) Verdacht aufkam, Ihnen nichts (oder zu wenig) merkwürdig oder gefährlich erschien, Sie keine (oder zu wenige) Anlasspunkte besaßen, eine solche Tragödie anzunehmen, vorherzusehen und die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Die Lage war aus Ihrer subjektiven Wahrnehmung höchstwahrscheinlich einfach eine völlig andere!

Im Nachgang sind wir immer schlauer. Das ist nicht schwer, das müssen auch Sie zugeben, und das sollten sich auch alle Menschen in Ihrem Umfeld immer wieder selbst vorsprechen. Und selbst wenn wir an der einen oder anderen Stelle, in einer vielleicht problematischen Situation, etwas verspürt, geahnt oder einfach nur anders reagiert hätten, wäre es dann garantiert gewesen, dass der Suizid unseres geliebten Menschen damit ein für alle Mal vom Tisch gewesen wäre? Das ist nicht nur höchst unwahrscheinlich, zudem auch eine rein theoretische Annahme, die sich in keiner Weise belegen lässt.

Wir leben nun einmal in Momenten, in Zeitfenstern und Fügungen. Sich im Nachhinein vorzuwerfen, es hätte von Ihnen mit mehr Vernunft oder Fürsorge verhindert werden können, träfen allenfalls zu, wenn Sie einen Unfall mit 2,5 Promille Alkohol im Blut verursacht hätten. Dann dürften Sie sich Schuld zuweisen und den Rest mit Ihrem Gewissen ausmachen.

Verzeihen Sie mir bitte diese profane Metapher. Aber sie dient der Objektivierung. Sie haben gehandelt – ob im Detail (objektiv/subjektiv) fehlerhaft ist nur eine Nuance. Welche Chancen waren Ihnen denn gegeben? Ihr Handeln fand auf einem längst bestellten Acker statt, denn das Unglück hängt meist in seiner kausalen Kette von vielen Faktoren ab, die Sie persönlich gar nicht komplett verantworten und nur zu einem geringen Teil selbst beeinflussen können.

Im Fokus dieser Betrachtungen steht die Kommunikation. Und mit dieser die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit der Gespräche zwischen Ihnen (und Ihrem Umfeld) und dem nun verlorenen geliebten Menschen. War es so, dass Sie etwas von dem gesagt (oder gemeint) haben, was ich jetzt exemplarisch aufführe?

 Mich interessieren Deine Probleme nicht!

 Lass mich in Ruhe mit Deinen Sorgen!

 Ich habe kein Interesse Dir zuzuhören!

 Ich will von alledem nichts wissen!

 Es ist mir egal wie Du Dich fühlst!

 Es ist mir Wurst ob Du an Suizid denkst!

Oder ist es nicht vielmehr so gewesen, dass der geliebte Mensch Ihnen gegenüber seine Probleme, Ängste, Sorgen, Depressionen, innersten Gedanken verborgen hat? Hat er Sie vielleicht sogar belogen, getäuscht, in die Irre geführt? Erkennen Sie nicht heute ein Schauspiel, geschickte Tarnung, gezielte Ablenkung von Plänen und Vorbereitungen?

Und haben Sie nicht doch verschiedentlich hier oder dort sogar kritische, besorgte Fragen gestellt? Was ist in letzter Zeit los mit Dir? Wieso bist Du so still? Hast Du Sorgen? Hast Du Schmerzen? Warum schläfst Du so schlecht? Kann ich Dir irgendwie helfen? Soll ich Dir etwas abnehmen? Haben Sie vielleicht sogar Problemzonen erkannt, Empfehlungen und Ratschläge gegeben, gemahnt, zur Vorsicht aufgerufen, zur Besinnung oder zur „Entschleunigung“ aufgefordert?

Und welche Antworten haben Sie darauf bekommen? Hat Ihnen der geliebte Mensch gesagt: „Ich habe Depressionen!“ – „Ich kann es nicht mehr ertragen!“ – „Ich habe sehr schlechte Gedanken!“ - „Ich denke an Suizid!“ Ja, gereicht hätte mit Sicherheit ein einfaches Sätzchen: „Hilf mir!“

Kommunikation ist weder eine Bring- noch eine Holschuld. Kommunikation ist ein interaktiver Prozess der darauf beruht, dass jeder Teilnehmer seinen Teil dazu beiträgt, dass der notwendige Informationsaustausch in Gang kommt, aufrechterhalten bleibt und die jeweiligen Ziele erreicht werden. Das ist innerhalb von Geschäftsprozessen in keiner Weise anders als im privaten Zwischenmenschlichen, einschließlich des Zusammenlebens mit einem geliebten Menschen.

