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Ob jemand hilfsbereit ist oder ein KZ betreibt, in jeweils subjektiv bester Absicht, würde also objektiv auf der gleichen Stufe stehen?

Wir sind in Deutschland, also ist die KZ-Frage erlaubt. Ich antworte also: Ja, wer bester Absicht ist, steht objektiv auf gleicher Stufe. Die Frage ist, welche Konsequenz ich daraus ziehe. Sicher ist die Anerkenntnis des subjektiven Rechthabens eine Folge der Aufklärung. Wenn ich aber jemanden überzeugen soll, nämlich das, was ich für richtiger und politisch korrekter halte, sollte ich das nicht „Ethik“ nennen, sondern „Rhetorik“. Ich überzeuge nämlich nicht dadurch, dass ich mich selbst für besser und reflektierter halte, sondern durch meine rhetorischen Fähigkeiten. Es handelt sich um eine Machtkonkurrenz: Will ich meine Inhalte durchsetzen, brauche ich vor allem Rhetorik.

Heißt das, Hitler hätte recht gehabt, wenn er den Krieg gewonnen hätte?

Ganz genau. Es gibt immer einen Gewinner im Wettstreit. Recht setzt letztlich, wer gewinnt. Genau das macht ja das Unternehmen „Ethik“ so aussichtslos. Traurig ist nur, dass es 1933 nicht mehr so begabte Rhetoriker gab – dann hätte Hitler bei 5 % rumgekrebst. Sechzig Jahre nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler ethisch über ihn Recht zu sprechen, ist sicher leichter, als ihn von 1923 bis 1945 rhetorisch zu überbieten.

Haben Sie einen konkreten Vorschlag, wie man Ihre Vorstellung von Philosophie in die Tat umsetzen könnte?

Ja, eine Denkpause für die akademische Philosophie, in der die Institute ersatzlos aufgelöst werden. Wir, die wir unter dem komischen Attribut „Philosoph“ angetreten sind, können uns dann überlegen, wie wir das auf andere Art fortführen. Es könnte eine Offenheit entstehen, in der Fragen diskutiert würden wie: Wer bin ich? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Zugegeben, diese Fragen kennen wir schon – aber eben nur als Philosophiegeschichte. Und was hat Philosophie mit dem Mann-Sein zu tun? Was wollen inzwischen die Frauen von der Philosophie? Oder gar von uns? Die Verwaltung von Texten sollte aber nicht mehr die einzig förderungsfähige Form von Liebe zur Sophia sein. Die analytischen Philosophen könnten sich um Lyrikstipendien bewerben, der Rest geht in die Geschichte und Germanistik.

In der DDR hat man die philosophischen Institute abgewickelt, aber dort ist ja offensichtlich auch nichts Neues entstanden.

Ja, aber was ist denn da passiert? Man hat die Institute aufgelöst und dann die westdeutschen Privatdozenten der Endlagerung zugeführt. Im Land Brandenburg hat man ein Schulfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religion“ eingeführt, für das ich philosophischer Berater war. Die Lehrer waren sehr motiviert, aber ihre Weiterbildner waren derart ethisch infiziert, dass die Lebensgestaltung und lustigerweise auch die Religion auf der Strecke blieben. Und die Schüler natürlich auch.

Was sollen die Studenten Ihrer Meinung nach tun?

Sie sollen freie Arbeitsgruppen bilden und autonome Institute gründen. Sie sollen die Auflösung der Institute betreiben. Studenten müssen sich ständig fragen, warum sie denn Philosophie studieren, auf die Scheine scheißen, guten Wein trinken und nach ihrer Traumfrau (oder meinetwegen ihrem Traummann) suchen.

KAPITEL 2

Ich, der Andere und die Kultur

Klaus Maria Brandauer

Ich, das sind wir alle!

