Читать книгу: «Schwingenfall», страница 3

Шрифт:

5

Gezeter


Das Herrenhaus von Gut Eulenstein lag am Ende einer Allee aus Hortensien. Türmchen säumten die Ecken, Wasserspeier die ziegelgedeckten Spitzdächer. In Minns Augen glich es einem Greis, der darüber nachbrütet, wohin die Zeit verschwunden ist, in der er hofiert und bewundert wurde. Aber wir putzen den Alten noch mal ordentlich raus, dachte sie und schob ihre Schubkarre unter einem mit Girlanden geschmückten Torbogen hindurch.

Bis vor Kurzem hatten Efeuranken den Innenhof dahinter überwuchert. Jetzt glänzte das blitzblank gescheuerte Pflaster unter Minns Füßen. Sie setzte die Schubkarre ab und ließ den Blick schweifen. Ein Dutzend Mägde schrubbte Wäsche, Teppiche und Vorhänge in Holzzubern, deren Dampfschwaden den Duft nach Kiefer verströmten.

Natürlich gab es einen Grund für den Putzfimmel. Der Purifikant samt Eskorte hatte sich angekündigt, dazu ein Gast aus Dimmgrund und die Ratsherrin des Ketzerreiches Freiholt, die abzuholen Kardinal Armengal persönlich aufgebrochen war.

»Guckst du wieder Löcher in die Luft, Minn?«, fragte eine der Wäscherinnen lachend. »Geh lieber schnell rein und hol das Bettzeug, ehe die Matrone dich erwischt.«

Minn winkte und hob die Schubkarre wieder an. War’s denn ein Wunder, dass sie ein klein wenig unkonzentriert war? Die Neugier pikte sie wie ein Steinchen im Schuh. Sie hätte zu gern gewusst, worum sich dieser – diese? dieses? – ominöse Konklave drehte. Dem Gesinde sagte natürlich keiner was.

Wir dürfen nur dafür sorgen, dass alles glänzt, dachte sie und zog eine Grimasse.

Zu tun gab’s dafür genug. In besseren Tagen hatte Gut Eulenstein vierhundert Höflinge, Rittmeister, Mägde, Köche und Wachen beherbergt. Heute war es grade mal ein Zehntel. Die umliegenden Bauernhöfe lieferten zwar noch Käse, Milch und Getreide, doch nach der Ankunft des Lichtbringers war viel Dorfvolk in die Städte gezogen.

Sie drückte die Tür des Wäschereigebäudes mit dem Hintern auf und zog die Schubkarre rückwärtsgehend hinter sich her. Dabei fiel ihr Blick auf das verblasste Wappen über der Innenseite des Tür­balkens – eine Eule über gekreuzten Schwertern, Symbol des ruhmreichen Adelsgeschlechts von Dalglen. Kardinal Armengal hatte das Haus in Besitz genommen, nachdem er den alten Grafen wegen Blasphemie ins Exil verbannt hatte. Angeblich hatte dieser einem verbotenen Götzen gehuldigt. Manch einer munkelte, Armengal habe seit Jahren danach gegiert, die altehrwürdige Residenz an sich zu reißen. Doch niemand sprach Derartiges offen aus.

Auf einem Holztisch türmten sich Berge blütenweißer Laken und Kissen. Minn seufzte und begann, Stapel für Stapel auf den Schubkarren zu hieven. Eine dröge Arbeit, bei der sie sich wie so oft in letzter Zeit fragte, was sie hier noch hielt. Sicher, der Lohn war ordentlich, das Essen vernünftig, und geschlagen wurde auch niemand – sofern man nicht den Fehler machte, dem Hausherrn vor die Füße zu stolpern.

Aber ich bin nun über zwölf Jahre auf Gut Eulenstein, überlegte Minn. Höchste Zeit für Veränderung. Denn ist das Leben nicht dafür da, neue Erfahrungen zu sammeln? Schätze, am Ende ist es doch Rynas Verdienst, dass ich noch hier bin. Oder ihre Schuld, je nachdem.

