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Ethik oder Philosophie als Pflichtfächer?

Wie man das studienmäßig organisiert, ist eine andere Frage. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass die Art und Weise, wie wir unsere Studiengänge in der Regel hermetisch abgeschlossen gegenüber anderen Studiengängen organisieren, der falsche Weg ist. Wir müssen das Studium – auch in engeren zeitlichen Grenzen, das muss mit solchen Bemühungen nicht kollidieren – wieder so organisieren, dass Formen der Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität zu den selbstverständlichen Elementen eines Studiums gehören.

Meinen Sie mit Ihrer Kritik an der „unendlichen Beliebigkeit der Fächeraufspaltung“, dass der interdisziplinäre Austausch gehemmt ist, oder meinen Sie, dass es zu viele wirklich neue Studienfächer gibt?

Beides, beides. Ich glaube zunächst einmal, dass irgendetwas im Wissenschaftssystem falsch gelaufen ist, insofern wir eine wohl unvermeidliche Spezialisierung in der Forschung sofort institutionalisiert haben. Interdisziplinarität ist da häufig nur der verzweifelte und in der Regel vergebliche Versuch, im Nachhinein wieder zusammenzuführen, was die wundersame Vermehrung der Disziplinaritäten und Fachlichkeiten trennt. Ich denke, dass in diesem Punkt die Reform sehr viel radikaler ansetzen muss. Wir müssen die institutionelle Zerlegung der Wissenschaft wieder auflösen. Wir müssen, mit anderen Worten, größere Fachbereiche bilden, in denen zum Beispiel der Chemiker wieder mit dem Physiker, mit dem Biologen und so weiter wirklich zusammenarbeitet und auch zusammen ausbildet. Wir haben im Grunde das Gegenteil getan. Wir haben alles getan, um nur jede vernünftige Interdisziplinarität und Transdisziplinarität in Studium und Lehre zu verhindern.

Kann ein Chemiker wirklich noch hochqualifizierte Forschung betreiben, wenn er gleichzeitig mit Biologen und Physikern zusammenarbeitet und auch noch ethische Aspekte berücksichtigt?

Wir müssen hier zwischen dem Forschungskontext im engeren und dem Ausbildungskontext im weiteren Sinne unterscheiden. Es ist wohl so, dass große wissenschaftliche Leistungen zunehmend ein hohes Maß an Spezialisierung voraussetzen. Nur, verlangen sollte man, dass in Ausbildungs- und Lehrzusammenhängen derjenige, der vielleicht in Forschungszusammenhängen längst ein einsamer Spezialist geworden ist, mehr zusammenbringt als seine Spezialitäten. Das Dilemma kriegen wir dadurch, dass wir die Lehre über die Forschung definieren und so den forschenden Spezialisten zum lehrenden Spezialisten machen. Meine Vorstellung ist immer noch die, dass ein anständiger Hochschullehrer, der in der Forschung Spezialist ist, in der Lehre sein Fach in möglichst großer Breite vertreten kann – was auch ethische Fragestellungen einschließt. Nur, solche Persönlichkeiten, Hochschullehrerpersönlichkeiten, tja, die wachsen auch nicht wie die Blumen auf dem Felde.

In der heutigen „Massenuniversität“ sehen selbst viele Studierende das Studium ausschließlich als Berufsausbildung. Wie sollen in diesem Klima noch derartige Fragen behandelt werden? Würden Sie, auch unter diesem Aspekt, einen berufsqualifizierenden Abschluss nach circa sechs Semestern befürworten?

