Читать книгу: «Karriere oder Jakobsweg?», страница 4

Шрифт:

Um 19 Uhr war eine Pilgermesse in der Stiftskirche angesetzt, die wir auf keinen Fall verpassen wollten. Auf dem Weg dorthin sahen wir auf einmal den verunglückten Franzosen wieder. Er stand inmitten weiterer Franzosen, er stand! Wir blieben stehen und fragten ihn, wie es ihm gehe. Leider verstand er kein Englisch und mit meinem längst verschütteten Französisch konnte ich nichts ausrichten. Ein anderer Franzose übersetzte für uns ins Englische: Nachdem das Gitter auseinandergesägt worden war, war er schnellstmöglich transportiert worden. Gott sei Dank hatte er aber nur eine tiefere Fleischwunde am Unterschenkel und eine Zerrung und Prellung des Knies erlitten. Er wollte am nächsten Morgen auf jeden Fall weiterlaufen. Seiner eigenen Unachtsamkeit habe er diese missliche Lage zu verdanken gehabt. Beim Fotografieren des Rolandsbrunnens sei er rückwärtsgegangen und er habe nicht darauf geachtet, was hinter ihm gewesen sei. Jacques, so sein Name, sahen wir noch oft beim Fotografieren. Seine Kamera hatte er immer griffbereit, schnell noch ein Foto im Vorbeilaufen, so war er uns, ein vertrautes Bild auf dem Camino. Wir freuten uns mit ihm über diesen glimpflichen Ausgang.

Das Läuten der Glocken zeigte den Beginn der Messe an, wir fanden einen Platz mit guter Sicht auf den Altarraum. Um uns herum wurde es voller und voller, viele Pilger mussten stehen. Obwohl die Messe auf Spanisch gehalten wurde, waren mir die Abläufe sehr vertraut, es war eine katholische Messe. Wie so oft hatte ich das Gefühl nach Hause zu kommen, gepaart mit einer starken Sehnsucht nach etwas, was tief in mir verborgen war. Auch hier in dieser wunderschönen Stiftskirche spürte ich, wie so oft in Kirchen, ein Weinen in mir hochsteigen. Tränen schossen mir in die Augen und ich drückte Gu’s Hand ganz fest. Es hatte nichts mit Traurigkeit zu tun, sondern es war eher das Empfinden, Teil eines großen Ganzen zu sein. Gott war bei uns, in uns und um uns herum, dessen war ich mir sicher. Vor der Kommunion bat der Priester, auch in Englisch, sehr eindringlich darum, dass die heilige Kommunion nur von den katholischen Pilgern entgegengenommen werden sollte. Denn nur wir Katholiken würden daran glauben, beim Abendmahl mit der Hostie tatsächlich den Leib Christi zu uns zu nehmen, nicht sinnbildlich wie in den anderen Religionen. Gu als evangelischer Christ ging dennoch mit nach vorne. Seine Einstellung, dass jeder Christ dies für sich selbst entscheiden muss und nicht seine jeweilige Konfession mit ihren entsprechenden Glaubenssätzen entscheidend ist, kann ich gut nachvollziehen. Man entwickelt sich als Mensch auch in seiner Religion weiter. Es muss möglich sein, Einzelnes durchaus in Frage stellen zu können oder aber eine andere Haltung in bestimmten Punkten für sich einnehmen zu dürfen, ohne dass man gleich in eine Ecke gedrückt wird. Es ist nicht notwendig, sofort die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen oder zu meinen, ein gesamtes Glaubenssystem würde dadurch in Frage gestellt. Am Ende der feierlichen Zeremonie bekamen wir alle den Pilgersegen, um wohlbehalten das Grab des heiligen Jakobus zu erreichen. Es war faszinierend zu hören, woher die Pilger kamen: Australien, Kanada, Brasilien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen, Italien, Schweiz, Österreich, Niederlande, Belgien, … Nicht in alle Sprachen, aber doch in einige, auch in Deutsch, wurde er übersetzt. Es war erhebend, ein großartiger Moment.