Minn zog die Nase kraus, griff sich ein Daunenkissen und schüttelte es zurecht.

»Minn. Minn!«

Sie blinzelte.

»Was machst du denn schon wieder?« Ebenjene Ryna, Matrone und unangefochtene Herrin über das Gutsgesinde, stand vor ihr, die Hände in die breiten, beschürzten Hüften gestemmt, das von grauen Strähnen durchzogene braune Haar zum strengen Dutt zurück­gebunden. Die üppige Brust bebte und sie hatte jenen Blick aufgesetzt, mit dem sie ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck verlieh, wenn ihrer Ansicht nach schlampig gearbeitet wurde.

»Wäsche aufladen, wie ich sollte«, verteidigte Minn sich.

Ryna deutete auf den Schubkarren. Die Ladefläche quoll derart über, dass sich ein Teil der Laken bereits auf dem Boden verteilte. Aus dem Kissen in Minns Händen regneten so viele Federn, dass es einem gerupften Huhn glich.

»Ups«, entfuhr es Minn.

Ryna schloss die Augen und atmete tief durch. »Bring das weg, dann geh dich umziehen. In einer halben Stunde ist Generalprobe für den Empfang der Gäste. Dazu hat das gesamte Gesinde im Hof anzutreten. Im besten Kleid.«

»Kleid? Pffft.«

»Ja, Kleid.« Ein gefährliches Glitzern trat in die Augen der Matrone. »Keine Hosen, kein Wams, keine Stiefel. Und dass du ja pünktlich bist.«

»Ich mach ja schon.«

Ryna fasste sie am Arm. »Wenn der Purifikant hier eintrifft, bleibst du unauffällig, hörst du?«

Minn runzelte die Stirn. Woher die Sorge? Hatte die Matrone solche Angst, vor den Gästen blamiert zu werden? Oder steckte etwas anderes dahinter? »Versprochen«, sagte sie.

»Gut.« Ryna entspannte sich. Sie brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Jetzt lauf, Kind. Wir sehen uns im Hof.«

Auf dem Weg zu ihrer Kammer kam Minn ein Trupp Gutswachen entgegen, erfahrene Kämpen, von denen einige bereits im Spaltungskrieg gekämpft hatten.

»He, Mädchen«, rief ein kräftiger Graubart mit einer Narbe von der Schläfe bis zum Hals. »Pass auf, dass du nicht vor lauter Löcher in die Luft starren irgendwo dagegenrennst.« Seine Kameraden lachten.

»Pass du lieber auf, dass ich dir beim nächsten Zielwerfen mit dem Messer nicht wieder deinen Wochensold abknöpfe, Grimnur«, rief Minn zurück.

Das Lachen der Truppe wurde zum Grölen. Grimnur hob beide Hände. »Im Wortduell muss ich mich dir geschlagen geben. Aber ich freu mich auf meine Revanche an der Zielscheibe.«

»Bekommst du«, versprach Minn und winkte. Die Männer waren wie ihre großen Brüder, verbrachte sie doch seit Jahren unzählige Freistunden damit, mit ihnen Nah- und Messerkampf zu üben.

Kurz vor dem Dienstboteneingang zog raues Lärmen Minns Aufmerksamkeit auf sich. Ein paar Schritte von der Tür lag ein Stück Fleisch, eine frische Rinderlende, die vermutlich der Küchenmagd Schussel-Ann aus dem Tragekorb gefallen war. Drei Elstern hatten die Leckerei entdeckt und rissen Stücke heraus, die sie in Windeseile vertilgten. Der Fleischlappen war groß genug, dennoch gönnte eine der anderen den nächsten Bissen nicht. Ein ums andere Mal hopste ein Vogel zu seinen Mitfressern und hackte in blinder Gier auf das Fleisch ein, sodass sich die Schnäbel in die Quere kamen. Das Ganze resultiere in Gezeter, Flügelschlagen und Pickattacken. Aus irgendeinem Grund kroch bei dem Anblick eine Gänsehaut über Minns Arme.