Wenn das mit zwei Dingen nicht verbunden ist, bin ich dafür. Wenn es erstens nicht damit verbunden ist, dass wir so etwas wie Kurzstudiengänge in der Universität wiedererfinden; Kurzstudiengänge in der Form, dass all das, was bisher in ein zehn- oder zwölfsemestriges Studium gepackt ist, nun in einem sechssemestrigen untergebracht werden soll. Alle Versuche dieser Art sind fehlgeschlagen. Und wenn zweitens auch nicht gemeint ist, dass man jetzt die Universitätsausbildung insgesamt zerlegt in einen stark verschulten und stark entwissenschaftlichten Teil, der etwa bis zum vierten oder sechsten Semester führt, und in einen im engeren Sinne wissenschaftlichen Teil. Dann zerlegt man nicht nur das Studium, sondern dann zerlegt man die Universität. Universität findet dann eigentlich nur noch nach dem sechsten Semester statt. Das zweite droht ja jetzt, wie Sie wissen, und da bin ich vehement dagegen. Das wird die Universität zerstören und auch die Ausbildung, die wir eigentlich an Universitäten suchen und erwarten, nämlich die wissenschaftliche Ausbildung. Es war die Stärke der deutschen Universität, diese Zerlegung gerade nicht zu haben.

Wenn Sie aber meinen, dass es möglich sein muss, nach einem sechssemestrigen Studium, immerhin nach drei Jahren, ich unterstelle mal, intensiven Studiums, mit einem Zertifikat, das genau dieses belegt, die Universität zu verlassen, dann finde ich das vernünftig.

Das richtige Maß zu finden zwischen einem völlig verschulten Unterricht einerseits und einem illusionären wissenschaftlichen Unterricht andererseits – gut, das wird das Kunststück sein. Es kann nicht Zweck der Universitätsveranstaltung sein, dass jemand, der die Universität betritt, sich einfach nur in die nächste Klasse versetzt fühlt, einfach seine Schule weiter treibt. Ich wittere hinter solchen Überlegungen, wie sie im Moment insbesondere in den administrativen und bürokratischen Köpfen stattfinden, mehr als nur die Absicht, das Studium studierbarer zu machen. Ich bin voller Argwohn, wenn ich die momentanen Tendenzen verfolge.

In diesem Zusammenhang fällt auch sehr gerne und sehr kontrovers das Stichwort „Elite“.

Das Missliche in diesem Zusammenhang ist, dass das Wort „Elite“ so belastet ist. Aber ich habe keine Berührungsängste. Ich provoziere auch gerne und benutze deswegen gelegentlich selbst das Wort „Elite“. Ich bin davon überzeugt, dass unser Wissenschaftssystem genauso wie unser sportliches System – da akzeptieren wir es ja! – die Hochleistung braucht. Wir brauchen so etwas wie eine wissenschaftliche Elite, aber wir brauchen sie nicht überall. Auch der Postbote, sofern er überhaupt noch läuft, muss die 100 Meter nicht in elf Sekunden laufen. Das kann auch ein bisschen langsamer gehen. Und so ist es auch in Bereichen, für die die Universität wissenschaftlich ausbildet.

Ich bin auch kein Vertreter von Elitehochschulen. Ich warne eher vor einem System, das auf diesem Begriff aufgebaut ist, wie das amerikanische, das französische und in Grenzen das englische System. Ich bin aber sehr wohl ein Vertreter derjenigen, die meinen, dass wir alles tun müssen, um wissenschaftliche Hochleistung zu ermöglichen. Überall dort, wo wir institutionelle oder andere Hindernisse sehen, müssen wir sie zu diesem Zweck aus dem Weg räumen.

Gibt es grundsätzliche, hochleistungshemmende Elemente in unserem Hochschulsystem?

Nein. Ich glaube, dass sich die Qualität, der Leistungswille auch unter den gegebenen Verhältnissen durchsetzen kann. Und das ist auch gut so. Worauf man achten muss, ist nur, dass nicht doch strukturelle Bedingungen auftreten, zum Beispiel überfüllte Seminare oder fehlende Geräte, die tatsächlich die Entfaltung der Höchstleistung behindern. Eine Universität oder eine Gesellschaft, die darüber klagt, dass ihre Studenten zu lange studieren, aber nicht in der Lage ist, ein Studium so zu organisieren, dass es auch wirklich in einer angemessenen Zeit studiert werden kann, die macht eben ganz woanders Fehler.

Sie waren Mitglied der Strukturkommissionen von Sachsen und Berlin. In den neuen Bundesländern hatten Sie während der Evaluation des Wissenschaftsbetriebes in der DDR die Möglichkeit, an einer Neustrukturierung teilzunehmen. Wie sind da Ihre Erfahrungen? Wurden die Wissenschaftler zum bloßen Rädchen in der Politik, oder konnten Sie wirklich gestalten?