Blicken Sie nun zurück, so wird es Ihnen ganz sicher wie Schuppen von den Augen fallen, dass es mit der aller größten Wahrscheinlichkeit für Sie möglich gewesen wäre, eine Rettung (u.a. mit externer, professioneller Unterstützung) herbeizuführen. Doch dazu bedarf es der sinnstiftenden und auslösenden Signalgebung. Und selbst wenn es auch heutiger Sicht heraus derlei Signale gab, so bedürfen auch diese eines Kontextes, der sich aus Sensibilisierung, Kommunikation und Interpretation nährt. Was Ihnen heute so klar erscheint, war Ihnen damals höchstwahrscheinlich völlig im Verborgenen.

Wie also war das Kommunikationsverhalten Ihres geliebten Menschen, sehr verehrte/r Leser/in? Insbesondere in der letzten Zeit vor dem Suizid? Welche Verhaltensstörungen konnten Sie identifizieren, die Ihnen (oder anderen) einen Hinweis auf eine bevorstehende Katastrophe oder eine psychische Störung gaben? Und wie war dieser Mensch überhaupt ausgerichtet? War dieser ein ansonsten offener Typ – oder neigte sie/er eher zur Verschlossenheit? Gab es vielleicht gerade vordringliche andere Probleme in Ihrem (gemeinsamen) Leben zu meistern, die Ihnen Sorge bereiteten, Ihre Konzentration abforderten, die existenziell oder zumindest bedeutend waren? Haben Sie vielleicht in der letzten Zeit selbst Lebenssituationen durchlaufen müssen, die ihre massive Zuwendung erforderten? War Ihr geliebter Mensch vielleicht so besorgt um Sie, dass sie/er Ihnen die eigenen Probleme nicht auch noch aufbürden wollte, sich (wie gewohnt) eher zurücknahm und sich selbst nicht so wichtigmachen wollte?

Wir fragen so oft andere Menschen: „Wie geht´s Dir?“ Fast schon ein Automatismus, wenn wir anderen begegnen. Eine Standardfrage, die meist gar keine Antwort erwartet, außer das stereotype „Danke! Gut!“. Probieren Sie es einmal aus, auf diese Frage ehrlich zu antworten und zu sagen: „Mir geht es schlecht!“ Sie werden entweder in ein recht irritiertes Gesicht blicken, oder vielleicht sogar die Antwort erhalten: „Ach Gott, das tut mir leid. Aber wir haben ja alle unsere Sorgen.“

Was ich damit sagen will ist folgendes: Wir haben es uns „kulturell“ angewöhnt, dass es uns immer „gut“ geht. Und wenn nicht, dann behaupten wir es dennoch – das jedenfalls gegenüber allen Menschen, die nicht zu unserem intimsten Kreis gehören. Sich aber zu öffnen und zu sagen, dass es einem schlecht geht, man Sorgen, Ängste hat, vielleicht sogar verzweifelt ist, ist nur dann angemessen, wenn wir uns nicht nur absoluter Vertrautheit gewiss sind, sondern zudem auch Hilfe oder zumindest Zuspruch erhoffen. Dieser „Hilferuf“ basiert aber auf gesunder Emotionalität im Einklang mit gesundem Realismus. Ist einer dieser beiden Pfeiler marode, so wird auch der „Hilferuf“ – wenn dieser dann überhaupt vernehmbar abgesetzt wird – ein anderer sein. Vielleicht subtiler, vorsichtiger, verschlüsselter, leiser. Oder er bleibt eben völlig aus. Aus Scham, aus Fürsorge, aus falscher Zurücknahme. Vielleicht auch aus der Komplexität und Verworrenheit der verspürten Probleme, die einfach nicht mehr erklärbar erscheinen. Vielleicht auch aus der Tatsache, dass die Lösung längst bekannt ist und mannigfaltig kommuniziert wurde, im Auge des Präsuizidenten aber keine akzeptable Lösung darstellt, seine Prinzipien verletzt oder sich mit seiner (labilen) Psyche einfach nicht verträgt.