Aleida und Jan Assmann

Ohne Gedächtnis gibt es keine Kultur

Barbara Duden

Die Ungeborenen

Vincent Klink

Eine Kritik der kulinarischen Vernunft

Maxim Biller

„Ich, sagt ihr immer nur, ich – ich – ich!“

Reinhold Messner

Der Grenzgang beginnt im Kopf

KLAUS MARIA BRANDAUER

Ich, das sind wir alle!

Herr Brandauer, Sie sind der profilierteste deutschsprachige Charakterdarsteller und verkörpern immer wieder Rollen, bei denen die Frage nach dem Ich und der Identität im Vordergrund steht. Erarbeiten Sie sich Ihre Rollen durch Identifikation mit der Persönlichkeit, die Sie darstellen, oder dadurch, dass Sie sich von dieser abgrenzen?

Für mich gibt es keine Abgrenzung von etwas. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, mich mit dem, was ich über eine Figur lese, was ich von ihr weiß oder erzählt bekomme, zu identifizieren. Es gibt kaum eine Persönlichkeit, von der ich nicht sagen würde: Das könnte auch ich sein. Selbst wenn diese Figur Dinge macht, die ich nie machen würde, ist es dennoch meine Aufgabe, so tief in mir zu suchen, auch in allen Niederungen meines Charakters, bis ich sagen kann: Na ja, unter gewissen Umständen könnte ich auch so handeln wie die betreffende Figur. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass alle, die gelebt haben, die jetzt leben und leben werden, meine Brüder und Schwestern sind. Das Erstaunliche ist, dass die meisten Menschen immer hoffen, dass sie mit Mutter Teresa verwandt sind. Ich weiß aber, dass ich auch mit Nero, Stalin und mit Hitler verwandt bin. Und nur dadurch bin ich in der Lage, meinen Beruf tatsächlich auszuüben.

Welchem Einfluss unterliegt das eigene Ich, wenn man sich so sehr in eine andere Persönlichkeit versetzt, wie Sie es in Ihren Rollen tun?

Zunächst bin ich ich. Meine berufliche Tätigkeit ist, das meine ich gar nicht despektierlich, ein Abfallprodukt meines Lebens, meines Hierseins zwischen dem ersten und dem letzten Atemzug. Aber das Ich ist natürlich keine Konstante. Wie eine Pflanze, wie ein Baum, wie eine Blume wächst es ständig weiter, bis es eines Tages verwelkt. Es ist jedoch ein Unterschied, ob ich von einem wunderbaren, herrlichen, frischen Wasser getränkt werde oder ob plötzlich eine Kloake in den Unterboden fließt.

Ich bin manchmal so glücklich, dass ich es fast nicht aushalten kann. Ich bin aber auch froh, dass ich manchmal traurig bin, todtraurig. Der Zustand in beiden Extremen ist derselbe, es ist etwas, das mich ausmacht, das mich eigentlich vorantreibt, das mich wirklich leben lässt. Wenn man eine chinesische Vase zerschlägt und ihre Teile wieder zusammensetzt, sieht man eine Unzahl von Sprüngen. Diese Vase ist um vieles schöner, weil Erfahrungen, Sünden, Glückszustände mit eingeflossen sind.

Ist es auch möglich, das eigene Ich zu verlieren?

Ich will keinem Autor zu nahe treten, auch Shakespeare nicht, aber die Themen, die sie sich wählen, sind interessanterweise alle nur die Variation der Variation. Faust oder Gilgamesch, Peer Gynt oder Manfred – immer sind es dieselben Themenkreise. In den Figuren kann ich mich nicht verlieren, weil alle Figuren Menschen sind wie ich. Wenn ich „ich“ sage, dann beschäftige ich mich ausschließlich mit der Umwelt. Wenn man vom Ich spricht, dann denkt man: ich und die andern; genauer: wir und darunter auch ich. Was soll ich denn als Hamlet, wenn keiner mit mir spielt? Ich kann einen Soloabend machen, aber auch da brauche ich Zuschauer. Ich brauche auf alles, was ich mache, eine Reaktion.

