Читать книгу: «Karriere oder Jakobsweg?», страница 2

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Im Sommer urlaubten wir dann nochmals auf Mallorca, diesmal zu dritt. Einen Tag, bevor wir abflogen, ließ ich von meinem Bruder, der mir als Geschäftsführer vorstand, den Urlaubsschein abzeichnen und nutzte dabei die Gelegenheit, ihm zwei weitere Scheine mit der Bitte um Bewilligung zu geben. Bei dem einen war mir klar, dass er diesen abzeichnen würde, auch wenn die Zeit, in der ich frei haben wollte, nicht selbstverständlich war. Zwischen Weihnachten und Neujahr wollte ich ein spirituelles Seminar besuchen und gerade dieser Zeitraum ist eine ganz heiße Phase in der Kollektionserstellung, aber nach fünf Jahren Präsenz konnte ich das guten Gewissens vertreten. Nachdem er seine Unterschrift unter den ersten Schein gesetzt hatte, schaute er mich bei dem zweiten mit mehr als fragendem Blick an: »Das ist nicht dein Ernst, oder? Sechs Wochen am Stück im nächsten Jahr, im Mai und Juni? Wofür?« Daraufhin erzählte ich ihm von meinem Wunsch den Jakobsweg zu gehen, ebenso erzählte ich ihm von meinen Zweifeln und meinen inneren Konflikten. Es war ein gutes Gespräch, wir tauschten uns über unsere größten Wünsche aus, aber auch über unsere Gedanken und Vorstellungen vom Leben. Ich fühlte mich von meinem Bruder verstanden, empfand eine besondere Nähe zu meinem »großen« Bruder. Dennoch, das war mir vorher bereits klar gewesen, die Unterschrift bekam ich nicht. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in unserem Unternehmen: Das, was wir unseren Mitarbeitern nicht zugestehen, ist auch für uns tabu. Wieso hatte ich es dann überhaupt versucht? Wollte ich ein Signal setzen? Sollte ich mich entscheiden? Hieß es am Ende sogar Karriere oder Jakobsweg?

Der Urlaub zu dritt war schön und schrecklich zugleich. Obwohl ich mich mit Marie, Walters Tochter, sehr gut verstand, kam ich mir oft als drittes Rad am Wagen vor. Es gab eine Symbiose zwischen Vater und Tochter, die so stark war, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Es gab auch keinen Zweifel daran, wer die oberste Priorität bei Walter hatte. Auf der einen Seite absolut in Ordnung, auf der anderen Seite schmerzhaft. Wäre ich mir seiner Gefühle sicherer gewesen, hätte ich mich selbst nicht ständig in Frage gestellt, vielleicht wäre der Urlaub dann so richtig entspannt gewesen. So war er neuer Nährboden für meine Zweifel. Der Druck war wieder da. Mein Beschluss, mehr in der Gegenwart zu leben, war eben nicht so einfach in die Tat umzusetzen.

Kurz nach Ende des Urlaubs begann erneut die Periode der Messen und der Konzeptfindung für die neue Saison. Es reihte sich Reise an Reise, Termin an Termin. Der September und der Oktober sind immer eine der reiseintensivsten Monate in der Modebranche, jedenfalls im Bereich der Produktionsentwicklung. Gerade in dieser Zeit ist es so, als wenn man wie im Hamsterrad läuft, immer nach vorne – schnell, schneller, am schnellsten.

Anfang Oktober war ich dann über das Wochenende bei Walter in Bonn. Wir waren diesmal allein. Wir hatten wunderbares herbstliches Wetter, wir flanierten am Samstag durch die Geschäfte der Stadt, verbrachten einen harmonischen Abend miteinander, frühstückten am anderen Morgen lange und ausgiebig und begaben uns dann an den Rhein, um einen langen Spaziergang in der Sonne zu unternehmen. Es war herbstlich warm, der Rhein floss träge dahin. Wir genossen die letzten intensiven Sonnenstrahlen des Herbstes, wie die Menschen um uns herum. Wir aßen Eis, lagen sogar im Gras, es war einfach schön. Vielleicht war es diese entspannte Atmosphäre, dass die Unterhaltung wieder einmal auf das Thema unserer Beziehung zusteuerte. Das Gespräch wurde zunehmend hitziger und emotionsgeladener, unsere unterschiedlichen Erwartungen an unsere Partnerschaft standen im Mittelpunkt der Diskussion. Dann fielen der folgenschwere Satz und die Entgegnung, von wem zuerst, weiß ich heute nicht mehr: »Dann lassen wir es.« »Ja, gut, dann lassen wir es.« Und wir ließen es dann auch, wir trennten uns. Wir weinten beide. Ich, weil ich wieder alleine war und dachte, dass meine Liebe wieder nicht ausgereicht hat: »Ich bin wieder gescheitert.« Er, weil er begriff, wie ernst es mir diesmal war.

