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Bündnisse


Ratsherrin Shanesa ließ den Blick über die Ausläufer des Zwielichtforstes schweifen. Etwas stimmte nicht in ihrem geliebten Freiholt. Seit der merkwürdige rote Stern erschienen war, dessen Silhouette selbst tagsüber am Himmel stand, plagte sie eine nagende Unruhe. Sie wollte niemanden ohne handfesten Grund ängstigen, also war sie allein Richtung Grenze geritten. In jungen Jahren war sie Kundschafterin in den Spaltungskriegen gewesen, und sie kannte die Schluchten und Auen der Grenzregion zur Altnacht wie kein Zweiter. Wenn etwas von dort nach Freiholt gelangt war, würde sie es finden.

Shanesa tastete nach dem Griff des Dampfbogens, der zusammen mit der silberrunenbesetzten Streitaxt vom Sattel hing. Ihr treues Ross schnaubte, als spürte es, was in ihr vorging. Sie zauste ihm die Mähne und lenkte es auf den Weg, der unter den Bäumen parallel zum Schummerklippenfluss verlief.

Über dem laubbedeckten Pfad hing Nebel, die Luft roch frisch. Kein Raubtiergeruch lag darin, weder natürlich noch übernatürlich. Gut so. Prinzipiell hatte Shanesa ja nichts gegen Nachtkrabbler. Solange sie blieben, wo sie hingehörten.

Der Weg verengte sich. Durchs Geäst drang kaum Licht. Hier waren selten Menschen anzutreffen – besser zugängliche Wild- und Fischgründe gab es mehr als genug. Shanesa stieg ab und führte das Pferd am Zügel hinter sich her. Immer wieder sah sie sich um. Lauschte. Nichts zu hören. Nur das Plätschern des Flusses und das Flüstern des Windes in den Wipfeln.

Der Pfad endete an einer Furt, wo der Fluss einen Knick machte und sich so verbreiterte, dass das andere Ufer nicht mehr zu sehen war. »Ich werde wahrlich alt, wenn ich schon Hirngespinsten aufsitze, was, mein Freund?« Shanesa lachte und streichelte ihrem Ross die Nüstern.

Da sah sie das Boot, halb verborgen unter Gestrüpp. Mit trockenem Mund schob sie Laub und Äste beiseite. Zum Vorschein kam eine Jolle aus grauem Holz, das von keinem Baum stammte, der in Freiholt wuchs. Dornenartige Fellbüschel verteilten sich darin. Shanesa presste die Lippen aufeinander. Also hatte etwas aus der Altnacht den Weg nach Freiholt gefunden, etwas, das in der Welt der Menschen so wenig zu suchen hatte wie Schemen aus einem lange verblassten Traum.

Sie nahm die Axt vom Sattel und machte sich an die Arbeit. Späne flogen, Splitter bohrten sich in ihre Hand, ihr Haar wurde trotz der frischen Luft klitschnass. Doch Shanesa hörte nicht auf, bis sie das Boot in Stücke gehackt hatte. Schwer atmend reinigte sie die Axt, wusch sich Gesicht und Arme am Fluss und trank ein paar Handvoll Wasser. Dann setzte sie sich ans Ufer und dachte nach. Ihre Entdeckung würde womöglich Panik in der Bevölkerung auslösen. Sollte sie diese dennoch informieren? Das durfte sie nicht allein entscheiden.

Das Pferd stupste sie mit der Nase an. »Mir gefällt es auch nicht, alter Junge«, murmelte Shanesa. »Aber es hilft nichts. Ich muss eine Ratsversammlung einberufen.«


Shanesa fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wünschte, sie wäre wieder im Wald. Oder säße mit Freunden beim Kartenspiel. Bei den Brüsten aller Nixen, selbst mit ihren lärmenden, nervigen Neffen wäre sie jetzt lieber in einem Raum als hier, im Ratssaal von Freiholt.