Das Fleisch war nicht mehr zu retten, also sah sie zu, dass sie auf ihre Stube kam. Sie hatte wenig Lust, wegen drei dummen Vögeln die Generalprobe zu verpassen.

6

Obskure Stunden


Die vierte Stunde nach Mitternacht war längst durch, die Morgen­dämmerung kroch unaufhaltsam heran. Doch noch immer mied der Schlaf Toryan wie eine Katze das Flusswasser.

Er wollte nicht in den Krieg. Nicht gegen Wesen, deren bloße Gegenwart ihn in Ohnmacht stürzen konnte. Er war vor allem Grenz­wächter geworden, um die Menschen der Lichtlande zu schützen. Nicht um möglichst viele Nachtkrabbler zu töten, wie einige seiner mit weniger Verstand gesegneten Kameraden an der Grenzmauer.

Nur ging es dummerweise nicht darum, was er wollte oder fühlte. Schöner Schlamassel.

Er gab das Hin- und Hergewälze auf, kleidete sich an und verließ die Akademie. Wenn er irgendwo seine Nerven beruhigen konnte, dann an seinem Lieblingsplatz über den Dächern von Gorvul.

Die Silhouette des Feuersterns glomm wie eine rote Pupille im Auge der Nacht. Die letzten Zecher waren in die Federn gefallen, und die fleißigen Arbeiter drehten sich noch mal auf die Seite, ehe sie sich aufmachten, ihren Beitrag zum Wohl der von Asgreal gesegneten Nation zu leisten. Allein der Wind wisperte sein Wiegenlied durch die schlafenden Straßen.

Toryan ignorierte das Gesäusel, passierte das Rundtheater und erreichte über eine Seitengasse den Weitwolkenpark, der unmittelbar an die Raffinerie mit den Schmelzöfen grenzte – das höchste Gebäude der Stadt nach der Zitadelle. Die alte gusseiserne Laterne stand wie seit Jahr und Tag am Eingang des Parks, genau wie die turmhohe Kiefer.

Toryan nahm Anlauf, sprang und packte den Querbalken der Laterne. Vier, fünf Mal baumelte er daran hin und her, dann katapultiere er sich mit Schwung in die Kiefer. Er bekam einen der dicken Äste zu fassen und zog sich daran hoch. Der Rest war ein Kinderspiel. Er kletterte von einem Ast zum anderen, bis er sich auf Höhe des Gebäudes befand. Noch ein Sprung, und er landete auf dem Dach.

Von hier oben konnte er bis zu den Anlegestellen des Himmelshafens sehen. Der monochrome, hummelartige Leib des größten Luftschiffs blitzte im Zwielicht auf. Das Heck erinnerte an die Flosse eines Fisches, die Spitze, an der die Kanone und die Propeller saßen, an einen Stachel. Oberhalb der Kabinen stießen Rohre Dampf aus, drunter rotierten Kolben, angetrieben von unsichtbaren Mechaniken. Wie alle Luftschiffe musste das Flaggschiff des Purifikanten über Nacht warmlaufen, damit die Besatzung am Morgen damit loskonnte. Der Gedanke, wie es sich in die Lüfte erheben würde, zauberte ein Lächeln auf Toryans Gesicht.

Als Achtjähriger hatte er das erste Mal Luftschiffe den Himmel über dem Bergdorf seiner Heimat durchqueren sehen. Er war hinterhergelaufen, bis sie aus dem Blickfeld verschwanden. Dabei hatte er eine Wurzel übersehen und war so böse gestürzt, dass er sich die Knie blutig schlug. Sein Vater hatte ihm zusätzlich eine verpasst und ihn angeschnauzt, das komme davon, in den Himmel zu starren. Mutter aber hatte die Wunden gereinigt und ihm ins Ohr geflüstert: »Wer die Sterne erreichen will, muss nach ihnen streben. Werd nicht einer von denen, die sich von ein paar Schrammen aufhalten lassen.« Dann hatte sie ihm eine Süßigkeit gegen die Tränen zugesteckt und ihn wieder springen lassen.