Meine geliebte Frau war per se eher eine verschlossene Person. Sie neigte gewiss stark dazu, ihr „Herz zu einer Mördergrube“ zu machen. Das betraf nicht alle Problemarten gleichermaßen. In Bezug auf berufliche Themen war sie offen und suchte bis (fast) zuletzt meinen Rat und meine Erfahrung. Hinsichtlich ihres langen und schweren Rückenleidens, den damit einhergehenden vielen Schmerzen und Einschränkungen, war sie nicht nur zurückhaltend, meist sogar verschwiegen oder im besten Falle verniedlichend. In nur sehr seltenen Situationen öffnete sie sich vollends, das aber nur, wenn es nicht mehr anders ging. Ich selbst war in den langen Jahren mit ihr stark sensibilisiert, ihre ganz eignen „Zeichen“ zu erkennen, die sie zum Beispiel aussendete, wenn sie starke Schmerzen hatte. Und wenn ich dann fragte (wissend, dass es so ist) „Hast Du wieder Schmerzen?“, dann war ihre Antwort nahezu immer: „Alles gut!“ Ich hatte gelernt, dass sie auf ihre Weise damit umgehen konnte. Sie war äußerst verantwortungsvoll im Umgang mit ihren starken Schmerzmedikamenten, steuerte die Dosen stets allein, setzte die Mittel immer wieder ganz ab, und sie beteuerte stets, dass Sie nach all den Jahren gelernt hätte, mit einem gewissen Maß an Schmerzen (die normal jeden anderen schwer belastet haben würden) durchaus leben zu können.

Alles gut! Das war das Credo ihrer Problemkommunikation. Und auch wenn ich – was ich nie aufgab – tiefer nachfragte, sie zur Öffnung ihrer „Mördergrube“ drängte, blieb sie fast immer dabei, lenkte ab, wechselte das Thema oder fauchte mich irgendwann an: „Hör auf mich zu fragen. Ich melde mich schon, wenn es schlimmer wird.“ Sie war seit vielen Jahren, mehr als ihr halbes Leben, daran gewöhnt, ihre Probleme nicht zu diskutieren. Ihr Ehrgeiz, ihr Perfektionismus, aber auch ihre Fürsorge für ihr intimstes Umfeld sorgten dafür, dass ihre Lasten nicht die der anderen zu sein hätten. Sie würde mit alledem ganz allein zurechtkommen.

Wenn man daran gewöhnt ist, dass jemand wegen seiner vielen Rückenschmerzen so manche Nacht nicht ruhig (oder gar nicht) schläft, dann ist die Signalgebung einer depressiv bedingten Schlafstörung weder auffällig, noch ist diese von dem bisher Gewohnten zu unterscheiden. Ich erwähne das als Beispiel, denn dieses soll dazu dienen, das Kommunikations- und Sendungsverhalten Ihres geliebten und nun verlorenen Menschen im Nachgang zu betrachten, mit dem Ziel, sich die folgende Frage zu beantworten: War es Ihnen objektiv (!) möglich, die Katastrophe zu erkennen? Und wenn ja, dann schließen sich die Betrachtungen über das „Wann?“ sowie die „Signalstärken“ an.

Niemand in der Welt läuft herum und stellt Menschen, denen es gerade nicht besonders gut zu gehen scheint, die Frage: „Denkst Du gerade an Suizid?“ Dazu bedarf es eindeutiger, zumindest aber klarerer Hinweise und Alarmmomente. Wenn hingegen ein Präsuizident sich auch noch tarnt, sein Innerstes eben nicht preisgeben will (aus welchen Gründen auch immer), dann haben es selbst versierte Therapeuten äußerst schwer, dem drohenden Drama auf die Spur zu kommen.

Andrew Solomon schreibt in seinem Buch „Saturns Schatten“ auch über seine eigenen schweren Depressionen sowie über seine häufigen Suizidgedanken. Selbst erfahrener Therapeut und Psychoanalytiker, bestätigt er dabei sehr eindrücklich, dass es Experten so gut wie unmöglich ist, eine Suizidgefahr zu diagnostizieren, wenn der Patient sich verschließt und tarnt. Dem laienhaften Umfeld ist das somit noch weniger möglich. Das bestätigt nahezu die gesamte Fachwelt. Und das sollten wir uns in unseren Überlegungen stets vor Augen führen.

Wie also war die Kommunikation des geliebten Menschen, als er noch unentschlossen, ambivalent oder gar schon entschieden war? Vor Ihrer Antwort, sehr geehrte/r Leser/in, versuchen Sie bitte alle Erkenntnisse auszublenden, die Ihnen nun – nach Kenntnis um die Tragödie – im Kopf herumsausen. Damit meine ich die Denkansätze: Man hätte …! Versuchen Sie so objektiv wie möglich zu bewerten. Und kommen Sie zu einer Antwort, die im Kerne aussagt, dass Sie in bestimmten Gesprächen oder Situationen etwas hätten merken, in Alarmbereitschaft geraten müssen, dann wäre es ratsam diesem Aspekt ihre Erklärung gegenüber zu stellen, die Sie sich aufgrund der Lebensgewohnheiten und der damaligen Lebensumstände selbst (ganz logisch) erklärend (und beruhigend) gegeben haben.

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