Gibt es eine Verbindung zwischen allen Menschen, ein gemeinsames „Ich“, an dem alle teilhaben, einen innerweltlichen Geist, sozusagen einen Weltgeist?

Wir sind Weltfleisch. Wir sind sehr nahe beieinander und uns sehr ähnlich. Nicht nur, weil die meisten Menschen zwei Ohren, zwei Augen und eine Nase haben. Wer hat nicht Hunger, wer möchte nicht gern geliebt werden, es warm haben, einen Freund, eine Frau, einen Mann haben – das ist doch überall auf der Welt gleich. Ich sehe keine großen Unterschiede. Wir sind uns unendlich nah und zugleich unendlich fern. Das Wichtigste ist, dass wir die Nähe haben, uns voneinander zu entfernen. Auch die größte Nähe wird irgendwann langweilig; das ist unsere Gnade und unser Fluch. Wir brauchen den Süd- und den Nordpol – das Spannungsfeld zwischen den Polen. Wir müssen uns die Unterschiede suchen, damit wir etwas zu reden haben, sonst wären wir stumm geblieben: Nähe – Feuerl machen – schön warm – aus.

Ich möchte aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass es heißt: Der glaubt nur an die Existenz, an das Leben, den Körper. Nein: Ich bin für die Gemeinschaft, ich bin dafür, dass wir füreinander einstehen. Und wenn es für mich eine Triebfeder für meinen Beruf gibt, dann ist es nicht die, den Hamlet zu spielen oder den Don Carlos, sondern der Wunsch einzustehen für jene, die nicht die Mehrheit haben auf unserer Welt.

C. G. Jung betrachtet die Menschen als Inseln, die zwar durch Wasser getrennt, aber unter der Wasseroberfläche doch verbunden sind. Ist die Schauspielerei für Sie ein Versuch, den Wasserspiegel abzusenken?

Nein, das nicht, aber ich habe schwimmen gelernt. Ich bin sehr für Abstand und für Abgrenzungen, aber nicht für die, die einen entzweien, sondern für solche, die mir die Möglichkeit lassen, mich so darzustellen, wie ich bin, anders als der andere – damit wir in verschiedenen Formen aufeinander zugehen können. Solidarität mit den anderen meint nicht Gleichschaltung, sondern im Gegenteil: Wir müssen wissen, dass wir aus einer schönen Suppe kommen und wieder in eine schöne Suppe zurückkehren – aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns in dieser Gemeinsamkeit ganz, ganz unterschiedlich darstellen dürfen.

Ich bin übrigens nicht für Missverständnisse, sondern ich bin geradezu für die Vertiefung von Missverständnissen. Missverständnisse sind eine wunderbare Möglichkeit, ununterbrochen zu reden.

Suchen Sie ein Maximum an Lebensintensität?

Ja, aber nicht in dem Sinne, dass ich den ersten Preis gewinnen oder der Beste sein will. Intensität verstehe ich derart, dass ich alles, was ich zur Verfügung habe, mobilisiere, um den Zustand, in dem ich bin, optimal auszukosten. Das Lustprinzip ist nichts Verwerfliches. Wir sollten lernen, uns etwas Gutes zu tun, damit wir den anderen sagen können, wie sie sich etwas Gutes tun können. Wenn ich das dem anderen nicht mitteilen kann, weil ich es nicht selber an mir ausprobiert habe, dann kommen wir nie zur Gemeinschaft.

Kann man vielleicht sagen: Ich, das sind die anderen?

Nicht: Ich, das sind die anderen, sondern: wir, darunter auch ich. Die Betrachtung von „wir und ich“ funktioniert bis zu dem Punkt, an dem mir kein anderer mehr helfen kann, niemand. Dort bin ich allein, und nur dort, aber ganz, ganz klein, bin ich ich – das ist mein Gewissen. Man kann es nicht selbst bestimmen, sondern es bestimmt einen. Man kann danach handeln oder nicht. Man muss gut hören können …

Wie weit darf der Künstler als Künstler gehen, inwieweit darf er sich politisch engagieren und inwieweit ist die Kunst autonom?