Er vermisste sein Zuhause. Ja, er hatte Schafehüten und Ziegentreiben langweilig gefunden. Andererseits war dieses Leben sorglos gewesen. Behütet. Schreckgestalten aus Legenden tauchten dort höchstens in Erzählungen auf, wenn draußen der Sturm um die Dächer strich und man sich vor dem Kamin an einem heißen Getränk festhielt.

Jetzt hätte ich eine schöne Schauergeschichte aus erster Hand parat, dachte Toryan. Wobei daheim eh keiner glauben würde, was er in Dimmgrund erlebt hatte.

Sein Blick wanderte vom Lufthafen gen Osten, zum Platz der Sieben Söhne. Der Name stammte von den schwarzen Obelisken, die dort im Halbkreis aufgepflanzt waren, die Spitzen einander zugeneigt wie die Häupter alter Männer, die sich dunkle Geheimnisse zuflüsterten.

Die Bürger schlugen einen Bogen um die Sieben Söhne wie Wasser, das eine Klippe umfließt. Es hieß, dieser Ort sei einst eine Opferstätte gewesen. Genau wusste das niemand – die meisten Chroniken Gorvuls waren im Zuge der Entnachtung den Flammen übergeben worden.

Eine Brise strich über Toryans Gesicht und erstarb.

Aus dem Schatten der Obelisken trat der Engel Bahrakel.

Er war feingliedrig und muskulös, mit solch makellosen Zügen, als hätte ein Meistersteinmetz sie aus Alabaster gehauen. Ein Weißgoldreif hielt das lange weiße Haar aus dem Gesicht, ein Diamantgürtel das schlichte Gewand zusammen. Daran hing eine beidseitig geschliffene Klinge – das Richtschwert des Lichts.

Der Seraph entfaltete die Schwingen. Toryan war, als blickte er in den Sonnenaufgang. Schreck nahm Ehrfurcht Huckepack und sprang ihm mit voller Wucht ins Kreuz. Der Distanz zum Trotz fiel er auf die Knie.

Bahrakel legte das Haupt in den Nacken und schwang sich mit einer Grazie in die Luft, neben der jeder Adlerflug plump gewirkt hätte. Im Zentrum, wo sich die Steine fast berührten, verharrte er und stieß einen Ruf in einer Sprache aus, die Toryan nicht verstand.

Die Spitzen der Obelisken glommen in dunklem Feuer. Etwas löste sich aus ihnen, ähnlich einem Regenschleier, nur rostrot. Das Gespinst verdichtete sich zu einer Wolke, die Bahrakel bis auf die Schwingen umhüllte, mit … ja, mit was?

Der Wolkenkokon zitterte, als der Engel wonnig erschauderte. Es war faszinierend und wunderschön – und falsch, auf eine Weise, die Toryan nicht in Worte fassen konnte. Er wusste, er sollte das nicht sehen. Eine urtümliche Angst kroch ihm durch die Glieder, lähmte ihn.

Das Geläut der Tempelglocken riss ihn aus der Starre. Er sprang vom Dach, kletterte die Kiefer hinab und rannte zurück zur Akademie, als wären ihm alle Widerborste der Altnacht auf den Fersen.


Der Aufbruch des Purifikanten und seines Gefolges zum Konklave lockte trotz der frühen Morgenstunde Gorvuls Volk auf die Straßen, Balkone und an Fenster. Rufe mischten sich mit Musik, von den Marktständen wehte der Duft von Tee, Gebäck und Obst.

Toryan ritt in der zweihundertköpfigen Eskorte neben General Nobu, vor den Kolbenwaggons mit den Vorräten und hinter Damians dampfbetriebener Goldkutsche. Er war davon ausgegangen, dass der Purifikant und die Paladine mit dem größten Luftschiff der Flotte nach Blauried fahren würden. Doch zu seinem Erstaunen wurde dies offenbar benötigt, um eine nichtmenschliche Fracht zu Kardinal Tadeean zu transportieren. Was mochte das sein? Nicht einmal General Nobu wusste es.