Das Problem war, dass sie dem Rat vorsaß. Der war oft genug ein selbstgefälliger Haufen, dessen Mitglieder sich gern reden hörten. Daran hatte Shanesa sich im Lauf der Jahre gewöhnt. Diesmal jedoch ging es nicht um Einfuhrzölle oder darum, wer die Kosten für irgendeine Straßenpflasterung zu tragen hatte. Diesmal ging es um die Sicherheit der Republik. Dummerweise sahen die Statuten vor, dass sie erst alle Ratsmitglieder zu Wort kommen lassen musste, ehe sie selbst sprach. Was von der Idee her gut war, in der Praxis allerdings zu ausgedehnten Monologen von Räten wie Seoman Glennides führte, einem groß gewachsenen Mann mittleren Alters und besonders rechthaberischen Exemplar seiner Gattung.

»… damit sagen will«, erreichte dessen Sermon seinen Gipfel, »die Nachtkrabbler rühren sich. Ich spür’s in meinen Knochen. Mein großer Zeh pocht, als würde das Wetter umschlagen.« Seoman stützte sich auf den Eichentisch, an dem die Würdenträger Freiholts seit Bestehen der Ratsrepublik ihre Sitzungen abhielten. Unzählige Ellbogen hatten das Holz im Lauf der Jahre glatt poliert. Seoman, der bereits drei Humpen Bier geleert hatte, um die Stimme zu ölen, war zu aufgebracht, um daran zu denken. So kam, was kommen musste. Seine Hände rutschten weg, er kämpfte ums Gleichgewicht. Zu seinem Pech siegte die Schwerkraft. Seomans Kinn knallte auf die Tischplatte, er verdrehte die Augen und sackte zu Boden.

Normalerweise hätte Shanesa sich die Chance auf einen spitzen Kommentar nicht nehmen lassen, doch die Lage war zu ernst. »Helft ihm auf«, sagte sie daher nur. »Und bringt ein kaltes Tuch für sein Kinn.«

Unter den übrigen Ratsleuten brach ebenfalls nur vereinzelt Heiterkeit aus. Die meisten steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.

Der junge Exall Dalglen räusperte sich. »Die Schafe sind unruhig. Drängen sich zusammen und meckern in einem fort. Und den Hunden sträubt sich das Fell, wenn der Nordwind weht.« Seit dem Tod seines Vaters saß Graf Musas Spross dem Rat bei. Auch wenn sein flamboyantes Rüschenhemd und der sorgsam geölte Bart anderes vermuten ließen, war Exall eine Bereicherung, und dies nicht allein wegen der exzellenten Kontakte in seine alte Heimat Blauried.

»Die Blutfürsten haben seit einem Jahrhundert keinen Versuch unternommen, die Grenze zu überschreiten«, sagte der drahtige Olien, der Freiholts Gelehrtenakademie leitete. »Wieso sollten sie gerade jetzt aus den Schatten kriechen?«

Shanesa räusperte sich und setzte an, endlich kundzutun, was sie gesehen hatte, als die Tür zum Ratssaal aufgestoßen wurde. »Ich habe die Antworten, die Ihr sucht«, tönte es salbungsvoll. Alle Köpfe fuhren herum, was der Neuankömmling mit einem gönnerhaften Nicken quittierte. Er war mittelgroß, hatte aber den Blick eines Mannes, der es gewohnt war, auf andere herabzusehen. Das Gewand hätte den stattlichen Bauch womöglich kaschiert, hätte ihn nicht der Quastengürtel zurück ins Blickfeld gerückt. Zwei schneeweiße Haarbüschel wuchsen über seinen Ohren, ein drittes wie eine Insel in der Mitte des Kopfes. Zwei hünenhafte Leibwächter in der Tracht des Klerus flankierten ihn. Exall umkrampfte beim Anblick des Besuchers die Lehnen seines Stuhls.