Die Kunst kann überhaupt nicht autonom sein. Kunst ist eine soziale Tätigkeit, ein Sozialhelferberuf. Durch die Beschäftigung mit künstlerischen Dingen versuchen wir, unsere Lebensqualität und dadurch die Lebensqualität der anderen zu verbessern. L’art pour l’art, also eine Kunst nur um der Kunst willen, kann sehr schöne Dinge hervorbringen, aber wenn es der Gemeinschaft nichts gibt, ist Kunst keine Kunst. Kunst ist absolute Solidarität mit allen Menschen. Wenn die Kunst so unverständlich wird, dass große Teile der Gesellschaft vom Konsum der Kunst ausgeschlossen werden, ist es keine Kunst. Dann ist es halt Kunstgewerbe. Wir müssen uns verständlich machen und dürfen niemanden ausschließen. Der Hamlet-Monolog Sein oder Nichtsein ist auch für einen ungebildeten Menschen jederzeit verständlich. Sein oder Nichtsein schließt niemanden aus – vom gebildeten Universitätsprofessor bis zum einfachen Landarbeiter – das ist Kunst.

Warum wollten Sie Schauspieler werden?

Ich weiß es nicht. Wenn ich mal keine Zähne mehr habe – oder die dritten –, werde ich beginnen, darüber nachzudenken, warum es so gekommen ist. In meinem kleinen steirischen Heimatort Altaussee gab es in meiner Jugendzeit weder ein Kino noch Fernsehen – von Theater keine Rede. Aber ich habe seit ich denken kann, den Wunsch gehabt, so etwas zu machen. Wahrscheinlich kam dies durch die Sommergäste, die in meinem großelterlichen Haus wohnten. Das waren ganz interessante Leute, durch die mir klar wurde, dass unser Kirchturm nicht das Ende der Welt ist, sondern dass es darüber hinaus etwas gibt: Wien, München, Berlin, auch New York und Amsterdam. Da habe ich mir gesagt: „Was ihr mehr wisst als ich, das möchte ich auch gern wissen.“ Da hätte man natürlich auch Pilot werden können, aber bei mir war es aus unerfindlichen Gründen so, dass ich gerne etwas lesen und dies dann weiter erzählen wollte. Und ich bin gern bekannt, sehr gern.

Haben Sie eine Lebensphilosophie?

Eine Lebensphilosophie habe ich nicht bewusst parat. Aber ich habe eine tiefe Verwurzelung mit Altaussee – mit der erstgehörten Sprache, den Lauten, den Tönen, der Musik, mit der erstgeschauten Landschaft. Obwohl der Begriff „Heimat“ ziemlich verhunzt worden ist, sage ich, dass ich eine Heimat habe, die mich geprägt hat, die mich ausmacht. Ich bin in einer Idylle aufgewachsen. Ich habe weder etwas vom Krieg mitgekriegt, noch von der Nachkriegszeit. Ich bin aus keinem reichen Haus, aber uns ist es gut gegangen, wir hatten eine Tante in Amerika, die uns immer große Pakete geschickt hat, die Sonne schien, ich war Ski fahren … Schöner kann ich es mir eigentlich nicht vorstellen. Auf dem Land hatte man das Gefühl, dass einem alles gehört: der Dachstein und der Loser und der See und die Wälder und die Bäche. Ich hatte einen rrriiieeesigen Besitz. Mittlerweile habe ich viele Städte kennen gelernt, aber gerade deshalb gefällt mir Altaussee noch viel besser. Wenn ich in die Stadt fahre oder zum Flughafen nach Salzburg oder nach Wien, dann trinke ich an unserem Stammtisch noch ein kleines Bier und mein Freund der Oberförster sagt dann zu mir: „Foahrst du wieder in die Stadt, die Leut‘ foppen?“

Warum bezahlen die Leute dafür, dass sie „gefoppt“ werden? Spielen die Schauspieler nicht letztlich große Gefühle auf der Bühne vor, die man außerhalb des Theaters nicht mehr ausleben kann?