Danach war Essenszeit, obwohl wir das bocadillo schon verspeist hatten, knurrten unsere Mägen schon wieder. Das Essen in der Jugendherberge war reichlich und lecker. An diesem Abend war Hans-Jakob unser Tischnachbar. Er erzählte, dass er katholischer Theologe sei. Bereits zum zweiten Mal war er unterwegs, wollte aber diesmal eine größere Wanderstrecke zurücklegen. Wir hatten eine gute und sehr interessante Unterhaltung. Die Themen kreisten um die katholische Kirche, den alten und den neuen Papst sowie die Entwicklung des Glaubens in Deutschland. Irgendwann überfiel uns alle die Müdigkeit, und auch die Angestellten der Jugendherberge wurden langsam ungeduldig, sodass wir unseren ersten Abend nach dem ersten Wandertag beendeten. Der Schlaf in dieser Nacht war trotz des Schnarchens von Gu – Ohropax sei Dank – und der zeitweise einsetzenden Muskelkrämpfe, erholsam und sehr, sehr wohltuend.

2. Pilgertag, Mittwoch, 24. Mai 2006
Roncesvalles – Larrasoana

Um 7 Uhr waren wir losgelaufen, wir wollten in den Tag hineinlaufen und die Morgensonne in ihrem ersten Licht genießen. Außerdem hatten wir uns vorgenommen, im ersten Dorf, in Auritz-Burguete, zu frühstücken. Nach einer guten halben Stunde erreichten wir das Dorf, schon von Weitem konnte man den Duft von Croissants riechen. Im Café saßen, trotz der frühen Stunde, schon einige Pilger. Wir hatten also nicht allein diese Idee gehabt. Ein paar Gesichter erkannten wir wieder, auch unser verunglückter Franzose gehörte zu den Frühaufstehern. Wir schlürften den café con leche mit wohligem Behagen und bissen herzhaft in unser bocadillo. Obwohl einige der anderen Pilger nach einem kurzen Espresso schon wieder den Rucksack schulterten, bestellten wir in aller Ruhe einen zweiten cafe con leche. Gut gestärkt zogen wir nach einer halben Stunde weiter. Was dann auf uns wartete, war sensationell: Dichte Wälder, Wiesen mit grasenden Kühen und viele schöne kleine Pyrenäendörfer lagen an unserem Weg. Die Landschaft geizte nicht mit ihren Reizen. Buchen, Eichen, Rotdorn, Haselnusssträucher, Ginster, Heide, ein wahrer Farbenrausch breitete sich vor uns aus. Licht und Schatten wechselten sich ab. Wir liefen über Wege, die sich durch Weiden schlängelten, um dann wieder in einem dichten Wald abzutauchen, oder aber die Sonne brach sich durch die Baumwipfel ihren Weg und berührte uns mit ihren Strahlen. Schmetterlinge, vor allem Pfauenaugen und Zitronenfalter, flatterten ständig um uns herum. Die Vögel zwitscherten um die Wette; es war ein perfekter Wandermorgen. In mir war eine große Dankbarkeit. Auch meine Rückenschmerzen waren kaum noch zu spüren.

Irgendwann auf dem Weg, noch vor Zubiri, passierten wir eine Gedenktafel für einen japanischen Pilger, der 64 Jahre alt geworden war. Er war anscheinend an dieser Stelle gestorben. Um die Gedenktafel herum lagen viele kleine Steine aufgetürmt, Bänder wehten leicht im Wind. Andere Pilger hatten offensichtlich Zeichen der Anteilnahme hinterlassen. Wir waren geschockt und traurig. War er allein gestorben, starb er an Erschöpfung, wer hatte die Tafel aufgestellt? Keine unserer Fragen wurde beantwortet. Wir sprachen ein kurzes Gebet für den uns unbekannten Pilger und verließen dann die Lichtung. Wir versprachen uns gegenseitig, nie leichtsinnig zu sein und den eigenen erschöpften Körper immer ernst zu nehmen. Dies musste ich Gu vor allem für die Zeit versprechen, in der ich allein unterwegs sein würde.


Irgendwo in der ländlichen Idylle zwischen Zubiri und Larrasoana (Foto: Hans-Jakob Weinz)

Wir sahen unsere bekannten Weggefährten immer mal wieder, andere nahmen wir zum ersten Mal wahr. Die verschiedenen Menschen auf dem Weg zu betrachten, sich bei dem kurzen Aufeinandertreffen mit ihnen zu beschäftigen, war ein interessanter Aspekt, meine Wahrnehmungen zu lenken. Spekulation und Wirklichkeit, inwieweit waren sie deckungsgleich?