Zunächst einmal: Ich war immer der Meinung, dass zu einem vollen Hochschullehrerleben neben Lehre, Forschung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auch die wissenschaftliche Selbstverwaltung beziehungsweise die Wissenschaftspolitik gehört. Ich habe diese vielleicht in der Vergangenheit etwas zu exzessiv wahrgenommen. Dennoch fühle ich mich durch den schlichten Umstand, dass ich jetzt auch in solchen Bereichen tätig war, nicht von meinem eigentlichen Beruf entfremdet. Das hat auch etwas mit der Autonomie der Institution Universität zu tun, die muss man bauen, nicht beschwören.

Meine Erfahrungen in den genannten Kommissionen sind sehr gemischt. Die gute Nachricht zuerst: Ich fand, es war schon eine erstaunliche Leistung, die unser System, auch das wissenschaftliche System, in wirklich ganz kurzer Zeit vollbracht hat – in nicht mal zwei Jahren, wenn Sie die Arbeit des Wissenschaftsrates betrachten –, nämlich ein System soweit zu evaluieren und soweit zu rekonstruieren, dass dieses System ohne wirklich gravierende Brüche – ich spreche jetzt nicht von Personen – praktisch eine völlige Veränderung erfahren hat. Ob diese Veränderung in allen Teilen vernünftig war, und ob uns da genug eingefallen ist, das ist die andere Frage. Und das ist vielleicht die schlechte Nachricht. Denn im Endeffekt ist diese Veränderung dann doch so erfolgt, dass wir schlicht das uns gewohnte, also im Westen gewohnte, Universitäts- oder Wissenschaftssystem insgesamt mehr oder weniger radikal auch in den Neuen Ländern durchgesetzt haben. Wirklich Neues ist uns dabei nicht eingefallen, und das hatte natürlich auch wieder seine Gründe. Diese lagen weniger darin, dass es zu wenig institutionelle Fantasie gab. Die gab es. Sondern daran, dass das Ganze nicht nur unter einem ungeheuren Zeitdruck erfolgte, sondern auch unter einem ungeheuren finanzpolitischen Druck. Bestimmte Finanzierungsmöglichkeiten bestanden nur, wenn man sehr schnell in einer bestimmten Weise veränderte. Viel Spielraum für Experimente, neue Formen, die in unserem Finanzierungssystem von Wissenschaftlern und Universitäten nicht üblich waren, gab es nicht. Und insofern ist erklärbar – und in diesem Fall auch den Beteiligten nicht vorwerfbar –, dass dabei nicht große Neuerungen herausgekommen sind. Immerhin – ein bisschen mehr, als man tatsächlich zustandegebracht hat, hätte man vielleicht zustandebringen können. Die Kommissionen, die nach dem Wissenschaftsrat tätig waren – das waren die Hochschulstrukturkommissionen der Länder, in denen ich in Sachsen und in Berlin mitgewirkt habe –, hatten noch einmal die Chance, intern auf Länderebene die Dinge etwas anders anzupacken. Sie haben sie auch in der Form genutzt, dass eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht wurde – auch institutionelle Vorschläge –, die es verdient hätten, als wirklich neue und Reformelemente betrachtet zu werden. Dass diese nicht oder jedenfalls zu größeren Teilen nicht realisiert wurden – nun gut, das lag nicht in der Hand dieser Kommissionen. In dem Augenblick, als wir eine Chance gehabt hätten, dass zum Beispiel in Berlin ein paar Dinge anders hätten realisiert werden können, kam der finanzielle Einbruch. Das war kein böser Wille, auch nicht auf Seiten der Politik oder der Verwaltung. Jede Reform kostet Geld, Reformen zum Nulltarif gibt es nicht.

Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, dass die Professoren der alten Bundesrepublik lediglich ihre Privatdozenten in den Neuen Ländern entsorgt hätten?

Ha! Also so pauschal gilt das nicht; aber es gibt natürlich Bereiche, in denen das der Fall war.