Schauspielerei und Schauspiel sind Begriffe, die ich für meine Tätigkeit ungern verwende und auch falsch finde. Wir sind alle in spielerischer Form tätig, wir spielen immer, und wer‘s weiß, ist klug … Wir spielen in unserem Leben viele Rollen, durch viele Alter hindurch. Jetzt sage ich fast schon einen Text von Shakespeare: Die ganze Welt ist Bühne. Als Bild stimmt das; aber sie ist natürlich keine Bühne, sondern Uraufführung. Der Unterschied zwischen dem Theater und unserem Leben ist, dass jeder Atemzug eine Uraufführung darstellt, unwiederholbar.

Ich weiß allerdings, dass der überwiegende Teil aller, die am Theater spielen, tatsächlich spielt. Aber das, was die Sache ausmacht, ist nicht, dass sie spielen, sondern dass sie für zwei, drei Stunden das sind, was sie zu spielen vorgeben. Es ist schon viel, nur ein paar Sekunden oder Minuten innerhalb dieser drei Stunden etwas zu sein. Das sind mystische Momente. Ich werde für diese Ansicht gerne belächelt. Jene, die das für einen technischen Vorgang halten, wissen nicht wovon ich spreche: Ich spreche von den Momenten des Lebens – und die Stunden auf der Bühne sind ja auch Leben –, in denen man das Gefühl hat, dass die Zeit stehen geblieben ist. Es ist etwas passiert, das man mit dem Verstand alleine nicht fassen kann. Die drei Stunden am Theater mit allen Anwesenden sind eine Suche nach Wahrheit, und die Wahrheit ist natürlich nur im Augenblick wahr. Wir können nicht zurückgehen.

Gibt es genauso viele Wahrheiten, wie es Augenblicke gibt?

Ja, natürlich.

Ist Wahrheit nur als Gefühl fassbar?

Nein, es muss mehr sein als das Gefühl. In dem Moment, in dem man so etwas sagt, denkt man ja auch. Sie müssen alle diese Dinge mobilisieren. Der Glaube versetzt Berge, daran glaube ich, und wenn das nicht so wäre, dann würde es mir weniger Spaß machen auf der Welt. So wie in Lourdes plötzlich einer sagt: Ich war vorher gelähmt, jetzt bin ich gesund. 2000 Menschen hatten alle einen Gedanken: Ich will gesund werden; und einer hat es geschafft. Aber der verdankt es nicht nur sich und vielleicht dem Regisseur, unser aller Regisseur, sondern auch denen, die mit dabei sind, die diese Spannung mittragen. Ich empfinde solche „Wunder“ nicht als etwas Absonderliches, sondern als einen ganz realen Bestandteil unseres Lebens – nur den müssen wir suchen, den müssen wir wollen, den müssen wir uns vorstellen können, daran müssen wir glauben, und ich glaube daran.

Wo liegt der Bereich, in dem der Schauspieler sich jenseits des Textes und jenseits der Vorstellungen des Regisseurs ausdrücken kann? Was ist die Leistung des Schauspielers?

Wenn Sie zum Beispiel als Oberst Redl die Pistole für den befohlenen Selbstmord in die Hand nehmen, können Sie folgendes machen: Sie legen die Pistole hierher … schön. Sie ziehen eine Zigarette aus dem Etui, schauen vor sich hin, rauchen ein bisschen, schießen sich ins Gesicht – tot. Sie können aber auch elf Minuten – wie in dem Film Oberst Redl – sich anscheißen, speien, kotzen, Angst haben … Ich musste selber beinahe kotzen, es war schrecklich. Kurz: die Identität mit dem, was wir haben, Leben, ist darstellbar, ist zeigbar. Und jetzt kann ich Ihnen sagen, wie lange ich mich auf diese Szene vorbereitet habe: gar nicht. Oder ich sage die Wahrheit: 58 Jahre, das ist meine Probe, das ist meine Probezeit.