Andererseits, manchmal ist Unwissenheit ein Segen, dachte Toryan. Ich für meinen Teil hätte sicher besser geschlafen, wenn ich nicht wüsste, welche Gefahr uns droht.

Er rutschte im Sattel herum und unterdrückte ein Stöhnen, als er daran dachte, wie sich sein Hintern am Ende der Reise anfühlen würde. Hätten die Engel nicht auch dafür eine Lösung erfinden können? Luftkissen zum Beispiel?

Wie das Zeremoniell es verlangte, hielt die Prozession auf Höhe des Stadttores an. Damian stieg aus der Kutsche.

»Segen sei mit dem Obersten Adepten«, intonierte er durch ein Schallrohr, das seine Stimme über weite Distanzen trug. »Wird er als Statthalter treu über Asgreals Herde wachen?«

Holmar, der im Amtsgewand auf einem Podest neben dem Tor gewartet hatte, räusperte sich und griff seinerseits zum Schallrohr, das ein Novize ihm reichte. »Meine Augen werden für ihn wachen«, verkündete er. »Mein Mund wird die Lehre in seinem Sinne verkünden. Meine Ohren werden die Nöte seiner Gläubigen hören, meine Nase den heiligen Rauch atmen, meine Hände in seinem Namen Wohltat und Milde spenden.« Er spreizte die Finger zum Zeichen des Lichts. »Der Segen Asgreals, Preis sei seinem Namen, sei mit Euch auf Eurer Reise.«

»Sein Segen sei mit Euch«, jubelte das Volk.

Hydraulikaggregate rumpelten, das Stadttor öffnete sich. Dampf zischte, Räder rollten. Dann waren sie hinaus.


Holmar sah dem Tross nach, bis dieser zu Punkten am Horizont verschwamm. Er hoffte inständig, dass Toryan sich unterwegs nicht zu neuen Leichtsinnigkeiten hinreißen ließ. Würde ihm ähnlich sehen. Schon damals in der Akademie hatte er allzu gern die Küchenmägde erschreckt oder Pfeffer in den Waffenrock des Ausbilders gerieben. Nur würde er diesmal für solche Scherze nicht mit Stubenarrest bestraft werden. Diesmal würden sie ihn seinen Kopf kosten.

Ohne recht zu wissen weshalb, nahm Holmar seinen Rundhut ab und hielt ihn sich vor die Brust. Das Gefühl übermannte ihn, dass er seinen Freund in diesem Leben nicht wiedersehen würde.

Er schüttelte den Gedanken als dumme Dusselei ab.

Toryan die Tatze kann schon auf sich aufpassen, rief er sich vor Augen. Und überhaupt gibt es keinen Grund zur Sorge. Schließlich zieht er mit Seiner Exzellenz Damian, General Nobu – und dem Segen des Lichts.

7

Unerwartete Besucher


Minn kletterte über ein verwittertes, efeuumranktes Zaunstück und sagte sich einmal mehr, dass nichts über ordentliche Hosen ging. Röcke, pffft. Das war was für alberne, brave Mädchen.

Eine Eidechse krabbelte aus dem Unkraut, blieb vor Minns Füßen stehen und starrte sie an. Sie ging in die Hocke und nahm das Tierchen auf die Hand. »Ich weiß schon, das ist dein Revier.« Behutsam setzte sie es auf einen Stein. »Aber nach der unsäglichen Probe in den unsäglichen Kleidern muss ich für mich sein.« Und dafür war dieser verwilderte Teil der Gutskoppeln im Nordosten des Anwesens nun mal perfekt. Wo einst Stuten grasten, hatten im Lauf der Jahre Disteln und Altfrauenkraut ihr Revier erobert, ungestört von Menschen, Maschinen oder Engeln. Genau deshalb kam Minn so gern her. Nirgendwo sonst kamen die Karpfen so furchtlos heran, um an ihren Fingern zu nibbeln, wenn sie die Hand ins Wasser des Flussarms steckte, der Gut Eulenstein im Norden begrenzte.