Picknick am Rio Arga in der Mittagssonne (Foto Sabine Dankbar)

In Zubiri überquerten wir den Rio Arga. Als wir über die Brücke Punte de la Rabia kamen, lag vor uns ein idyllisch gelegenes Plätzchen direkt am Fluss. Wir wollten es einigen anderen Pilgern gleichtun, die, bereits in der Mittagssonne sitzend, picknickten und sich vom Wandern ausruhten. Während Gu in das Dorf ging, um Brot, Käse, Schinken und Tomaten zu kaufen, suchte ich ein besonders schönes Plätzchen für uns aus. Ich rollte unsere Isomatten aus, platzierte die Rucksäcke als Rückenstütze und beobachtete das Treiben um mich herum. Ein Einheimischer stand mitten im Fluss und angelte, einige Kinder spielten in Ufernähe. Ein älterer Pilger machte im Schatten eines Baumes Entspannungsübungen und ich ließ mir wohlig die Sonne auf den Bauch scheinen. Die Sonne hatte so viel Kraft entwickelt, dass wir Hosenbeine und Shirtärmel aufrollten beziehungsweise abzippten. Unser einfaches Mittagsmahl schmeckte lecker. Gu grinste mich an und meinte nur: »Mit so wenig kann man so glücklich sein.« Ich konnte ihm nur beipflichten. Mittlerweile hatten sich auch Theo und Bert in unsere Nähe gesellt. Irgendwie war es schön, immer wieder auf bekannte Personen zu treffen. Wie fast alle Niederländer konnten die beiden hervorragend Deutsch, sodass wir ein wenig ins Plaudern kamen. Wie Gu wollten sie nur bis Burgos gehen, im August wollten sie den Rest des Weges bis Santiago fortsetzen. Sie standen beide nicht mehr im Berufsleben, mochten aber nicht so lange von ihren Frauen getrennt sein und gingen deshalb in Etappen. Ich denke, das ist auch eine Facette der Liebe.

Obwohl wir noch Stunden an diesem kleinen Flusslauf hätten zubringen können, machten wir uns doch nach einiger Zeit in Richtung Larrasoana auf. Das war auch gut so, denn zusammen mit Theo und Bert ergatterten wir die letzten Betten in der dortigen Herberge. Allerdings nicht in den Räumen des Rathauses, die waren alle schon längst vergeben, sondern in einem eigens aufgestellten doppelstöckigen Wohncontainer. Hier stand Stockbett an Stockbett, teilweise direkt aneinander, ohne Gang dazwischen. Mindestens achtzig Personen waren hier untergebracht. Gu und ich hatten Glück, zwei nebeneinandergelegene obere Betten waren noch frei, sodass wir auch in der Nacht in der Nähe des anderen sein konnten. Unter uns, welch ein Zufall, lagen Erni und Toni, das nette Salzburger Ehepaar. Hans-Jakob trafen wir ebenfalls wieder, viele andere kannten wir aber nicht. Italiener waren zahlreich vertreten. Es ging zu wie im Taubenschlag, ein ständiges Kommen und Gehen. Draußen vor der Dusche, in einem gesonderten Container, bildete sich eine lange Schlange und überall hing gewaschene Wäsche. Shirt neben Shirt, Unterhose neben Unterhose, dazwischen auch mal ein BH, ein wirklich buntes Bild bot sich uns. Wir fassten den Entschluss, bevor wir es den anderen gleichtun wollten, noch das Dorf in Augenschein zu nehmen und irgendwo in der Nachmittagssonne sitzend einen café con leche zu trinken. Nach mehr als acht Stunden wandern und fast 27 km Strecke hatten wir es uns verdient! In einer kleinen Kneipe mit Gartenbewirtschaftung ruhten wir uns aus, wenig später trudelten auch Bert, Theo und Hans-Jakob ein. Es war ein geselliger Nachmittag und wir waren uns schnell einig, gemeinsam auch hier zu Abend zu essen, ein preiswertes Pilgermenue wurde angeboten.