Das Leben …

Alles andere kann ich nicht.

Was ich jetzt beschrieben habe, hat mit Perfektion nichts zu tun, sondern mit Gnade. Wichtig ist die Erlösung von etwas, das in meinem Bewusstsein steht.

Ich bin immer besser als der Shakespeare. Weil ich heute lebe, weiß ich mehr als er; auch wenn ich ihm sonst das Wasser nicht reichen kann. Stellen Sie sich mal vor, was der alles nicht wusste. Um so erstaunlicher ist es, dass er etwas weiß, was wir auch heute wissen, und etwas nicht weiß, was wir auch heute nicht wissen, und er etwas sucht, was wir heute immer noch suchen. Es gibt zwei Gebiete, die keinen Fortschritt kennen: die Kunst und die Liebe. In allen Wissenschaften gibt es Innovationen – aber kennen Sie etwas Neues in der Liebe? Kennen Sie etwas Neues in der Kunst?

Sie haben einmal gesagt, dass man die existentiellen Tiefen des Lebens erlebt haben muss, um sie auch spielen zu können. Wenn Sie sagen, dass Sie sich ihr gesamtes Leben auf den Tod von Oberst Redl vorbereitet haben, dann heißt das doch auch, dass man bestimmte Rollen in einem gewissen Alter noch nicht spielen kann, weil man die entsprechenden Erfahrungen noch nicht gemacht hat.

Erlebt haben bedeutet nicht, etwas wirklich erlebt zu haben. Ich bin natürlich auch im Alter von 20 Jahren am Münchner Staatstheater als Romeo gestorben. Obwohl ich damals den Tod eines Menschen noch nicht erlebt hatte, war das ziemlich aufregend. Um zu erleben, genügt Vorstellungskraft. Entscheidend ist die Höhe der Empfindungen.

Kann Schauspiel so etwas wie eine Therapie sein?

Ich betrachte meine ganze berufliche Tätigkeit seit vielen, vielen Jahren als eine Selbsttherapie und habe damit meine lieben Nöte – denn in kaum einer Rolle wurde ich nicht erschossen, ermordet oder habe mich selber umgebracht. Ich habe ein kleines Geschichtsproblem mit meiner Selbsttherapie: Ich überlebe die Tode.

Gewinnt das Leben an Bedeutung oder an Intensität, wenn man sich den Tod bewusst macht?

Das Verdrängen der entscheidenden Phase unseres Lebens macht krank. Das Sich-ins-Gesicht-Schauen ist das, was unser Leben ausmacht. Und der entscheidende bewusste Moment ist der Tod – es sei denn, er überrascht einen. Die Geburt ist nicht bewusst. Sie bleibt in unserem ganzen Leben ein Trauma. Leben ist ein Vorspiel, um im entscheidenden Moment loszulassen. Tod ist loslassen.

Welche Spuren hat der Tod Ihrer Frau bei Ihnen hinterlassen?

Ich habe nach dem Tod meiner Frau fünf Jahre nicht gespielt. Ich bin mit meinem Steirer Daimler Puch nach Sarajevo gefahren, in Kriegsgebiete. Um mich herum sind die Granaten geflogen, und ich habe Medikamente, auch Morphium, robbend in Lazarette gebracht. Als ich dann da war, habe ich sofort mit dem Oberarzt einen Schnaps getrunken, wir haben Gitarre gespielt und gesungen. Plötzlich hörte ich niemanden mehr schreien. „Das war ich!“, habe ich mir kurz eingeredet. Natürlich war es das Morphium, das ich gebracht hatte.

Maxim Biller antwortete auf die Frage, wie man wissen könne, was gut und was böse sei, ganz spontan: Jeder spürt, was gut und was schlecht ist. Man handelt vielleicht nicht danach, aber man spürt es.