Nun, normalerweise. Doch seit einigen Tagen waren die Gewässer zu still, als tauchten die Fische auf den Grund, weit weg von der Oberfläche. Ob es etwas mit diesem seltsamen roten Stern zu tun hatte, der vor Kurzem erschienen und nicht mehr verschwunden war? Minn starrte in den Himmel. »Ich find schon noch raus, was du zu bedeuten hast«, drohte sie, was der Stern eher unbeeindruckt zur Kenntnis nahm.

Die Eidechse zwinkerte und huschte davon. Aus dem Augen­winkel nahm Minn eine Bewegung im Gehölz wahr, das die Ausläufer des Waldes jenseits der Gutsgrenzen markierte. Sie blieb in der Hocke und kniff die Augen zusammen.

Ein Wesen trat so lautlos aus dem Unterholz, als glitte ein Schatten über die Sonne. Es hatte die Größe eines Ochsen, grünbraune Stacheln säumten die Schnauze, spitze Knochenplatten Brust und Flanken. Alles in allem sah es aus wie ein Brombeerbusch, dem Beine gewachsen waren. Im Maul hielt es ein frisch gerissenes Kitz und auf seinem Rücken prangte ein Sattel in der Farbe von Raureif.

Minn hielt den Atem an. Das war nicht irgendein Nachtkrabbler. Das war ein Reittier. Wem mochte es gehören? Einem hochrangigen Wesen der Altnacht? Womöglich gar einem Blutfürsten?

Das Wesen verharrte. Seine Schnauze zuckte, als es Witterung aufnahm … Minn spannte alle Muskeln an, bereit, um ihr Leben zu rennen.

Das Stachelvieh legte den Kopf schief, als lauschte es einem Ruf.

Unvermittelt kitzelte der klare Geruch von Frost Minns Nasenflügel. Im Dunkel des Unterholzes vermeinte sie eine weitere Gestalt zu sehen, schlank, in eine Kutte gehüllt. Einen Wimpernschlag später machte das Stachelvieh auf dem Absatz kehrt und verschwand im Wald, zusammen mit dem Schemen. Die Nordkoppel lag so friedlich im Schein der Abendsonne, als sei nichts geschehen. »Donnerkeil und Blitzgewitter«, murmelte Minn. »Und ich dachte, der Kardinal bekommt spannenden Besuch.«


Zurück im bewohnten Teil von Gut Eulenstein, platzte Minn schier vor Aufregung. Sollte sie Ryna berichten, was sie gesehen hatte? Womöglich – ach was, bestimmt – würde die Matrone sie dafür ausschelten, dass sie auf eigene Faust in die Nähe des Waldes gegangen war. Andererseits, ohne ihre Abenteuerlust wüsste jetzt niemand, dass sich hier ein Nachtkrabbler herumtrieb. Minn beschloss, es zuerst Ann zu sagen. Die hatte vielleicht einen Rat, wie sie Ryna die Neuigkeiten am besten beibrachte.

Sie näherte sich der Rückseite des Gesindehauses, als sie Stimmen hörte. Grimnurs heiseres Organ und Rynas volltönendes. Die Matrone klang besorgt. Minn blieb stehen, konzentrierte sich und lauschte.

»… dass Minn ein Wildfang ist«, sagte Grimnur in einem Tonfall, der wohl beruhigend klingen sollte. »Aber das Mädchen lässt einige meiner besten Wachleute im Bodenkampf aussehen wie blutige Anfänger. Der passiert schon nichts.«

Minn grinste.

»Du musst sie trotzdem finden, Grimnur. Bitte, für mich.«

»Was ist los mit dir? Du bist doch sonst nicht so eine Glucke. Seit dieser seltsame Stern aufgegangen ist, drehen alle durch.« Der Anführer der Wache spuckte aus.

Da hat er recht, dachte Minn. Für gewöhnlich war die Matrone so resolut und unnachgiebig wie ein versteinerter Besen. Seit Kurzem jedoch witterte Ryna hinter jeder Ecke Gefahr.

Seltsamerweise immer dann, wenn es um mich geht. Minn zupfte sich nachdenklich an der Unterlippe.