Welche Rolle spielten bei Personalfragen ideologische Kriterien im Gegensatz zu fachlichen? Es gibt ja durchaus auch marxistische Professoren in Westdeutschland.

Ja ja, das waren auch ein paar Dinge, die mich wahnsinnig geärgert haben. Also, zunächst einmal glaube ich sagen zu können, jedenfalls für den Bereich des Wissenschaftsrats, dass ideologische Dinge keine Rolle gespielt haben. Gleichwohl haben auch Ideologien in diesem ganzen Prozess gegriffen. Etwa die, dass man sich einfach nicht vorstellen konnte, dass es auch Teile der Philosophie der DDR unter Qualitäts- und anderen Gesichtspunkten wohl verdient hätten, in das gemeinsame System aufgenommen zu werden. Der antimarxistische Besen hat da kräftig gekehrt – und das ist schlimm gewesen. Allerdings waren das vor allem die Neuen Länder selbst, die da gekehrt haben, das darf man nicht vergessen. Diese Form der Reinigung setzte überhaupt erst ein, als das Evaluationsgeschäft, sofern es vom Wissenschaftsrat betrieben wurde, beendet war. Und da waren es eben in den Neuen Ländern sehr häufig gerade die Wendehälse, die mit Feuer und Schwert durch die Universitäten gegangen sind, nicht die Westler. Die Westler haben sehr früh bemerkt, dass oft auch sehr gemischte Verhältnisse herrschten. Die Vorstellung, es ist alles im Argen, das Niveau ist im Keller, die Ideologie ist entsetzlich, war häufig unbegründet; wer in dieser Weise, mit dieser Vorstellung rübergegangen ist, wurde schnell eines Besseren belehrt. Nein nein, es waren, wenn man so sagen will, die eigenen Leute, die hier und dort am grässlichsten gewütet haben. Und das ist ein Kapitel der Vereinigung, das erst noch richtig geschrieben werden muss.

ALEXANDER DILL

Philosophie oder die Liebe zu einer nicht vorhandenen Frau

Wir haben uns hier in Teisendorf getroffen, um über das zu reden, was Philosophie ist. Drei Studenten und ein Philosoph der Praxis; das macht doch schon sehr den Eindruck des platonischen Dialogs. Dill als Sokrates? Ist Ihre Philosophie die des Sokrates?

Hoffentlich nicht! Ich bin erstens der Überzeugung, dass Sokrates als Verderber der Jugend zu Recht hingerichtet wurde, und weiterhin bin ich davon überzeugt, dass der sogenannte sokratische Dialog nicht im entferntesten ein Dialog ist. Außer ein paar Universitätsdozenten sagt niemand, dass es sich hier um echte Dialoge handelt. Jedes Boris-Becker-Interview ist dialogischer als ein sokratischer Dialog. Wenn unser Dialog hier so werden sollte, dann kann ich mich gleich in den Universitäten begraben.

Welche Kriterien muss ein echter Dialog erfüllen? Wollen Sie Sokrates noch überbieten?

Höchstens in der paradoxen Intervention, die Sokrates und insbesondere Aristoteles mit seinem Satz des ausgeschlossenen Dritten verhindern. In der Tat kann eine paradoxe Intervention als Überbietung genauso heilsam sein wie eine Verhinderung des kleinlichen Argumentierens – intelligenter ist sie sicher. Dialog ist für mich Unberechenbarkeit, Unvorhersehbarkeit, Spontaneität, Provokation, Widerspruch, Paradoxie.

Inwieweit geht es im dillschen Dialog noch um Wahrheit? Ist Philosophie für Sie Habermas oder Diskursethik plus Polemik?

Um Wahrheit geht es nur in einer einzigen Form – in ihrer Infragestellung! Ansonsten ist Wahrheit uninteressant. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Wahrheit inzwischen als „Gültigkeit“ und „Plausibilität“ verkleidet, weshalb ich befürchte, dass Herr Habermas und Herr Apel an ihrer Infragestellung in dieser Verkleidung nicht interessiert sind. Deshalb führen sie auch keine Dialoge im Geist der vorhin beschriebenen Risiken. Man muss den Mut haben, im Dialog Wahrheit verlieren zu können.