Ja, absolut. Und weil Sie das wissen, sind Sie verantwortlich. Ein gesunder Mensch im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte ist verantwortlich – jeder auf seine Weise. Der eine hat noch kein schlechtes Gewissen, der andere schon – das ist auch in Ordnung, die Unterschiede sind enorm. Aber im Prinzip weiß jeder, was gut und was schlecht ist, und jeder wird verantwortlich sein vor sich. Vor dem lieben Gott braucht keiner Angst haben, der ist nicht kleinlich, der liebt uns alle.

Aber manchmal fehlt die Kraft, das was man fühlt, auch umzusetzen.

Wenn Sie es erkennen, ist es schon fein. Denn wenn Sie erkennen, dass Sie etwas Falsches getan haben, geht es Ihnen eh schlecht. Was haben Sie denn davon, wenn Sie etwas machen, das Sie eigentlich nicht machen wollen? Sie haben ein schlechtes Gewissen und das tut weh.

Ein Zwiespalt wie in dem Film Mephisto, in dem Sie die Rolle des Nazimitläufers Gründgens spielen?

Ich lege Wert darauf, dass es nicht Gründgens ist, sondern die Kunstfigur Höfgen. Die Verbrechen im Dritten Reich sind nicht von einem abstrakten Staat begangen worden – es waren von allen mitgetragene oder geduldete Morde. Nur: Der erste Satz zu diesem Thema heißt: Ich weiß nicht, was ich damals getan hätte und ich lege meine Hand für mich nicht ins Feuer. Wer diesen Satz nicht sagt, hat für mein Gefühl zu diesem Thema nichts zu sagen.

Ich kann mich auch schwer für Filme begeistern, die heute gegen Hitler gedreht werden; das ist doch nicht mutig. Ich hätte gern damals solche Filme gesehen. Außerdem hat mich Hitler als Figur nie wirklich interessiert … Mich interessieren die, die ihm freiwillig gefolgt, die ihm vielleicht wider ihre Intelligenz verfallen sind, die ihm diese unglaubliche Möglichkeit gegeben haben.

Ich glaube, dass die Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Instrumenten ausgestattet sind, und dass sie diese nützen können, wenn man ihnen den Weg zeigt. In Bereitschaft sein ist alles. Im Schauspiel wie auch im Leben ist nicht das Agieren das Wichtigste, sondern das Reagieren.

Und da bin ich bei einem tristen Kapitel: Es gibt zu wenige Unterrichtsstunden in der Schule oder an der Universität im Unterrichtsfach „Reden wir über das Leben“. Wir lassen die jungen Menschen mehr und mehr alleine. Man braucht eine Anleitung zum Leben.

Im Schauspiel vermischen sich Fantasie und Realität. Gilt dies auch für das „normale“ Leben?

Vorstellung und Wirklichkeit – das gehört auf jeden Fall zusammen. Manchmal ist der Traum wirklicher als die Wirklichkeit und die Wirklichkeit ist ein Traum, der Traum ein Leben, das Leben ein Traum.

Beim Träumen habe ich keine Koppelung an die Wirklichkeit, die natürlich auch wirklich ist. Wir müssen schon unseren Mann stehen. Ich möchte gerne erzählen, hören, machen, tun, lesen. Ich bin für Träume mit beiden Beinen auf dem Boden. Als Philosophen wissen Sie, dass die eigentliche Frage lautet: Wie ist die Vermischung, was nehmen wir mit?

Wenn man Ihre Kollegen in Talkshows hört, schalten die Leute ab, weil sie sehr verblasen reden. Die Philosophie hat ein dermaßen schlechtes Image, weil die Vertreter der Philosophie so einen Stuss zusammenreden, dass man es nicht für möglich hält. Philosophie muss ganz einfach ausgedrückt werden – dann finden wir alles, und dann merkt auch jeder: Philosophie ist die Unterhaltung über das Leben.

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