»Kardinal Armengal.« Shanesa erhob sich. »Was führt Euch nach Freiholt?«

Der Kardinal musterte sie mit wässrigen Augen wie ein Pferdehändler, der überlegt, ob das Tier, das er vor sich hat, ein Gebot wert ist. »Die Stunde des Heils ist nicht mehr fern«, intonierte er. »Dann wird Asgreal, Preis sei seinem Namen, all jene vom Antlitz Yrdaias fegen, die der Finsternis dienen. Ihr mögt nicht an ihn glauben, doch die Kreaturen der Altnacht fürchten seine Wiederkehr. Und Furcht lässt selbst die Mächtigen verzweifelte Dinge tun.«

»Wie Krieg führen? Ist es das, was Ihr sagen wollt?«

»Wenn Ihr es so profan ausdrücken wollt«, entgegnete Armengal ein wenig pikiert. »Lust, Angst und Hunger sind die stärksten Triebe überhaupt. Auf den Kern reduziert ist es für Kreaturen wie jene der Alten Nacht nur natürlich, dass sie ihren Instinkten folgen.«

»Setzt Euch.« Shanesa deutete auf einen freien Stuhl am Ratstisch. »Exall, sei so gut und lass unserem Gast und seinen Männern etwas zu essen bringen.«

Exall nickte ihr dankbar zu. Es war offensichtlich, dass er die Gegenwart des Mannes, der seinen Vater aus Blauried vertrieben hatte, nur schwer ertrug. Hallenden Schrittes verließ er den Saal.

Kardinal Armengals Lächeln hatte die Wärme eines Gletschers. »Ich komme, um Euch einen Pakt vorzuschlagen. Die Engel wachen allein über jene, die auf ihrer Seite der Dunkelheit entgegentreten.«

Einige Ratsmitglieder rutschten auf ihren hochlehnigen Stühlen herum.

»Wollt Ihr uns Angst machen?« Seoman, mit dickem Kinn, aber wieder aufrecht, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Krüge wackelten. »Dann verschwindet zurück zu Euren Schafen mit ihrem blinden Gehorsam.«

Shanesa unterdrückte ein Stöhnen. Der Mann hatte die Diplomatie einer Kriegsaxt.

Der Kardinal musterte ihn. »Im Gegenteil. Ich kam, um Rats­führerin Shanesa zum Wohle aller zu einem Konklave einzuladen. Der Purifikant wird teilnehmen, ebenso Kardinal Tadeean Domitidens, General Nobu und der Freischärler Rojin aus Dimmgrund, mit dem einige von Euch Handel treiben. Wir mögen unsere Differenzen haben, doch wir sind alle Menschen. Wir haben einen gemeinsamen Feind.« Er faltete die Hände über dem Fassbauch.

Die Ratsmitglieder sahen einander an. Shanesa runzelte die Stirn. »Ein solches Konklave hat es seit dem Ende der Spaltungskriege nicht gegeben.«

»Glaubt Ihr, ich wäre persönlich gekommen, wenn es nicht todernst wäre?« Armengals feiste Miene verdüsterte sich. »Der Wächter­engel des Nordens, Mawjah, wurde ermordet. Wir haben einen Zeugen, der sagt, dass der Gefallene selbst es war.«

Erregtes Gemurmel brach im Saal aus.

»Ruhe.« Shanesa klopfte auf die Tischplatte. Äußerlich schaffte sie es, beherrscht zu bleiben. Innerlich verknoteten sich ihre Eingeweide. Es war klar wie algenloses Wasser, dass Freiholts Streitkräfte der Macht der Altnacht allein nicht würden standhalten können. »In Ordnung, Kardinal«, verkündete sie widerstrebend. »Ich reise mit Euch zum Konklave.«


Nachdem sie sich stundenlang schlaflos im Bett gewälzt hatte, setzte Shanesa sich auf und betrachtete das Antlitz Okaharas, die friedlich neben ihr schlummerte. Sie liebte alles an ihrer Frau. Wie ihr Haar im Mondlicht schimmerte, das durchs offene Fenster fiel. Wie sich ihre Brust unter der Decke hob und senkte. Wie sie im Schlaf lächelte. Sie wollte nicht fort von ihr. Doch sie musste.