Bei unserer Rückkehr war die Schlange vor den Duschen verschwunden, es war also eine gute Idee gewesen, dem Andrang aus dem Weg zu gehen. Das dachte ich allerdings nur so lange, bis ich in den Wagen hineinkam: Drei Duschen, zwei Waschbecken und zwei Toiletten für alle Leute, entsprechend sah es dort aus. Keine Ablagen, nichts, jeder konnte in den Container hineinsehen, ich ließ die Unterwäsche an, ebenso meine Sandalen. Damit schlug ich zwei Fliegen mit einer Klappe, ich wusch die Unterwäsche gleich mit und die vielen Haare im Duschbecken konnten mir auch nichts anhaben. Hinter dem Vorhang zog ich dann mühevoll die trockene Wäsche an. Die Wäsche klebte am feuchten Körper und trotzdem hatte ich meine übrigen Sachen in null Komma nichts an. Es war ganz schön kompliziert, überhaupt nicht komfortabel. Ja, ich Modetante wurde hier so richtig auf den Boden der Tatsachen gebracht. Im Schlafcontainer musste ich dann noch feststellen, dass mein Bettlaken übersät war mit Flecken, welcher Art sie waren, darüber wollte ich nicht nachdenken. Gu klärte mich auf, dass sicherlich nur einmal in der Woche die Laken gewechselt würden. Ich war natürlich davon ausgegangen, dass wie in jedem guten Hotel spätestens bei Abreise des Gastes die Bettwäsche gewechselt würde. Träumerin, romantisch verklärt. Jetzt wusste ich auch, warum in der Jugendherberge in Roncesvalles bunt-karierte Laken aufgezogen waren. Ich schwor mir, in dieser Nacht nicht einen Zentimeter meiner Körperfläche aus meinem Schlafsack zu bewegen. Wie war ich dankbar für ihn!

Seltsamerweise tat dieser Schock meiner guten Laune keinen Abbruch und gegen sieben marschierten wir mit Theo, Bert und Hans-Jakob Richtung Restaurant. Meine Sandalen quietschten bei jedem Schritt, sie waren noch patschnass vom Duschen. Ich ärgerte mich, dass ich nicht meine Wanderschuhe wieder angezogen hatte. Wieder war ich meiner Eitelkeit erlegen. Die Sandalen, obwohl so typische Trekking-Sandalen, passten besser zu meinem »Outfit« als meine Wanderschuhe. Wer nicht hören will, muss fühlen – schnell hatte ich sehr kalte Füße. Wir fünf wurden mit einem Spanier, namens Miguel, an einen Tisch gesetzt. Er parlierte munter in seiner Muttersprache, obwohl niemand spanisch sprach, außer Gu, der sich ein wenig mit ihm verständigen konnte. Interessanterweise war es dennoch nicht langweilig. Das Essen bestand aus reichlich Fleisch zum Hauptgang, anscheinend denken die Spanier, dass ein Pilger besonders viel Eiweiß braucht. Danach ließen wir fünf den Abend im Garten unter lauter bunten Glühbirnen mit rötlich-goldenem Himmel und bei Bier oder Wein ausklingen. Unsere Unterhaltung kreiste vor allem um gesellschaftspolitische Themen. Es ist schon spannend, dass uns alle die gleichen Dinge beschäftigten. Die zunehmende Globalisierung: Welchen Platz nehmen wir zukünftig in Europa ein und welchen Europa in der Welt? Wie entwickeln wir uns weiter, welche Werte bleiben und wie werden die Generationen miteinander umgehen? Es machte Spaß mit so lebenserfahrenen Männern diskutieren zu können.


Rosenpracht mitten im dörflichen Larrasoana (Foto Sabine Dankbar)

Die Nacht war grausam, im wahrsten Sinne des Wortes. Es herrschte eine stickige Luft durch die vielen Menschen auf so engem Raum. Trotz Ohropax vernahm ich lautes Schnarchen. Es hörte sich an, als ob ganze Wälder im Traum zum Fallen gebracht würden. Ich schwitzte in meinem dicken Schlafsack sehr und traute mich dennoch nicht aus ihm heraus, getreu meinem Schwur. Gegen vier Uhr meldete sich meine Blase. Gut eine halbe Stunde rang ich damit aufzustehen, um mich zu erleichtern oder liegen zu bleiben, um niemanden zu stören und nicht in die kalte Nacht heraus zu müssen. Mein Anstand, dem Bettlaken aus Versehen nicht noch einen weiteren Fleck hinzuzufügen, siegte. Leise schälte ich mich aus dem Schlafsack, sorgsam darauf bedacht, ja nicht mit dem Laken in Berührung zu kommen sowie Toni unter mir nicht zu nahe zu treten, dann tappte ich leise die Treppe hinunter. Spätestens beim Öffnen der Tür weckte ich durch ein lautes Knarren zumindest die Schlafenden im Erdgeschoss. Vor der Tür umfing mich Mondlicht und leuchtete mir den Weg zur Toilette. Wie immer empfand ich Angst so allein, draußen bei Nacht. Ich dachte an irgendwelche Fabelwesen, die erscheinen könnten, um mich zu erschrecken. Seit meiner Kindheit verfolgen mich diese Fantasien. Kurze Zeit später lag ich wieder in meinem Brutkasten und schlief trotz der Hitze wieder ein.