Heißt das nun wiederum nicht, die Wahrheit um einer besseren Wahrheit willen in Frage zu stellen?

Wahrheit ist immer schlecht, es gibt keine gute Wahrheit. Wahrheit ist etwas Totes, etwas Statisches und Gewalttätiges, Gemeines und Hinterhältiges.

Aber erheben diese Aussagen ihrerseits nicht auch wieder einen Wahrheitsanspruch?

Natürlich, aber für mich sind Widersprüche kein Problem; zu einem echten Dialog gehören Paradoxien. Man muss den Mut haben, den unseligen Satz des ausgeschlossenen Dritten über Bord zu werfen. Der Widerspruch ist keine Wahrheit, denn er ist ja immer die Wahrheit und zugleich ihr Gegenteil. In der Paradoxie dagegen löst sich der Widerspruch auf.

Wie stellen Sie sich dann zu dem sokratischen Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß?“

Eine Lüge, eine ganz freche Lüge! Sie tut in einem nihilistischen Zeitalter, in dem jeder stolz darauf ist, nichts zu wissen, nichts zu sein, nur zu suchen, nur zu fragen und verstehen zu wollen, allen gut und niemandem weh.

Es gibt keinen herrschaftsfreien Dialog oder Diskurs. Es geht immer darum, wer gewinnt. Was ich sage, sage ich immer aus Eigeninteresse und nicht für die Leute, weil ich es für richtig halte. Ich will Recht haben, und ich will gewinnen. Es gibt immer einen Gewinner im Dialog – im Falle des bewusst Paradoxen ausnahmsweise zwei.

Wie kann denn ein solcher Dialog noch konstruktiv sein? Ist er nicht vielmehr sinnlos?

Dialog soll nicht konstruktiv sein. Das, was sich konstruktiv nennt, ist die Verhärtung von männlichen Denk- und Machtstrukturen. Es ist die Folge einer männlichen Lebensangst, deren Resultat sogenannte Erkenntnis ist. Welchen Wert soll denn zum Beispiel die Richtigkeit haben? Richtigkeit ist doch nur eine Funktion der Entscheidung von Macht. Computer zum Beispiel können nur rechnen, weil sie sich permanent zwischen null und eins entscheiden.

Kommen wir noch einmal auf Sokrates zurück. Was war denn das Verbrechen des Sokrates?

Sokrates verübte verschiedene Verbrechen. Ein Verbrechen war sicher das, in der Jugend die Illusion zu wecken, dass man durch rein kognitive Anstrengung und deren Regelmechanismen Macht gewinnen und das ersetzen könne, was damals schon Politik genannt wurde. Also eine kybernetische Utopie des Philosophenstaats.

Aber war sein Problem nicht eher das, dass er zu erfolgreich war?

Nein – aber es gibt ja von Woody Allen eine schöne Version des Todes des Sokrates. Dort ist es so, dass ihn seine Schüler in den Tod treiben. Sokrates sagt, dass er eigentlich gar keine Lust habe jetzt zu sterben, und darüber hinaus sei er in Sparta zum Essen verabredet, worauf seine Schüler ihn darauf hinweisen, dass es doch schließlich um die Wahrheit ginge, derentwillen man den Tod auf sich nehmen müsse. Sokrates sagt daraufhin, dass er es so absolut nicht gemeint hätte. Die Wahrheit – das zeigt dieser Dialog von Woody Allen – ist nur ein Mythos oder eine Ideologie jenes doppelten Missverständnisses, das man Philosophie nennt. Es handelt sich um ein philologisches und um ein soziologisches Missverständnis.

Bisher wurde Philosophie immer mit „Liebe zur Weisheit beziehungsweise Wahrheit“ übersetzt. Allerdings hatte sophia bei den Vorsokratikern vielmehr die Bedeutung eines Abwesenden oder, sagen wir genauer, einer Abwesenden. Sophia hat mit Weisheit oder Wahrheit im Prinzip überhaupt nichts zu tun. Das soziologische Missverständnis besteht darin, zu glauben, dass die Philosophen schlauer seien. Denn heute wissen wir, dass es keine Berechtigung dafür gibt, dass sich einige unter dem Titel des Philosophen als besonders schlau betrachten dürfen. Das hat natürlich mit dem Tod des Sokrates zu tun, da die Griechen vielleicht auch schon dieser Meinung waren. Die Philosophie hat dieses Missverständnis nur institutionalisiert.

Aber kann man es denn nicht auch so betrachten, dass der Philosoph derjenige ist, der nicht im Besitz der Wahrheit ist, sondern derjenige, der sich beständig darum bemüht, diese zu erreichen?

Aber das ist ja gerade das Schlimme. Subjektiv strebt doch jeder nach Wahrheit beziehungsweise glaubt jeder, das Richtige zu tun. Ist es überhaupt sinnvoll, nach Wahrheit zu streben? Was haben wir denn damit gewonnen? Philosophie ist die Liebe zu einer nicht vorhandenen Frau namens Sophia. Bevor wir die Sophia durch „Wahrheit“ oder gar „Weisheit“ ersetzen, sollten wir uns darüber wundern, dass bisher nur Männer diesen Titel für sich in Anspruch genommen haben. Frauen behelfen sich mit den Diotimas aus der Philosophiegeschichte und führen nur einen männlichen Diskurs fort. Sie philosophieren ausdrücklich nicht als Frauen, sondern als „Menschen“ oder „Subjekte“, aus Rollen heraus, die ihrerseits vollständig von der männlichen Philosophie vorgegeben wurden. Sprich: Es gibt bisher keine weibliche Philosophie. Und wenn es sie gäbe, bestünde sie in der Auflösung der Philosophie, die nichts weiter ist als eine im besten Fall selbstreflexive Tätigkeit des Mannes. Sie ist eine in Frage zu stellende Anmaßung, solange sie sich allgemein gibt. Sie ist aber auch eine große Chance, denn in keiner Wissenschaft erfahren wir mehr über den Mann, sein Denken, seine unterdrückten Gefühle und seine Ängste.

Warum fehlt dem Philosophen die Frau? Wofür steht die Frau?

Für das Abwesende, für das Fremde, dem „Mann“ nicht näher kommen kann. Das Andere ist aus anthropologischer Sicht für den Mann die Frau. Gott ist nur ein alternatives Anderes für den Fall, dass keine Frau vorhanden ist. Die Philosophie, die ja die abwesende Frau sucht, ist eine resignative Reaktion auf diese Abwesenheit: Vielleicht ist ja die Frau unauffindbar. Die Konsequenz heißt dann Homosexualität. Deshalb ist die männerbündische, homosexuelle Philosophie mit Sicherheit die selbstreferenziellste und ehrlichste, zugleich aber die verdorbenste, weil sie mit dem Ausschluss der Frau das Gelingen der Polis verhindert.

Wie kann ein Suchender, ein Student, das Abwesende – die Frau – finden? Was würden Sie jemandem empfehlen, der die Philosophie sucht?

Wer Philosophie sucht, sollte die Sophia suchen, nicht die Weisheit oder die Wahrheit. Noch besser ist es natürlich, direkt die Frau zu suchen. Sie, diese Andere, ist eine metaphysische Sache.

Auf wissenschaftlichem Wege kann er sie ganz bestimmt nicht finden. Der Platoniker wird sagen: „Ich will sie ja gar nicht finden“; wir nennen das dann „platonische“ Liebe. Aber selbst der Weg zur Weisheit führt nur über die Frau. Vielleicht ist die Weisheit ein Weib, schreibt Friedrich Nietzsche, das Gründe hat, sich nicht sehen zu lassen. Ein guter Grund wäre der Auftritt eines „Philosophen“.

Wenn ein Mann eine Frau gefunden hat, erübrigt sich die Suche nach der Sophia. Philosophie ist sozusagen eine Junggesellentätigkeit, die in der Universität als ewige Tertia institutionalisiert wird. In einer bestimmten Lebensphase kann es sehr hilfreich sein, sich mit der akademischen philosophischen Tradition zu beschäftigen. Ich kann jedoch immer nur hoffen, dass diese Phase vorübergeht. Man bleibt ja auch nicht sein ganzes Leben in der C-Jugend oder in der Rockband. Wer sein Leben lang nur in der Philosophie bleibt, ist gestört, wobei man in diesem Zusammenhang immer von der Störung der Beziehung von Mann und Frau sprechen sollte, sonst verfehlt man den Kern des Problems.

Ist Philosophie eine Therapie?

Wenn man damit meint, dass man sein Leben als Mann bewusst begleitet, dann kann sie eine Therapie sein.

Sie sprechen die Philosophie des Anderen an. Wie stehen Sie zur Philosophie von Emmanuel Levinas oder Martin Buber?

Das „Dialogische Prinzip“ ist einer von vielen männlichen Versuchen, das Andere zu abstrahieren. In der Theologie wird das Andere dann zu Gott. Diese Abstraktionen resultieren aus einer Angst der Männer vor der Frau.

Das Andere kann aber auch das „Denken des Außen“ sein, wie Michel Foucault es propagierte, im Grunde Astronautentum. In der Philosophie gab es zuerst die schwule Philosophie der Antike, dann kam der asexuelle, skurrile Hauslehrer wie René Descartes oder Immanuel Kant, bis dann endlich Nietzsche am Ende dieses Prozesses, den man Philosophiegeschichte nennt, sich nichts sehnlicher wünschte, als die Frau Lou Salome zu bekommen. Er bekam sie nicht. Aus dieser Enttäuschung heraus rekapituliert er die gesamte Philosophiegeschichte. Es reicht also völlig aus, Nietzsche zu kennen, um die gesamte Philosophiegeschichte zu kennen. Nietzsche hat die Philosophie als historischen Prozess abgeschlossen. Seine eigentliche Leistung besteht in der Aufhebung der Differenz zwischen Philosoph und Welt – sie besteht in der Umarmung eines Pferdes in Turin. Danach, so geht die offizielle Philosophiegeschichte, wurde er verrückt. Doch eigentlich passierte nichts anderes, als dass er von seiner männlichen Astronautenreise, die Philosophie hieß, in die Arme von Frauen zurückkehrte, die ihn die nächsten Jahre pflegten.

War es nicht vielmehr die Syphilis, die ihn in die Arme seiner Mutter und seiner Schwester zwang?

Wenn es wirklich Syphilis war, dann bliebe zu hoffen, dass er sie bei seiner vielleicht einzigen körperlichen Begegnung mit einer Frau bekam. Meines Erachtens blieb ihm das aber leider verwehrt. Wohl deshalb nahm er schließlich mit einem Pferd wenigstens irgendein anderes Lebewesen in den Arm. Wichtig ist dieser symbolische Akt, mit einem Tier zu verschmelzen, was für einen Philosophen das Schrecklichste wäre. Auf der Ebene eines Tieres zu landen, wo er doch so schlau sein wollte, und dann in die entmündigte Hilfsbedürftigkeit zurückzukehren, ist eine Konsequenz der Radikalität seines Denkens.

Die Umarmung des Pferdes ist für die Philosophie symbolisch vergleichbar mit der Kreuzigung Christi. Die Philosophie sollte einen Kult daraus entwickeln, Pferde zu umarmen.

Hat Philosophie auch eine überindividuelle Bedeutung? Steckt in der Philosophie auch eine verändernde Potenz?

Diese Illusion stimmt zum Glück nicht. Odo Marquard hat einmal gesagt: „Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen“. Selbst in der DDR war der Einfluss der Philosophie so gering, dass sie gesellschaftlich keinen Schaden anrichten konnte.

Nehmen Sie zum Beispiel Sir Karl Popper. Es gab zwei wesentliche Leute, die sich auf ihn berufen haben, Alfred Herrhausen und Helmut Schmidt, aber das hatte auf ihre Politik nicht den geringsten Einfluss. Sie unterschieden sich in ihrem Handeln nicht von anderen, wie zum Beispiel Helmut Kohl oder Edzard Reuter. Das philosophische Gedankengut wurde immer nur als Rechtfertigung für ohnehin durchgeführte Politik herangezogen, wie zum Beispiel Karl Marx in der DDR oder Carl Schmitt von den Nazis. Politik wird von den Machthabern meist philosophisch begründet.