Ihre Aufgabe war es, die Menschen Freiholts zu beschützen. Ihretwegen würde sie mit Kardinal Armengal, dieser Kröte im Robengewand, nach Gut Eulenstein gehen – nicht etwa aus Furcht vor Asgreal, einer gestaltlosen Halbgottheit, die alle alten Religionen aus den Geschichtsbüchern verbannte und blinden Gehorsam als Tribut für ihren Schutz verlangte.

Obwohl, vielleicht ist das gar nicht Asgreals Schuld? Wer kann schon sagen, ob das, was der Klerus predigt, wirklich im Sinne des sogenannten Lichtbringers ist?

Shanesa war stolz auf Freiholts Toleranz und Unabhängigkeit. Doch es ließ sich nicht leugnen, dass die Menschen in den vom Klerus regierten Gebieten sicherer lebten. Dort wachten Engel und patrouillierten mechanische Dampfdoggen, sobald sich die Sonne senkte. Wer dagegen in Freiholts Fischerdörfern nach Einbruch der Dunkelheit die Ortsmauern verließ, tat das in Begleitung von Gefährten. Oder von jeder Menge scharfem, versilbertem Stahl. Die Republik würde Verbündete brauchen, wenn es zum Krieg kam.

Das Mondlicht kitzelte die Härchen auf ihrem Arm, und ein Gedanke huschte ihr durch den Kopf. Wer sagte, dass Freiholt sich mit dem Klerus verbünden musste? Schließlich gab es noch eine andere Partei in der drohenden Auseinandersetzung …

Nein, das war verrückt. Schluss, aus.

Vorsichtig, um Okahara nicht zu wecken, stand sie auf und schloss das Fenster. Zurück im Bett zog sie sich die Decke über den Kopf. Das Mondlicht verschwand und Dunkelheit umhüllte sie, bis der Morgen des Aufbruchs graute.

9

Erkenntnisse und Rätsel


Seit dem Aufbruch aus Gorvul hatte Damians Gefolge ein gutes Stück Weg gemacht. Zuerst entlang der großen Getreidefelder, auf denen die Dampfdrescher ratternd und spotzend Korn ernteten. Danach auf der Straße, die entlang des Gabelweihflusses in die ehemaligen Grafschaften führte, mit Daosam im Osten und Blauried im Norden. Heute herrschten dort die beiden Kardinäle von Asgreals Gnaden. Blaurieds größtes Gut Eulenstein wiederum war als Treffpunkt für das Konklave auserkoren worden.

Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, desto rückständiger wurde das Land. Wo anfangs noch Schienenwaggons von Ort zu Ort gerollt waren, zog nun höchstens noch ein vereinzelter Esel stoisch seinen Karren.

Toryan ritt stumm an General Nobus Seite durch die Weite, bis er schließlich seinen Mut zusammennahm und das Wort ergriff. »Ich habe unterschiedlichste Dinge über meinen Lebensretter Rojin gehört. Was für eine Art Freischärler ist er eigentlich?«

Nobu klopfte seinem Pferd auf den Hals, was das Schlachtross mit wohligem Schnauben quittierte. »Er lebt nach der Maxime, jedem Respekt zu zollen, der ihm Respekt zollt. So pflegt er Beziehungen zu allen Seiten der Grenze.«

Toryan blieb der Mund offen stehen. »Zur Altnacht auch?«

Nobus Blick hatte etwas Mitleidiges. »Weißt du, womit die ganzen neuen Maschinen wie Luftschiffe, Schienensänften oder Kolben­waggons betrieben werden?«

»Mit Dampf. Teils mit Motoren.«

»So ist es. Und ist dir klar, was die Energie erzeugt, die sie antreibt?«

»Oh. Äh, nein.«

»Sie verbrennen ein bestimmtes Mineral. Wir haben Vorkommen davon in den Bergen südlich von Gorvul. Aber es ist wenig, der Abbau mühsam. In den Hügeln entlang der Zwielichtgrenze dagegen türmt sich das Zeug. Es muss nicht mal geschürft werden. Dank der Kontakte von Männern wie Rojin gelangt es in die Hände unserer Gelehrten und Alchemisten.«

»Ich habe mich immer gefragt, warum er sich so frei innerhalb der Grenzlande bewegen darf«, murmelte Toryan.

»Von ihm erfahren die Anführer der Grenzwacht häufig Dinge, die helfen, Probleme zu entschärfen, ehe sie entstehen«, fuhr Nobu fort. »Aber lass dich von seinem Lächeln und seinem freundlichen Blick nicht täuschen. Darunter flammt eine Menge Feuer.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Das zu beurteilen musst du selbst lernen, Junge.«

Der Gabelweihfluss machte einen Knick, und die Reiterschar gelangte an eine Kreuzung. Die Dammstraße verlief im Norden weiter zum Reißtobel, einer unüberwindlichen Grenzkluft voll tückischer Strudel und Abgründe. Der östliche Weg führte nach Daosam, wo die ewig brennenden Bäume des Phönixweidenhains die Kreaturen der Altnacht fernhielten. Die Gemeinschaft des Purifikanten jedoch wandte sich nach Nordwesten.

Die Dämmerung breitete ihren Mantel über die Welt aus. An der Kutsche wurden Gaslampen entzündet, die Reiter steckten ihre Sattellaternen an. So zogen sie entlang dunkler Seen und Hügel, auf denen verfallene Gemäuer von vergangenen Zeiten träumten. Wolkenfetzen rasten über den Himmel, einem Rudel Raubtiere gleich, das eine unsichtbare Beute hetzt. Nur ab und an streifte der Mond seinen Ring aus Silber über die Schattenfinger einer Esche oder Fichte, die sich einsam gegen die schummrige Umgebung abhob.

Allmählich tauchten wieder Spuren von Siedlungen auf. Felder, Hütten, begradigte Wasserläufe. Fast war Toryan enttäuscht, nahmen sie der Landschaft doch etwas von ihrem Zauber.

Nobu musterte ihn von der Seite. Wie schaffte er es, dass Toryan sich vorkam, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen? Er hoffte, dass das Dunkel sein Erröten verbarg. »General, wie kommt es, dass Gesandte aus Freiholt am Konklave teilnehmen werden?«, fragte er, einerseits um abzulenken, andererseits weil er es tatsächlich nicht verstand. Die Räte­republik hatte Asgreal nie als himmlischen Erlöser akzeptiert und sich geweigert, den Weisungen der Engel zu folgen. Die Spannungen mit dem Süden waren gewachsen und gewachsen, bis vor gut dreißig Jahren die Spaltungskriege ausbrachen, an deren Ende sich Freiholt endgültig vom geheiligten Reich des Purifikanten abgetrennt hatte.

»Unterschätze nie die Macht der Gewinnsucht.« Nobu zog eine Grimasse. »Allen im Krieg geschlagenen Wunden zum Trotz blüht heute reger Handel zwischen den Reichen. Zudem hat man eine gemeinsame Grenze zu schützen. Die Räterepublik legt ebenso wenig Wert auf Besuch von Kreaturen der Altnacht wie die von Asgreal gesegneten Lichtlande.«

»Das macht die Ketzer zu logischen Verbündeten.« Toryan drehte gedankenverloren sein Armband.

»Aber?«

»Der Klerus stellt eine weit größere Streitmacht als Freiholt. Von den Engeln ganz zu schweigen.«

Nobu nickte anerkennend, was Toryan als Aufforderung nahm, fortzufahren. »Die Ketzer brauchen uns demnach mehr als wir sie. Weshalb sollte der Purifikant sie also zum Konklave einladen? Klüger wäre es zu warten, bis sie von sich aus Gespräche anbieten. Als Bittsteller, denen gegenüber Damian aus einer Position der Stärke verhandeln kann.«

»Da stellst du genau die richtigen Fragen.«

»Und was ist die Antwort?«

Nobu strich sich den Schnauzbart. »Da bin ich mir nicht sicher.«

Von der Spitze des Zuges kam ein Paladin aus Damians Leibgarde herangeprescht – Jaldar, der Toryan in der Zitadelle so grimmig gemustert hatte. Toryan bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

»Was gibt es, Paladin?«, fragte General Nobu.

»Der Junker Toryan soll zum nächsten Dorf reiten und dort die Ankunft des Purifikanten ankündigen.«

»Ich bin übrigens gleich hier.« Toryan winkte übertrieben.

Jaldar musterte ihn von oben bis unten. Die Schweinsäuglein blitzten berechnend.

General Nobu ist für meine Taten verantwortlich, ermahnte Toryan sich. Also verbiss er sich weitere Pampigkeiten, obwohl ihm jede Menge auf der Zunge lagen. Er schaffte es sogar, ein wenig Demut in seine Stimme fließen zu lassen. »Wie Ihr wünscht. Ich besorge mir eine Karte und …«

»Das wird nicht nötig sein.« Nobus Stimme war ruhig wie ein windstiller Morgen. »Ich begleite dich.«

Der Paladin grinste gehässig, wendete sein Pferd und kehrte zurück an die Spitze des Trosses.

Hätte man ihm befohlen, sich Hörner wachsen zu lassen, hätte Toryan nicht fassungsloser sein können. Man schickte General Nobu nicht als Botenjungen los. Der Mann war ein Held. »Tut mir leid«, stieß er hervor. »Ihr solltet nicht … ich meine … das ist nicht richtig!«

»Schon gut, Junge.« Die ehernen Gesichtszüge des Generals wurden für einen Moment weich. »Na komm. Tun wir unsere Pflicht als Wächter des Lichts.«


Nach wenigen Meilen scharfen Rittes gelangten Toryan und Nobu ans Ufer des namenlosen Flüsschens, das die örtlichen Felder bewässerte. Eine Holzbrücke, gebogen wie der Buckel einer zornigen Katze, führte zum Dorf. Nebel wallte über den Dächern und ertränkte den Schein der Öllaternen. Abgesehen vom Schnauben der Pferde herrschte Totenstille.

»Hier stimmt was nicht«, raunte Nobu. »Halt die Augen auf.« Sie dirigierten die Rösser auf die Brücke.

Ein kalbgroßes, über und über mit Stacheln bedecktes Etwas wirbelte aus den Schatten. Die Pferde wieherten und bäumten sich auf. Toryan konnte gerade noch das Gewicht verlagern, um nicht aus dem Sattel zu fliegen. Nobu riss sein Ross zur Seite, und das Monstrum preschte zwischen ihnen hindurch. Eine Gestalt im Kapuzenumhang saß auf seinem Rücken. Ehe Toryan mehr erkennen konnte, verschwanden Reiter und Dornending in der Dunkelheit.

Nobu beruhigte sein tänzelndes Pferd. Der Mann hat Eis in den Adern, dachte Toryan, dessen eigenes Herz so wild klopfte, als wollte es ihm aus der Brust springen. »Das war ein Nachtkrabbler. Verfolgen wir ihn nicht?«

Nobu schüttelte den Kopf. »Zwecklos bei der Geschwindigkeit. Außerdem müssen wir nach den Dörflern sehen.«

Toryan drängte seine Verwunderung zurück und nickte.

Vor dem ersten Haus lag ein Mastochse, der Hals zerfetzt, das Fleisch aschgrau. Ausgesaugt bis zum letzten Tropfen.

Aus dem Augenwinkel sah Toryan einen Schemen heranstürzen. Hah, noch mal ließ er sich gewiss nicht überrumpeln! Er riss das Bein aus dem Steigbügel und trat zu. Ein Knirschen, ein dumpfer Aufprall. Toryan glitt vom Pferd, zerrte das Schwert aus der Scheide. Der Angreifer richtete sich auf. Toryan warf sich auf ihn, hob die Klinge und … starrte ins schreckverzerrte Gesicht eines Jungen. Sofort ließ er die Waffe sinken.

General Nobu trat zu ihm. »Gehörst du zu diesem Dorf, Kleiner? Was ist passiert?«

»Die Monster waren hier, wie aus den Geschichten über die Alte Nacht.« Der Junge riss die Augen weit auf. »Ein Blutsauger und ein Stachelvieh. Uh, meine Seite.«

Schuldbewusst dachte Toryan daran, dass er ihm vermutlich die Rippen geprellt hatte.

Umrisse tauchten aus dem Nebel auf. Dutzende. Kinder mit Sicheln, Frauen mit Holzscheiten, Männer mit Mistgabeln. Sie umringten Toryan und Nobu. »Weg von dem Jungen«, knurrte ein massiger Glatzkopf.

Es klickte, als Nobu seine Arkebuse sicherte. »Ruhig. Wir tun euch nichts. Wir kommen im Namen des Purifikanten.«

»Die seh’n nich’ wie Blutsauger aus, Clodd«, nuschelte eine Frau mittleren Alters, die einen Dreschflegel hielt.

»Wir würden wohl kaum versilberte Schwerter tragen, wenn wir’s wären.« Toryan hob seine Waffe.

Sofort gingen die Dörfler in Habachtstellung. »Die Leute sind nervös, Fremder.« Kahlkopf Clodd spuckte auf den Boden. »Besser, du fuchtelst nicht so mit dem Ding da rum.«

»Jetzt lass die Sache nicht unnötig haarig werden.«

»Wie meinst du das?« Clodds Augen verengten sich.

Toryan drehte das Schwert so, dass der Griff in Richtung der Dörfler zeigte. »Ich will nur zeigen, dass wir Menschen sind. Seht. Silber.«

Clodd trat misstrauisch näher und beäugte die Klinge. Als hätte er eine Ahnung, woran man eine Silberlegierung erkannte. »In Ordnung«, grunzte er dennoch. »Packt die Waffen weg, Leute.«

»Schön«, versetzte Nobu mit einer Ruhe, als hätte er im Gasthaus Tee bestellt. »Ist einem von euch ein Leid geschehen? Abgesehen vom Verlust des Ochsen?«

»Nee«, brummte Clodd. »Bloß, vielleicht kommt der Blutsauger wieder?«

»Oh, ihr bekommt Besuch«, sagte Toryan. »Aber wenn der da ist, traut sich kein Nachtkrabbler mehr in eure Nähe. Seine Exzellenz, der Purifikant Damian Fallanidens, beehrt euch in Kürze.«

»Ehe er eintrifft, nehmt einen wohlgemeinten Rat an«, sagte Nobu ins erstaunte Gemurmel der Dörfler hinein. »Schafft den toten Ochsen weg und erzählt nicht, dass ein Blutfürst hier war.«

Die Männer und Frauen starrten ihn stirnrunzelnd an. Toryan traute seinen Ohren kaum. »Aber sollte Seine Exzellenz nicht wissen, dass …«

»Es sind Paladine im Gefolge des Purifikanten«, fuhr Nobu fort, ohne ihn anzusehen. »Sie werden sich fragen, weshalb der Vampir ein Tier gerissen, aber euch verschont hat. Ihr wollt sicher nicht, dass sie euch für Freunde der Dunkelheit halten.«

Einige der Umstehenden erschauerten, andere machten rasch das Schutzzeichen des Lichtbringers.

Clodd grunzte und winkte ein paar Männer zu sich. Toryan schob sein Schwert zurück in die Scheide und beobachtete unauffällig den General. Es war mutig und ehrenhaft, dass er diese Menschen schützen wollte. Keinem war damit gedient, wenn die Paladine die Dorfbewohner noch mehr ängstigten.

Oder steckte mehr hinter Nobus Verhalten? Und falls ja, was?

Er kratzte sich am Kinn und machte sich daran, dem Glatzkopf und seinen Freunden zu helfen, die Überreste des Ochsen fortzuschleppen.

399
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