3. Pilgertag, Donnerstag, 25. Mai 2006
Larrasoana – Pamplona

Um 5.30 Uhr beendete ein Wecker jäh die Nacht. Dieses Phänomen sollte uns noch das ein oder andere Mal begleiten. Selbst die einsetzenden Unmutsäußerungen der anderen Pilger hielten diese Wahnsinnigen nicht davon ab. Offensichtlich konnten viele selbst auf diesem Weg nicht ihrer eigenen inneren Uhr vertrauen, das fand ich schade. Ich bin auch ein Frühaufsteher. Auf dem Weg gehörte ich immer zu denen, die früh unterwegs waren. Meine innere Uhr weckte mich immer zuverlässig im Zeitraum von fünf bis sechs. Später war es sogar so, dass ich zu der Zeit wach wurde, die ich mir vor dem Zubettgehen vorgenommen hatte. Gu und ich blieben dennoch liegen und dösten vor uns hin. Gegen halb sieben brachen wir auf.

Natürlich durfte der Tag nicht beginnen, ohne dass wir unseren heiß geliebten café con leche und unseren bocadillo zu uns genommen hatten. Unsere Kneipe vom Vortag wusste, was Pilger brauchen, und die Wirtsleute hatten sehr geschäftstüchtig bereits wieder geöffnet. Es herrschte eine wärmende, laute und herzliche Atmosphäre in der kleinen Gaststube. Englisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und Holländisch, ein buntes Gemisch an Sprachen war um uns herum, der Morgen begann heiter und schön. Dieses Ritual am Morgen genoss ich auf meiner Pilgerreise sehr und wurde fester Bestandteil des Tages. Es bildete einen kompletten Kontrast zu den Tagesanfängen von früher. Zu Hause, während der Arbeitswoche, hatte ich irgendwann das gemütliche Frühstücken verloren. Ich nahm mir nicht mehr die Zeit, bei einer dampfenden Tasse Kaffee, einem leckeren Brot und der Zeitung den Tag in Ruhe zu beginnen. Vielmehr hechtete ich in mein Auto, kaufte mir beim Bäcker um die Ecke ein belegtes Brötchen und einen Milchkaffee. Beides nahm ich unterwegs zu mir. Obwohl ich das als schlecht empfand, änderte ich es nicht. Während meiner Kindheit waren wir immer viele um den Frühstückstisch gewesen. Lag es daran? War es mir in meiner Küche zu still? Früher hatte ich aber doch auch allein gefrühstückt. Was war es dann? Ließ ich das Frühstück sausen, um morgens eher im Büro zu sein und die erste Stunde ungestört zu bleiben? Ich glaube, es war beides.

Bei unserer Wanderung liefen wir durch eine ähnlich malerische Landschaft wie am Tag zuvor, es wurde nur zunehmend flacher. Der Rio Arga floss mal leise und träge, dann laut murmelnd neben unseren Wegen her. Zwischendurch staute sich das Wasser an einem Wehr. Wieder umschwirrten uns zahlreiche Schmetterlinge. Es war wunderbar anzusehen, wie die Sonne wanderte und nach und nach immer mehr Berge in ihr Licht tauchte.

Das Wandern ermöglicht eine ganz andere Wahrnehmung, sie ist intensiver, bewusster und auf Kleinigkeiten bedacht. Man sieht nicht nur einfach einen Fluss, nein, man spürt und hört seine unterschiedlichen Geschwindigkeiten, erkennt, wann sich seine Farbe wechselt, registriert jeden seiner vielen schönen Plätze, hat ein Auge für Furten, überquert nicht nur eine Brücke, sondern bewundert auch ihre Schönheit. Man sieht entzückende Weiler, an denen Angler ihre Rute auswerfen. Ja, und manchmal hat man das Glück Tiere wie Otter, Reiher und Rehe zu Gesicht zu bekommen. Die Natur so zu erleben, erfüllte mich mit großer Dankbarkeit.

Das Baskenland gefiel uns ausgesprochen gut, überall sah es gepflegt und belebt aus. Je näher wir Pamplona kamen, der Hauptstadt der Region Navarra, desto urbaner und verkehrsstärker wurde es. An der Peripherie von Pamplona liefen wir durch eine Art Park, als vor uns plötzlich eine Pilgerin auftauchte, die ihren Rucksack wie einen Trolley hinter sich herzog. Die Trolley-Vorrichtung war mit dem Rucksack verbunden und das ganze Gefährt schaukelte beim Ziehen hin und her, es sah sehr komisch aus. Gu und ich schauten uns an und prusteten los. So etwas hatten wir nicht erwartet. Ich tippte gleich auf eine Kollegin aus der Modebranche. Als wir sie passierten, hatten wir wirklich Mühe, ernste Gesichter zu machen. Ihr schien es aber auch irgendwie unangenehm, als ob wir sie bei etwas Unerlaubtem ertappt hätten.

Gegen elf Uhr, nach ungefähr 16 km, durchquerten wir das mittelalterliche Tor der Befestigungsanlagen, das Portal de Francia, den Zugang zur Altstadt von Pamplona. Vor uns lag ein Gewirr von schmalen Straßen und Gassen. Wir hatten beschlossen nicht weiterzugehen, sondern die Hauptstadt von Navarra und gleichzeitig die größte Stadt am Jakobsweg zu erkunden. Wir wollten uns im Gewimmel dieser Stadt treiben lassen. Die Herberge, die wir ansteuerten, hatte aber noch zu. Erst zwei Stunden später sollte sie ihre Türen öffnen. Unsere Rucksäcke noch weiter mit uns rumzuschleppen oder bei einem anderen Refugio unser Glück zu versuchen, darauf hatten wir keine Lust. Wir entschieden, es als Wink des Schicksals zu nehmen und uns für die kommende Nacht ein Hostal, eine Art Pension, zu nehmen. Wir hielten Ausschau. In der Nähe des Plaza del Castillo klingelten wir an einer Tür, ein Türschild wies auf ein Hostal im ersten Stock hin. Doch die knarzende Stimme, die durch den Lautsprecher zu uns sprach, meinte nur: » Todo completo!« – »Alles ausgebucht!« Wir schauten uns enttäuscht an. Zwei junge Spanierinnen, die genau in dem Moment durch diese Tür heraustraten, schauten uns mitleidig an, gingen ein paar Schritte und kehrten dann wieder zu uns zurück. »Sucht ihr ein Zimmer? Wir kennen ein gutes Hotel, gar nicht teuer, ein paar Straßen weiter, noch ganz neu und zentral gelegen. Sollen wir es euch zeigen?« Wir konnten unser Glück nicht fassen, nicht nur dass die zwei uns den Tipp gaben, nein, sie gingen uns auch noch voraus! Das Hotel war klein, sehr modern, fast stylish – ein Zimmer war sogar noch frei. Wir konnten es zwar noch nicht belegen, da es gerade gesäubert wurde, aber unsere Rucksäcke konnten wir im Gepäckraum deponieren, sodass einer ersten kleinen Sightseeingtour nichts im Wege stand.

Wir bummelten durch die Straßen der Altstadt, schauten dem bunten Treiben der Geschäftsleute zu und nahmen das Durcheinander von Einheimischen, »normalen« Touristen und Pilgern wahr. Man konnte durchaus zwischen Letzteren einen Unterschied wahrnehmen. Leicht war es natürlich, wenn Pilger mit ihrem gesamten Gepäck unterwegs waren und somit unschwer zu erkennen waren. Aber auch ohne dieses typische Merkmal waren Unterschiede festzustellen: Oft schwerere Fotoausrüstungen, größere Stadtführer, gepflegtere Bekleidung, kein Verschwitztsein, bei den Frauen Handtaschen. Ein deutlicher Hauch von Urbanität umgab die Stadttouristen, wir strahlten dagegen ländlich-wilde Wanderschaft aus. Ganz deutlich wurde dies, als wir in einem Café am Plaza del Castillo Platz genommen hatten. Bei meinen früheren Reisen hätte ich mich in so einer Situation nur wohl gefühlt, wenn mein Äußeres der eleganten Stadtatmosphäre und den schönen Spanierinnen »Rechnung getragen« hätte, wenn ich konform gegangen wäre. Wie sehr genoss ich es jetzt trotzdem, in Ruhe den x-ten Kaffee zu trinken, Pinxtos, ähnlich den Tapas, zu essen und sich von den kräftigen Mittagsstrahlen der Sonne bescheinen zu lassen. Woran lag das auf einmal? Begann ich schon eine andere Art von Selbstsicherheit zu gewinnen, die sich mehr auf das Innere als auf das Äußere begründete?

Erni und Toni trafen wir auch wieder, keine zwei Tische von uns entfernt, frönten auch sie den fantasievollen kulinarischen Häppchen. Beide wollten aber nach der Pause weiter bis in den nächsten Ort, nach Cizur Menor. Sie strahlten eine große Energie aus, auch beim Wandern machten sie einen konditionell hervorragenden Eindruck, obwohl sie deutlich älter waren als wir. Toni war lang aufgeschossen und von drahtig-hagerer Statur, seine Frau war kleiner, rundlicher und hatte einen sehr großen Busen. Beide, vor allem aber Erni, hatten viele Lachfältchen und wettergegerbte Gesichter. Sie erzählten uns, das sie auch zu Hause so oft wie möglich wandern würden.

Das Zimmer im Hotel war toll, ruhig, da zu einem kleinen Innenhof gelegen, sauber und mit einer großen Dusche ausgestattet. Was sonst so selbstverständlich für mich war, empfand ich jetzt als puren Luxus: Saubere Handtücher statt meines eigenen leicht feuchten Handtuchs, gestärkte, blitzsaubere Bettwäsche, eine Toilette und Dusche nur für uns allein. Nach Duschen und Wäschewaschen sowie dem üblichen Pflegeprogramm mit Tigerbalsam hielten wir erst einmal Siesta. So ein Mittagsschläfchen war für uns beide etwas ganz Fremdes, umso schöner war es, den hiesigen Landessitten einfach mal für ein oder zwei Stunden zu folgen.

Gegen halb vier setzten wir zu unserem zweiten Erkundungsgang an. Die erste Station war die Post. Gu und ich hatten im Hotel noch mal aussortiert. Fast meinen gesamten Kulturbeutel mistete ich bis auf das Allernotwendigste aus, ein weiteres T-Shirt und meine warme Wanderhose wanderten in das Paket. Gu entledigte sich seiner langen Unterhosen und einiger Nahrungsvorräte, die er vorher für absolut notwendig gehalten hatte. Wegen der stets drohenden Unterzuckerung hatte er Unmengen an Studentenfutter und Müsliriegeln für uns mitgeschleppt. Über drei Kilo wog das Paket und machte uns um fast dreißig Euro ärmer. Wären wir nur vorher schlauer gewesen. Anscheinend waren wir aber nicht die einzigen Pilger, die mit diesem Anliegen in die Post gekommen waren. Wenigstens das war tröstlich und natürlich auch die Aussicht auf einen leichteren Rucksack!

Wir schlenderten zurück in die Altstadt und gelangten wieder in die Nähe der alten Stadtmauer. Von dort oben hatten wir einen fantastischen Blick auf die Pyrenäen. Es war trotz des Windes sonnig und warm. Wir konnten die letzte Strecke unserer Tagesetappe vor uns sehen, immer noch waren Pilger unterwegs. Jeder hat eben seinen eigenen Rhythmus. In einer schönen, sehr einladend wirkenden Taverne mit Terrasse saßen wir noch ein Weilchen inmitten einer bunten Gesellschaft von Spaniern und Fremden unterschiedlichster Nation. Gu und ich wunderten uns, wie schnell wir jegliche Gedanken an Zuhause und die Arbeit hinter uns gelassen hatten. Die Reise war ein wahres Geschenk.

Von der Taverne aus spazierten wir in Richtung Kathedrale, der Catedral de Santa Maria. Als wir eintraten, umfing uns Orgelspiel. Schnell setzten wir uns in eine Bank und hatten das Glück, noch zwei Lieder hören zu können. Der Organist probte anscheinend, denn es war keine Messe. Die Kirche hatte eine wunderbare Akustik und die Musik brauste durch unsere Ohren und schwang in uns mit. Die Stücke waren erhebend. Wieder musste ich weinen, obwohl ich glücklich war. »Hier bist du willkommen, alles ist gut«, flüsterte eine innere Stimme mir zu. Gu, der meine Stimmung spürte, nahm mich fest in den Arm und schaute mich liebevoll an.