Minns Erinnerung an den Tag, an dem Ryna sie nach Gut Eulenstein gebracht hatte, war großteils verblasst wie ein Bild, das zu lange im Dunkeln gehangen hatte. Manchmal aber krochen Erinnerungsfetzen in ihren Kopf. Von Vater, der sich sterbend auf dem Boden wand. Von Mutter, die vergebens versuchte, die Blutung an seinem Hals zu stoppen. Die ihre rot verschmierten Hände anstarrte. Die davonrannte, den Turm hinauf, über die Zinnen …

Dann war Ryna aufgetaucht. Sie hatte Minn in den Arm genommen und versprochen, dass sie ab jetzt auf sie aufpasste. Dass alles gut werden würde. Und da Minn sonst niemanden mehr gehabt hatte, war sie mit der Matrone gegangen.

Die Frau war Mutters beste Freundin, rief Minn sich ins Gedächtnis. Sie hat ein gutes Herz und ich schulde ihr viel. Sie hat es nicht verdient, sich meinetwegen sorgen zu müssen.

Sie atmete durch und trat ums Eck. »Sucht ihr mich?«

Grimnurs Augen traten vor wie bei einem Frosch. »Woher … ach, egal, ich sollte langsam wissen, dass du dich an alles und jeden heranschleichen kannst. Du siehst, da ist sie, Ryna.« Er schüttelte den Kopf und stapfte von dannen.

»Heut Abend zum Freikampf auf den Strohmatten?«, rief Minn ihm hinterher.

»Wie üblich«, entgegnete Grimnur, ohne sich umzudrehen.

Ryna stemmte die Hände in die Hüften und schob das Kinn vor. »Dem alten Grummler mag’s egal sein, wo du wieder gesteckt hast, aber mir kommst du nicht so leicht davon. Sieh dich nur an! Das Haar voller Kletten und die Hosen – wo hast du bloß wieder Hosen her? – voller Grasflecken.«

»Ich war auf den alten Koppeln.« Minn hob beide Hände. »Bitte hör mir zu, bevor du schimpfst. Ich habe etwas beobachtet. Etwas Wichtiges.« Und dann berichtete sie, was sie nahe dem alten Wald gesehen hatte.

Minn hatte mit vielem gerechnet. Nur nicht damit, dass Ryna ruhig nickte. »Gut, dass du mir gleich Bescheid gesagt hast.«

»Ja. Und jetzt? Schickst du die Gutswachen los? Oder einen Boten zum Kardinal, damit er den Wächterengel ruft? Oder was unternehmen wir wegen des Nachtkrabblers?«

»Wir tun gar nichts.« Der Befehlston kehrte in Rynas Stimme zurück. »Ich kümmere mich darum. Und das Ganze bleibt unter uns, verstanden? Das Konklave ist von größter Wichtigkeit. Nichts darf es stören, nicht mal ein verirrter Nachtkrabbler.«

»Das Vieh sah mir nicht verirrt aus. Überhaupt, es trug einen Sattel

»Genug davon. Und noch was.« Die Matrone strich sich den Rock glatt. »Beim Empfang der Gäste bist du dabei. Aber am Tag des Konklave wirst du die Eibenhecke schneiden.«

»Die ist beim Teegarten«, protestierte Minn. »Da bekomm ich ja gar nichts davon mit, was sich in der Residenz tut. Außerdem erwarte ich dieser Tage Besuch.«

»Du schneidest die Hecke. Den ganzen Tag.«

Minn verschränkte die Arme vor der Brust und setzte zu einem ihrer gefürchteten Protestgeleier an.

»Versuch’s gar nicht erst«, warnte Ryna. »Mein Entschluss steht fest. Und wehe, du stampfst mit dem Fuß auf. Dann kannst du zusätzlich noch im Stall Mist schaufeln.«

Minn setzte die angehobene Stiefelsohle wieder auf dem Boden ab. Leicht fiel es ihr nicht.

399
573,60 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
442 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783959916295
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают