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War das nicht eine romantische Vorstellung?

1968 war der letzte Seufzer der politischen Romantik. Ich bin damals durch den Schleudersitz der Zynismusanalyse aus diesem System ausgestiegen. Die nächsten Schritte waren meine Reise nach Indien und dann die Phänomenologie heideggerschen Stils.

Welche Bedeutung hatte Ihr Indienaufenthalt für Ihr Denken?

Sie müssen wissen, dass ich anfangs sehr stark von der Phänomenologie husserlschen Typs geprägt war, weil ich als Schüler von Bernhard Waldenfels in München in diese Denkschule initiiert wurde. Erst nach Indien habe ich angefangen, Heidegger zu lesen, weil ich damals nach einer europäischen Theorie suchte, die mir helfen sollte, die Erfahrung des östlichen Denkens zu integrieren. Nach meiner Rückkehr aus Indien habe ich verstanden, was Heideggers Intervention bedeutete – nicht weniger als den längst fälligen Versuch, sich aus dem 2500-jährigen Reich der europäischen Metaphysik herauszuwinden. Und da ich in Indien eine ganz andere Form von Denken kennengelernt hatte, hatte ich eine ungefähre Vorstellung, wie diese Herausdrehung geschehen könnte.

Heute fahren wir aber nicht mehr einseitig nach Indien, die Inder kommen jetzt auch als Agenten der Globalisierung zu uns. Das scheint die Rache des Orients zu sein, und es hat lange gedauert, bis ich verstand, dass sie eigentlich schon damals begonnen hatte. Wir Okzidentalen hatten unseren Orient als Kinderstube des Weltgeistes in Beschlag genommen und unsere eigenen Anfänge dorthin projiziert. Aber dass es eines Tages eine indische Replik geben musste, war uns nicht klar. Inder sind große Realisten. Wenn sie sich fragen: Was haben wir, was wir exportieren könnten? Dann lautet ihre Antwort ganz nüchtern: Wir haben kein Erdöl, wir haben keine Kohle, wir haben nichts, womit man dem Westen imponieren kann – außer mit Religion und Rechenkapazitäten. Probieren wir’s fürs Erste mit der Religion. Bhagwan Shree Rajneesh alias Osho war sicher der genialste Erfinder einer Exportreligion und zugleich ein großer Aufklärer in Religionsdingen. Alles, was er tat, lief auf die Maxime hinaus: Die effektvollste Form, den Fetisch Religion zu ruinieren, ist, selber eine zu gründen.

In Ihrem Buch Die Kritik der zynischen Vernunft kritisieren Sie das westliche Ich-Denken, das Jacques Lacan als „die Geisteskrankheit des Westens“ bezeichnete.

Ich bin nicht sicher, ob ich das heute noch in derselben Weise sagen würde. Ich höre in dieser Art von Ich-Kritik, die von Augustinus bis Lacan reicht, doch immer wieder nur das katholische Gemeckere gegen den sündhaften Stolz des Menschen heraus, und mir scheint das kein fruchtbarer Ansatz mehr zu sein. Es ist die gute alte Anti-Egoismus-Propaganda, die zu allen klerikokratischen Systemen (Priesterherrschaften) gehört. Klerikokratie beruht darauf, dass man die Menschen als Egoisten diagnostiziert und vorgibt, ihnen bei der Überwindung dieser tödlichen Krankheit zu helfen. Das Ego ist aber nicht die Krankheit des Westens, es ist die Krankheit von Menschen in klerikokratischen Systemen. Die Psychoanalyse französischen Typs war hoffentlich die vorerst aktuellste Zuspitzung dieser Tradition. Lacans Psychoanalyse verkörperte in gewisser Weise den Versuch, die Psychoanalyse von ihren jüdischen Tönungen abzulösen und sie in katholische Resonanzen zu übersetzen. Der gemeinsame Nenner hier wie dort ist der Patrozentrismus, eine inzwischen sozialgeschichtlich und psychohistorisch überholte Figur, die das Judentum, das katholische Christentum und die Wiener und Pariser Psychoanalyse gemeinsam hatten und die sie gemeinsam restaurieren möchten. Der junge Lacan stand bekanntlich der Action Française nahe, und der Mensch, dem er sich zeitlebens am nächsten fühlte, war sein Bruder, ein Trappistenmönch. Er kam aus einem rechtsradikalen Umfeld, in dem an einem Katholizismus ohne Gott, einem atheistisch-katholischen Law-and-Order-Syndrom gebastelt wurde: Gott ist tot, aber die Ordnungsstrukturen, die er geschaffen hat, die lassen wir uns nicht nehmen – aus ihnen wird eines Tages das vielzitierte Symbolische. Kurzum, der Hinweis auf das Ich als Krankheit des Westens führt uns nicht weiter. Man bleibt damit in dieser 2000-jährigen Klerikokratie gefangen, in der man den Menschen als Sünder oder Neurotiker a priori behandelt.

Wie steht es um das Verhältnis der Philosophie zum Zeitgeist? Geht es in der Philosophie nicht ganz im hegelschen Sinne darum, ihre eigene Zeit auf den Begriff zu bringen?

Ich würde jedenfalls nicht sagen, dass es eine immer gleichbleibende Aufgabe der Philosophie gibt, sie muss sich ihre Aufgaben in jeder Generation von neuem suchen. Was die Philosophie als Lebensform angeht, so betrifft sie seit jeher nur die Einzelnen und hat folglich keine andere Mission als die, die Individuen in ihr Optimum zu bringen. Nach der politischen Seite hin ist ihre beratende Funktion virulenter denn je. Was mir vorschwebt, ist ein Forum für Philosophie als zivilisatorisches Pädagogicum. Sie muss die Rolle einer Moderatorin im Übergang zur Weltkultur spielen lernen, ausgehend von der Einsicht, dass es keinen Zusammenstoß der Zivilisationen gibt, sondern den Zusammenstoß der lokalen Kulturen mit dem Zivilisationsprozess.

Welche Bedeutung hat das Scheitern für die Philosophie? Ist die Philosophie nur die Kunst des gekonnten Scheiterns?

So weit sollte man doch nicht gehen. Immerhin, es gab in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich eine philosophisch betreute Kunst des Scheiterns. Das hat damit zu tun, dass die Deutschen den Existenzialismus lange vor den Franzosen entwickelt hatten, während die Franzosen ihn erst unter der deutschen Okkupation kopierten. Die Unterschiede sind erheblich: Die Deutschen waren seit jeher Trotz-Existenzialisten mit anthropologischen Interessen, die Franzosen hingegen wurden Widerstands-Existenzialisten mit politischem Fokus. Die Franzosen haben von unserem Existenzialismus, nach welchem am Anfang die Behinderung war, nur das Moment des politischen Widerstands herausgefiltert, ohne zu merken, dass hinter dem Konzept „résistance“ das viel breiter angelegte heroische „Trotzdem“ stand. Darüber habe ich einen größeren Aufsatz geschrieben, dessen Thema mich mit sehr anregenden Umkehrungen gewohnter Fragestellungen vertraut gemacht hat. Ich habe einen seltsamen Autor aus den 20er, 30er Jahren ausgegraben, einen Nietzscheaner namens Hans Würtz, den Vordenker der deutschen staatlichen Krüppelpädagogik und Pionier einer neuen Disziplin, die man geradewegs die Krüppelanthropologie nannte. Bei ihm kann man sehen, was aus Nietzsches Denken wird, wenn man es in einem Behindertenheim zu Berlin jeden Tag auf die Probe stellt. Hier wurde erst klar, was das Theorem vom Leben als Wille bedeuten kann. In Deutschland gab es nach dem Ersten Weltkrieg 2,7 Millionen Kriegskrüppel, Einarmer, Einbeiner, Kopfverletzte, eine Enzyklopädie unvorstellbarer Dramen. Behinderung war damals das Epochenthema – und wenn Freud seinerzeit vom Menschen als Prothesengott sprach, griff er das Bonmot aus dem Zeitgeist auf. Auch Würtz hat damals Morgenluft gewittert und geglaubt, der Krüppel sei der neue Mensch, ja vom Krüppel her müsse man die ganze Menschheitsfrage neu denken. Er blätterte in den Archiven und fand heraus, dass alle interessanten Menschen aller Zeiten Krüppel waren: Cäsar, Paulus, Michelangelo, Ignatius von Loyola, Lord Byron, Nietzsche, das ganze Who is who der Weltkultur. Würtz wurde 1933 eliminiert, weil er in seinem Hauptwerk Zerbrecht die Ketten von 1932 die schlechte Idee gehabt hatte, Joseph Goebbels zweimal zu erwähnen – einmal in der Nationenliste und einmal in der Funktionen- oder Berufsspartenliste. Mit dieser Art von wissenschaftlicher Objektivität konnte Goebbels nicht viel anfangen. Mir fiel es bei der Lektüre dieses verschollenen Werks wie Schuppen von den Augen: Alle wesentlichen Autoren der philosophischen Anthropologie haben damals angefangen, den Behinderten als Paradigma des Menschen darzustellen, Louis Bolk, Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, selbst Sigmund Freud, wie gesehen. Und hat nicht auch die zeitgenössische Biologie diese Lesart bestätigt? Der Mensch ist von Natur aus eine Missgeburt, weil er eine chronische Frühgeburt darstellt. Nur Krüppel werden überleben.

Solche biologischen Fragen spielten auch in Ihrer sogenannten Elmauer Rede eine Rolle.

Darüber brauchen wir nicht lange reden. Mein 2009 erschienenes Buch trägt den Titel Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Darin werden die Fragen, die mich in der Menschenpark-Rede beschäftigt haben, auf indirekte Weise noch einmal aufgerollt. Diesmal aber gehe ich der Frage, wie der Mensch den Menschen erzeugt, viel radikaler auf den Grund. Die Antwort wird heißen: Er erzeugt sich im Wesentlichen durch Übungen, durch Askesen, durch Training und durch akrobatische Überspannungen. In diesem Buch wird nur sehr wenig von Gentechnik die Rede sein, umso mehr von Meditation, von religiös codierten Übungsexzessen, von Kapitalismus als Anthropotechnik und von der Disziplin großer Künstler.

Der Zeitgeist gibt den Philosophen im Augenblick sehr viele ermutigende Signale. In Frankreich gibt es in jeder Stadt philosophische Cafés. In Italien blühen in einer Reihe von Städten, in Udine, in Modena, in Neapel, in Rom und so weiter große Philosophiefestivals auf, manchmal mit Zehntausenden von Besuchern. Da kann man erleben, wie mehrere tausend Menschen auf einem Platz unter freiem Himmel sitzen und einem Vortragenden zuhören. Für jeden Philosophen ist das eine Erfahrung, die er machen sollte. Wenn man in einem kleinen Hörsaal voller Kollegen spricht, hat man das Recht, sie bis zum Umfallen zu langweilen. Aber vor zwei- oder dreitausend Menschen – da fragt man sich unwillkürlich: Ist meine Rede es wert, dass so viele Leute eine Stunde in der glühenden Sonne sitzen? Ganz offensichtlich wollen die Leute zurück zur Philosophie. Sie wollen etwas hören, was ihnen zu denken gibt. Die Akademiker ihrerseits müssten nur besser auf das hören, was ihnen von dieser Seite zugerufen wird. Damit fallen viele Scheinkonflikte an der Front zwischen Philosophie und Rhetorik beiseite, auch solche, die gelegentlich im Umfeld meiner Arbeit auftraten.

JÜRGEN MITTELSTRASS

Wer will bezweifeln, dass die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen?

Bei einer Straßenumfrage haben wir Passanten gefragt, was sie unter Wahrheit verstehen. Was antwortet uns der Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß ganz spontan auf diese Frage?

Wahrheit ist der Wunsch aller Philosophen. Das heißt, Wahrheit ist das, was in einem theoretischen Zusammenhang in dem Sinne wahr ist, dass es ein Stück Wirklichkeit angemessen wiedergibt. Zugleich ist es etwas, das sich im Dialog, gegenüber Einsprüchen und konstruktiver Kritik bewährt.

Folglich existiert für Sie so etwas wie eine Wirklichkeit. Vertreten Sie eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, derzufolge Wahrheit ein Maß für die Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit ist?

Nein. Ich will nicht bezweifeln, dass es eine Wirklichkeit gibt, aber der Begriff der Wirklichkeit im Zusammenhang mit Wahrheitstheorien hat seine besonderen Schwierigkeiten. Allzu leicht ergibt sich im Sinne einer solchen Korrespondenztheorie der Wahrheit die Vorstellung, es gäbe auf der einen Seite so etwas wie die Wirklichkeit, auf der anderen Seite unsere Welt der Worte. Wahrheit in der Welt der Worte wäre dann die spiegelbildliche Abbildung der Wirklichkeit. So einfach ist es eben nicht. Wir müssten dann einen direkten, nichtsprachlichen Zugang zu dieser Wirklichkeit haben. Und einen derartigen Zugang haben wir nicht, weil wir immer schon von Wirklichkeit als einer gegliederten, unterschiedenen, damit auch sprachlich gegliederten und sprachlich unterschiedenen Wirklichkeit sprechen.

Ist Wahrheit demnach etwas Relatives?

Nein, das ist damit nicht gesagt. Relativ vielleicht nur insofern, als es „die“ Wirklichkeit als „die“ Instanz, die über wahr und falsch entscheidet, nicht gibt. Die Behauptung, dass die Wahrheit relativ sei, ist eine Behauptung, die sehr viel weiter geht, sie besagt, dass sich Geltungsansprüche – Wahrheitsansprüche sind Geltungsansprüche – nie einlösen lassen. Das meine ich nicht. Innerhalb eines bestimmten theoretischen Rahmens ist Wahrheit nicht relativ.

Sind Sie Konstruktivist?

Ich komme aus einer Schule, die als „Erlanger Schule“ bezeichnet wurde und die sich als Konstruktivismus bezeichnet. In der Tat verstehe ich mich als Konstruktivist – aber nicht im Sinne des sogenannten radikalen Konstruktivismus, der die Wirklichkeit in reine Konstruktionen auflöst und dabei biologistisch argumentiert. Wir konstruieren immer schon in einer bestimmten Wirklichkeit und in eine bestimmte Wirklichkeit hinein. Ohne eine solche Wirklichkeit, die immer eine praxisbezogene, handlungsbezogene ist, machen alle diese Konstruktionen keinen Sinn. Das bedeutet, dass sich der radikale Konstruktivismus gewissermaßen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen sucht.

Was genau verstehen Sie unter „konstruieren“?

Sagen wir es einmal so: Der Konstruktivismus geht davon aus, dass wir unsere Unterscheidungen, damit auch unsere Theorien, nicht an einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit ablesen können. Die Wirklichkeit sagt nicht von sich aus, wie sie ist. Unser Bild der Wirklichkeit ist immer ein solches, in das unsere gliedernden und unterscheidenden Aktivitäten Eingang gefunden haben. Insofern bewegen wir uns in einer teils unabhängig von uns existierenden, teils durch unsere Unterscheidungen und Begrifflichkeiten gegliederten Welt. Wer will bezweifeln, dass die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen? Doch fein säuberlich zu unterscheiden „Hier ist die Welt, wie sie ist!“ und „Hier ist die Welt, wie wir sie gegliedert haben!“ geht nicht. Das ist in der Tat ein konstruktivistisches Credo.

Schließt dieses Credo aus, dass wir der „Wirklichkeit“ zumindest partiell „näher“ kommen können?

Dieses Bild würde ich nicht verwenden. Hinter ihm steht immer noch die Vorstellung, es gäbe eine „Welt wie sie ist“ und wir könnten in einem beharrlichen Versuch uns dieser Wirklichkeit immer weiter nähern. Das ist eine Vorstellung, die merkwürdigerweise von Popper vertreten wurde, obwohl er eigentlich eine Philosophie vertritt, die diese Vorstellung von Wirklichkeit oder Wahrheit nicht mehr zulässt. Gleichwohl spricht er von einer allmählichen Annäherung oder doch dem Versuch einer Annäherung an die Wahrheit. So würde man im Konstruktivismus nicht sprechen und so möchte auch ich nicht reden. An dieser Stelle möchte ich vorschlagen, von mehr oder weniger angemessenen und unangemessenen Unterscheidungen zu sprechen. Denn darüber kann kein Zweifel bestehen, dass unsere Unterscheidungen einmal, wie wir so schön sagen, sitzen und einmal nicht, dass sie sich in diesem Falle als unzweckmäßig erweisen, nicht nur weil wir auf diese Weise, wie wir sagen, ein Stück Wirklichkeit nur unzureichend erkennen, sondern auch, weil wir mit unseren eigenen Orientierungen nicht mehr zu Rande kommen. Einen Prozess, der – möglicherweise auch kontinuierlichen – Verbesserung von Unterscheidungen gibt es, aber diesen Prozess sollte man nicht belasten mit der zusätzlichen Annahme, dass dieser ein Prozess der allmählichen Annäherung an die Wahrheit ist. Damit formuliert man Ansprüche, die einzulösen ohne Rekurs auf eine Wirklichkeit, wie sie an sich ist, unmöglich ist.

Andererseits kann, wie Sie sagten, keiner daran zweifeln, dass draußen die Hasen auch ohne uns herumspringen. Gibt es möglicherweise eine nichtwissenschaftliche und eine wissenschaftliche Wirklichkeit?

Ja. Nur dass das keine Wirklichkeiten sind, die irgendwo fix und fertig dastehen. Wir gehen nicht von der einen in die andere, sondern in unserem eigenen Tun, auch in unserem kooperativen Tun, erzeugen wir diese Wirklichkeiten. Wenn Sie die Universität betreten, um dort zu studieren oder zu lehren, bewegen Sie sich zweifellos in einer anderen Wirklichkeit als wenn Sie nach Hause gehen, in die Arme Ihrer Familie zurückkehren, abends am Stammtisch sitzen oder auf den Sportplatz gehen. Das sind unterschiedliche Wirklichkeiten, aber doch solche, die durch unser Tun ständig miteinander verbunden werden – durch dieses Tun werden sie eigentlich erst erzeugt. Die Vorstellung des Konstruktivismus ist die, dass auch die Wissenschaft, unser theoretisches Sprechen eine Art unseres lebensweltlichen Sprechens ist. Es ist eines der Programme des Konstruktivismus, die sprachliche Praxis so zu reorganisieren, dass bestimmte Schwierigkeiten, die dann auch als sprachliche Schwierigkeiten erkennbar sind, nicht mehr auftreten; das heißt, dass jene so gar nicht verständliche Trennung der „Welt der Wissenschaftler“ und der Welt, in der wir alle leben, auch wenn wir nicht Wissenschaftler sind, wieder aufgehoben wird.

Eine andere Frage ist die, ob man sich Lebensweltformen vorstellen kann, die diese Verlängerung in die Wissenschaft, in die Welt der Theorien nicht finden oder nicht finden können. Lebensweltformen also, die die europäische Rationalität und Wissenschaft nicht zulassen. Allerdings liegt es mir näher, nicht der Frage nachzugehen, wie die Welt denn auch noch hätte aussehen können, wenn der europäische Geist nicht tätig geworden wäre, sondern mit einer Welt fertig zu werden, in der der europäische Geist tätig ist.

Wäre „Interpretation der Wirklichkeit“ für das, was Sie unter Konstruktivismus verstehen, eine angemessene Umschreibung?

In der Tendenz ja. Andererseits ist mir die Theorie der Interpretation oder wie immer man eine entsprechende Richtung bezeichnen möchte, etwas pointiert formuliert, zu hermeneutisch, soll heißen, noch zu sehr an der Vorstellung orientiert, dass es Dinge, wie sie sind oder wie wir sie sehen, zu verstehen gilt. Für mich suggerieren die Begriffe der Interpretation und des Verstehens einen Zusammenhang, der für die Geisteswissenschaften konstitutiv ist, aber schon für andere wissenschaftliche Bereiche eigentümlich zu kurz greift.

Sie haben von Rationalität gesprochen. Heißt das Begründung von irgendwelchen Aussagen mittels rationaler Verfahren?

Es ist natürlich schwer, in wenigen Worten jetzt so etwas wie Rationalität definieren zu wollen. Man wird mehr oder weniger einschlägige Merkmale benennen wollen, und so möchte ich das auch tun. Ich will als rational oder als eine rationale Position eine solche bezeichnen, die Geltungsansprüche formuliert und deren Einlösung nicht nach außen abgibt. Die Bemühung um Rationalität bedeutet, sehr genau zu unterscheiden, seine Behauptungen sehr genau zu wägen, jederzeit bereit zu sein, die mit diesen Behauptungen formulierten Geltungsansprüche einzulösen, all dies nicht abzugeben an Instanzen, die entweder vorgeben, dies zu leisten, oder von denen man erwartet, dass sie dies leisten. Gegensatz wäre also eine mythische oder fundamentalistische Welt, in der uns entsprechende Bemühungen von überweltlichen Mächten abgenommen werden. Hier vertrete ich die Idee der europäischen Aufklärung.

Die Frage nach der Rationalität ist auch eine Frage nach der Begründung. Wann ist eine wissenschaftliche Begründung wirklich begründet?

Es ist ein Unterschied, ob Sie einen mathematischen Satz begründen oder beweisen, oder ob Sie eine gesellschaftstheoretische Hypothese begründen. Man wird in einem allgemeinen Sinne sagen können, dass wir von „Begründung“ und „begründet“ genau dann sprechen, wenn die offensichtlichen Geltungsansprüche eingelöst sind und keine Alternative aufgetreten ist, die auf eine andere Weise das leistet, was Theorien oder Sätze, die als begründet gelten, leisten. Eine Begründung ist in diesem Sinne auch nie definitiv abgeschlossen im Sinne von letztbegründet. Dies wäre von vornherein dogmatisch. Ich selbst halte nur einen Begründungsanspruch für vertretbar, in dem Exklusivität nicht mitbehauptet wird, Exklusivität in dem Sinne, dass es zu einer gegebenen Begründung keine Alternativen gäbe. Allerdings – und das ist etwas, was immer hinzugefügt werden muss –, das, was dann konkurrierend auftritt, muss mindestens ebenso gut begründet sein und sich als begründet ausweisen können wie der Versuch, gegen den es sich wendet. Mit dem bloßen Hinweis, es gibt ja keine absoluten oder Letztbegründungen, wäre jede Begründung gleich gut – und das ist keine Alternative.

Gibt es demnach auch keine absoluten Normen?

Wenn wir von absoluten Begründungen sprechen, dann meinen wir, ein Sachverhalt sei ein für allemal in einer bestimmten Weise erklärt, der entsprechende Satz oder die entsprechende Theorie begründet, und dazu gäbe es keine Alternativen. Das ist problematisch. Die Rede von absoluten Normen liegt noch einmal auf einer anderen Ebene, allein schon, weil die Rede von Begründungen bei Normen ihre besonderen Schwierigkeiten hat. Aber selbst da, meine ich, sollte man nicht so zimperlich sein. Es ist die Frage, was man als eine absolute Norm bezeichnet. Wenn man den kategorischen Imperativ oder die Menschenrechte als absolute Normen bezeichnet, dann hätte ich nichts gegen den Begriff der absoluten Norm. Die Bezeichnung „absolute Norm“ wird nur dann problematisch, wenn damit Inhaltliches gemeint ist. Solange wir es mit formalen Normen zu tun haben, und das ist ja beim kategorischen Imperativ der Fall, bringt uns auch die Bezeichnung „absolut“ in keine Schwierigkeiten.

Aber den Europäern wird doch vorgeworfen, dass gerade in den „Menschenrechten“ Werte schon implizit enthalten sind.

Das ist wahr. Insofern habe ich auch ein wenig gezögert, als ich dieses zweite Beispiel nannte. Es kommt sehr darauf an, was man mit Menschenrechten alles meint. Wenn das bis in den pädagogisch-schulischen Bereich geht, etwa im Sinne von Recht auf Bildung, Recht auf Erziehung, nein. Wenn Sie die Rede von Menschenrechten aber zunächst einmal einschränken, etwa auf den Begriff der autonomen Person, dann meine ich, sind auch solche Einsprüche leicht zu ertragen.

Dies ist natürlich abhängig vom Menschenbild.

Naja, aber sehen Sie, wollen wir wieder ein Menschenbild zur Diskussion stellen, das es dem Einzelnen überlässt, sich in der Alternative von Herr und Knecht zu orientieren? Ich möchte das nicht empfehlen.

Letztlich gelangt man immer wieder bei ethischen Glaubenssätzen an, die wiederum einer Begründung bedürfen.

Sie haben Philosophie einmal als „Theorie der Begründung“ bezeichnet. Erschöpft sich Philosophie in der Aufgabe der Rechtfertigung von Zwecken und Zielen – oder wird „in Form von Wissenschaftstheorie Wissenschaft philosophisch und Philosophie wissenschaftlich“?

Das war damals der Konstruktivismus auf die Spitze getrieben. Ich erinnere mich sehr wohl an diese Formulierung. Da habe ich, was ich gerne auch heute noch tue, bewusst pointiert formuliert. Mittlerweile glaube ich – vielleicht ist das jetzt mein höheres Alter, das mich dazu führt –, dass sich die Philosophie in solchen Definitionen und näheren Bestimmungen nicht erschöpft. So würde ich es denn auch heute wahrscheinlich nicht mehr sagen. Allerdings: An einem möchte ich gerne festhalten – und das besagt ja auch das Zitat, das Sie eben anführten: Ich sähe es gerne, wenn die akademische Philosophie an der Universität wieder näher an die Probleme auch der anderen Disziplinen herangerückt würde und wenn die anderen Disziplinen, die bisher sozusagen einen gepflegten Positivismus ausgebildet haben, wieder philosophischer würden. Denn ihre weitgehende Wirkungslosigkeit hat die Philosophie zum Teil selbst zu vertreten, insofern sie sich in eigentümlicher Vornehmheit aus dem Alltag der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – nicht immer, aber häufig – herausgezogen hat. Die Philosophie muss sich wieder stärker involvieren lassen oder sich stärker einmischen in das Alltagsgeschäft der Universität, der Wissenschaft, ja, und auch der Gesellschaft.

Ist es denn nicht gerade das Gegenteil von Einmischung, wenn Sie in einer Diskussion auf die Frage, ob wir es nicht nach Goethe so halten sollten, dass wir das Erforschliche erforschen und – aus ethischen Gründen – das Unerforschliche unerforscht lassen sollten, antworteten, dass, wer nicht das Unerforschliche zumindest probiere, beim Erforschlichen Durchschnitt bleibe?

Lassen Sie mich weiter ausholen und sagen: Wenn wir denn schon so genau wüssten, wo die Grenze zwischen dem Erforschbaren und dem Unerforschbaren läge, dann wären wir an dieser Stelle sehr viel klüger. Aber genau das wissen wir ja nicht. Und jede Entscheidung oder jede Behauptung, man wüsste das schon, jeder Versuch, eine solche Grenze definitiv zu ziehen, ist – mindestens dies! – dogmatisch. Das heißt, wir haben, ob wir das nun begrüßen oder nicht, nicht die Möglichkeit, viele unserer Probleme dadurch loszuwerden, dass wir sagen: Hier ist das Erforschbare, und hier haben wir sozusagen freie Wahl, dort ist das Nichterforschbare, und da gehen wir nicht hin, das steht auch nicht zur Disposition und da halten wir uns raus. So ist die Welt nicht. Schon gar nicht so dualistisch. Das eigentliche Problem liegt eben genau darin, immer wieder aufs Neue eine solche Linie zu ziehen – warum nicht? Es wird sich dabei auch herausstellen, dass es sich da um keine festen Linien handelt und dass es die Forschung selber ist, die alle gezogenen Linien immer wieder übersteigt.

Das heißt, provokant auf einen Nenner gebracht: Die Forscher, zum Beispiel die Gentechniker, forschen und zeigen dadurch die Problematik des Ganzen auf, ohne jegliche Kontrolle?