Dass Philosophie eine Auswirkung haben sollte, war ursprünglich die Idee meiner Philosophischen Praxis. Tatsächlich aber bekam eher die Auswirkung dieser Praxis eine Philosophie.

Wie sehen Sie denn dann die Philosophie der Aufklärung, die ja oft als Paradebeispiel der Wirkmächtigkeit von Philosophie angeführt wird?

Ich würde sie interpretieren in der Analogie zur Entwicklung der Atomkraft. Das heißt, man wollte eine Energiequelle finden, die die Bedürfnisse der Menschen befriedigt, aber man hat das Problem der Entsorgung vergessen. Genauso war es in der Aufklärung. Man hat Kräfte freigesetzt, Denkmobilität, das Wahlrecht, und ist nachher mit dem entstandenen Potenzial nicht mehr fertig geworden. Diese Überschüsse erleben wir heute zum Beispiel in Gestalt des Überkonsums, der Naturzerstörung und des Fundamentalismus. Man müsste alternative Energien entwickeln. Diese alternative Energie besteht in der Liebe zwischen Mann und Frau. Die Eigenart der weiblichen Philosophie ist, dass sie keine Diskurse will, dass sie immer bei der Infragestellung stehen bleibt. Wenn ich nicht zwanzig Jahre die Gefühlskälte und Gemeinheit der vermeintlichen Aufklärung in Berlin am eigenen Leib erfahren hätte, würde ich heute diese These nicht vertreten. Die Fragen nach der Wahrheit oder nach der Philosophie sind nur überlagerte, hinter denen sich immer nur die Frage nach der Beziehung von Mann und Frau verbirgt. Die eigentliche Aufgabe von Philosophie müsste es sein, die fundamentale Geschlechterfrage zu thematisieren, also über die Chance von Liebe und Begegnung, von Vereinigung und Zeugung aufzuklären. Es erstaunt mich, dass gerade die sich selbst für aufgeklärt haltende Gegenwartsphilosophie diese Frage ausklammert, obwohl hier doch die unmittelbarste und persönlichste Wirkung läge.

Denken Sie, dass die Vernunft im Leben eines Menschen eine Rolle spielt?

Ich befürchte das oft. Immer, wenn mir Gewalt angetan wird, stelle ich fest, dass das jemand ist, der vernünftig ist. Die Menschen, die Gewalt an anderen Menschen ausüben, sind vernünftige Menschen. Vernunft ist, wenn Menschen für alles, was sie tun, rationale Begründungen finden, mit denen sie es rechtfertigen. Die Folge der Aufklärung war, dass die Sprache immer auch zur Begründung von Gewalt dienen konnte. Man muss ja bedenken, dass wir heute nur noch Kriege zur Erhaltung des Friedens und nicht mehr zur Eroberung führen. Das sind die Folgen der Aufklärung – letztlich wurde die Vernunft erst durch die Aufklärung diskreditiert, so dass meine über- und zwangsaufgeklärte Generation immer mehr Freude daran gewinnt, die Entwertung der Begriffe ironisch vorzuführen.

Kann die akademische Philosophie nicht eine beratende Funktion einnehmen?

Wer in der Lage wäre, Wirtschaftsführern, Arbeitslosen oder Politikern einen vernünftigen Rat – und jetzt benutze ich einmal den Sinn des Wortes – zu geben, hätte sich nicht so lange an der Universität aufhalten dürfen. Ethikkommissionen sind etwas Lächerliches. Ich war selbst in solchen und habe dann durch Fachvorträge über die Arbeitszeitverkürzung bei VW überrascht. Ich habe auch einen Begriff für die akademischen Berater gefunden: Ethisches Sandmännchen.

Denken Sie nicht, dass es so etwas gibt wie ethische Probleme?

Ethische Probleme? Gibt es nicht. Die Ethik ist ein riesiges Missverständnis, denn subjektiv strebt doch jeder nach Wahrheit, beziehungsweise glaubt zumindest jeder, das Richtige zu denken und zu tun. Zeigt das nicht die Sinnlosigkeit der Ethik?

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