Zurück im Tageslicht stellten wir fest, dass jetzt immer mehr Menschen die Gassen bevölkerten, vor allem junge Leute waren zu sehen. An einem kleinen Platz standen wir plötzlich vor einem Schokoladengeschäft, das uns mit seiner Schaufensterauslage in das Innere lockte. Selten habe ich zuvor ein Geschäft erlebt, das so liebevoll seine Waren, übrigens nicht nur Schokolade, sondern auch Kuchen, Marmeladen und Liköre in den Regalen präsentierte. Alle Köstlichkeiten waren auf grünem Stoff platziert, der wiederum zu den rot-karierten Stoffen, die unterhalb der Regalböden angebracht waren, in einem anheimelnden, an Omas Küche erinnernden Kontrast stand. Eine Spanierin mit weißer Schürze lächelte uns freundlich an. Gu und ich unterhielten uns gerade darüber, welche Schokolade wir kaufen wollten, als wir hinter uns ein verlegenes Kichern hörten. Zwei junge Frauen standen hinter uns und eine von ihnen fragte mit breitestem amerikanischen Akzent auf Deutsch: »Kommen Sie aus Deutschland?« Wir bejahten und die Amerikanerin war komplett aus dem Häuschen. Sie erzählte uns, wie glücklich sie sei, wieder ihre Deutschkenntnisse anbringen zu können, wie viel sie verstehen würde und welche Freude wir ihr machen würden, dass wir nun mit ihr sprechen würden. Die Verkäuferin staunte nur noch angesichts der Redesalven, die auf uns »abgefeuert« wurden. Wir hatten Spaß daran, mit so wenig einen anderen Menschen glücklich machen zu können. Die beiden hatten auch Gefallen an diesem kleinen Laden gefunden und zum Abschied machten wir für die Zwei ein Erinnerungsfoto vor dieser Kulisse. Diese kleine Episode ist mir noch heute im Gedächtnis. Die junge Frau hatte keinerlei Berührungsängste, keine Scheu, zwei wildfremde Menschen anzusprechen. Mir imponierte das, mit zwanzig hätte ich das auf keinen Fall gemacht, es sei denn, ich hätte einen sehr triftigen Grund gehabt. Auch wenn viele in meiner Umgebung das nicht von mir vermuten würden, niemals wäre ich so spontan gewesen.

Hungrig fassten wir den Entschluss der Landessitte entsprechend von Bar zu Bar zu ziehen und uns an Pinxtos satt zu essen. Es war ein Fest für den Gaumen und es machte ungeheuren Spaß das Treiben in den Bars dabei zu beobachten. Es war schön zu sehen, wie zwanglos sich Jung und Alt hier untereinander mischten. So ganz anders als es oft bei uns der Fall ist.

Gut gelaunt stürzten wir uns später wieder in das Gewühl. In der Nähe des Plaza del Castillo schlugen uns rhythmische Klänge entgegen, wir folgten ihnen. Auf dem Platz selbst war eine große Bühne aufgebaut, eine Gruppe bunt gekleideter Musiker und Tänzer spielte eine Art afrikanische Musik. Sie war mitreißend und wild. Eine schwarze Tänzerin bewegte sich dazu in einem unglaublichen Rhythmus. Ihr gesamter Körper schien unter Strom zu stehen. Ihre Hüften kreisten und ihr runder, wunderbar geformter Po strahlte Sinnlichkeit aus. Die ganze Gruppe strahlte eine solche Energie aus, dass der Funke schnell auf das Publikum übersprang. Wir klatschen mit und feuerten mit Zurufen an. Ein Highlight jagte das andere, ein wahrer Instrumenten- und Tanzregen wurde dargeboten. Von Afrika wanderten sie thematisch nach Australien. Didgeridoo-Klänge durchpulsten den Platz, das Instrument der australischen Ureinwohner entfaltete seine Mystik. Dieses unverhoffte Konzert riss uns mit. Am Ende mischten sich alle Tänzer unter das Publikum und forderten zum Mittanzen auf. Es war ein wildes Durcheinander, Lebensfreude pur schwang durch die Menge. Vom Rand des Platzes schauten viele lächelnd zu, andere schüttelten den Kopf. Wir empfanden es einfach nur als überraschendes Geschenk. Ein wenig später schauten wir auf einer Bank sitzend den Strahlen der Abendsonne zu, die sich noch ihren Weg über die Dächer der Häuser rund um den Platz suchten. Es war ein magischer Tag! Im Hotel sanken wir glücklich und zufrieden in unsere Kissen und schliefen sofort ein.

Бесплатный фрагмент закончился.

860,87 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
398 стр. 81 иллюстрация
ISBN:
9783899604146
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
177