Nein, das wollte ich damit nicht gesagt haben. Meine Vorstellung ist eher die, dass wir uns sehr wohl, und vielleicht sehr viel stärker, als das früher der Fall war, in unserem Forschen und Tun, für das wir mit Recht Freiheit reklamieren, immer wieder die Frage stellen, ob, unter anderem aus schlicht forschungssystematischen Gesichtspunkten, das, was wir da tun – noch einmal: Wissenschaft ist Tun! –, nicht Grenzen ganz anderer Art überschreitet, nämlich ethische Grenzen. Das heißt konkret gesprochen, ob zum Beispiel Forschung an Embryonen, insbesondere dann, wenn diese auch noch eigens zu Forschungszwecken hergestellt werden, nun aus anderen als wissenschaftssystematischen Gründen vielleicht doch verboten sein sollte, weil wir nämlich Grenzen verletzen, die keine Forschungsgrenzen sind, sondern ethische Grenzen.

Aber wer definiert diese ethischen Grenzen?

Wenn wir so etwas hätten wie eine allgemeingültige Ethik oder eine göttliche Ethik, dann wäre diese Frage einfach zu beantworten. Wir haben sie nicht. Ethik ist auch kein Lehrbuchwissen, das wir irgendwo in einem entsprechenden Buch nachschlagen könnten.

Die Welt wäre sicherlich einfacher, wenn sich auch in unserem Tun, auch in unserem wissenschaftlichen Tun, irgendwelche Gesetzmäßigkeiten einfach durchsetzten, keine normativen Spielräume mehr gegeben wären. Aber was wäre das für eine komische Welt? In dieser Welt müsste sich ja der Mensch als ein verantwortungsvolles, rationales Wesen selber verabschieden. Also lieber diese Kontingenz, lieber diese Spielräume, lieber die Möglichkeit zu scheitern und sich zu irren, als in einer Welt zu leben, in der Naturgesetzmäßigkeiten auch die Welt unseres Tuns bestimmen.

Wir müssen uns auch in ethischen Dingen immer wieder aufs Neue des begründeten Charakters unserer ethischen Beurteilungen vergewissern. Auch die Ethik ist in diesem Sinne nichts Statisches, auch wenn das häufig, zumal in eher traditionellen oder konservativen Kreisen, so formuliert wird. Vielleicht müssen wir den erforderlichen ethischen Sachverstand, zu dem auch, aber keineswegs allein, der philosophische Sachverstand gehört, mehr üben.

Haben Sie konkrete Vorstellungen, in welchem institutionellen Rahmen so etwas zum Beispiel in der Universität geschehen könnte?

Nun ja, keine sehr ausgearbeiteten Vorstellungen. Aber doch die, dass wir wahrscheinlich gut daran täten, im Prozess des Lehrens, Lernens und Forschens – also an einer Universität, wo wir den wissenschaftlichen Nachwuchs ausbilden – diese Dinge zu berücksichtigen. Wenn wir weiterhin so ausbilden, wie das früher einmal der Fall war, dass nämlich solche Fragestellungen im Zuge der Ausbildung überhaupt nicht auftreten, dann müssen wir uns auch nicht wundern, wenn wir auf diese Weise Wissenschaftler erzeugen, die später schlicht unfähig sind, in ethisch relevanten Situationen auch nur halbwegs rational zu agieren. Meine erste Empfehlung wäre deshalb, in die Ausbildung an den Universitäten, dort wo diese Ausbildung selbst forschungsbezogen ist, solche Fragestellungen stärker einzubeziehen. Wenn es uns nicht gelingt, Wissenschaftler so auszubilden, dass diese von vorneherein ein Gefühl dafür, ein Bewusstsein davon haben, dass ihr Tun auch eine ethisch relevante Seite hat, dann werden wir das auch durch irgendwelche Institutionen, die wir nachträglich erfinden, nicht kompensieren können. Womit ich nicht sagen will, dass solche Institutionen, die wir gewissermaßen nachträglich erfinden, keinen Sinn haben, wie etwa Ethikkommissionen in der Medizin. Die scheinen ja ganz gut zu funktionieren, und die werden mittlerweile auch akzeptiert. Sie will ich auch gar nicht brotlos machen; aber wir sollten die Ausbildung des wissenschaftlichen Subjekts nicht nur in Richtung Forschung, sondern auch in Richtung Ethik verbessern.

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9783650729927
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