In einer späteren Mail schrieb ich ihm, dass es besser sei, sich zu trennen, wenn der eine den anderen ständig davon überzeugen müsse, dass er es wert sei, von ihm geliebt zu werden. Das ist auf Dauer anstrengend und man verliert darüber seine eigenen Wünsche und Vorstellungen aus dem Blick.

Auf dem Weg nach Hause hatte ich an diesem Sonntagabend im Auto sehr viel Zeit meinen Tränen freien Lauf zu lassen und nachzudenken. Es war sehr viel Schmerz in mir, trotzdem konnte ich fahren, es war, als ob das Fahren auf der dunklen Autobahn meinen Kummer aus mir herausspülte und Platz machte, damit meine Gedanken frei fließen konnten. Ich ließ mein ganzes Erwachsenenleben Revue passieren, erinnerte mich an Schönes, an Trauriges, an meine ersten Berufspläne nach dem Abitur, meine beruflichen Stationen, meine erste große Liebe, meine erste Ehe, meine Partnerschaft danach. Ich fragte mich: Was macht dir so richtig Freude in deinem Leben? Wo sind deine Talente, was hast du aus ihnen gemacht? Was wünschst du dir am meisten? Bist du wirklich glücklich oder fehlt dir etwas? Warum waren meine Beziehungen gescheitert, warum hatte meine Ehe nicht gehalten? War ich bei der Liebe immer dem gleichen Muster gefolgt, hatte mir einfach den falschen Mann ausgesucht? Wurde ich deshalb nicht geliebt, weil ich die Liebe, die mir im Laufe der Jahre für mich selbst abhandengekommen war, bei anderen suchte und damit jeden Mann überforderte? Ich ging mit mir selber schonungslos ins Gericht, gab mir auf alle Fragen ehrliche Antworten, es hörte ja keiner zu. Aber es gab auch Fragen, auf die ich keine Antworten hatte, da blieb es in mir einfach stumm. Auf dieser Fahrt begriff ich, dass nur ich selbst die noch fehlenden Antworten finden konnte, ich allein war dafür verantwortlich, niemand sonst. Auch wurde mir klar, dass ich dafür Zeit brauchte. Was hatte Bernhard von Clairvaux noch geschrieben: »Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst.« Ich wollte mir nicht länger den Kopf darüber zerbrechen, ob ich so viel arbeitete, weil ich keine eigene Familie hatte oder ob ich keine Familie hatte, weil ich so viel arbeitete. Ich hatte es satt, als Karrierefrau abgestempelt zu werden. Ich wollte einfach nicht länger zwischen zwölf und vierzehn Stunden am Tag mit meinem Beruf verbringen, um am Ende meiner Berufslaufbahn alleine und eine dieser unzufriedenen Modetanten zu sein.

Als ich in Münster ankam, hatte ich Entscheidungen gefällt, die mein Leben verändern sollten. Ich war mir ganz sicher. Ich wollte noch in der gleichen Woche kündigen, ich wollte die Modebranche verlassen und noch mal etwas ganz Neues beginnen. Was das sein könnte, darüber würde ich in aller Ruhe nachdenken und die Zeit würde mir dabei helfen. Kurz nach meinem letzten Arbeitstag wollte ich mich auf den Weg nach Santiago de Compostela machen und mich endgültig zu dem spirituellen Seminar zwischen den Jahren anmelden. Dem nächsten Mann, in den ich mich verlieben sollte, wollte ich von vornherein klaren Wein einschenken: »Eine eigene Familie ist für mich wichtig. An einer Beziehung nach dem Motto, wir schauen mal, was draus wird, und lassen alles ganz langsam auf uns zukommen, habe ich keinerlei Interesse.«

An dem Abend war mir innerlich zum Weinen und Lachen zumute. Ich fühlte mich befreit, gleichzeitig hatte ich Angst vor meiner eigenen Courage. Trotzdem oder gerade deswegen setzte ich alles, natürlich nur das, was ich selbst beeinflussen konnte, in die Tat um. In der gleichen Woche kündigte ich. Das spirituelle Seminar besuchte ich wie geplant zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein letzter Arbeitstag war gegen Ende April 2006, sodass ich am 21. Mai 2006, meinem 41. Geburtstag, nach St. Jean-Pied-de-Port aufbrechen konnte, um endlich zum Grab des heiligen Jakobus zu pilgern.

Noch heute freue ich mich darüber, wie liebevoll und souverän mein Bruder und mein Vater auf meine Kündigung reagierten. Nachdem sie durch unser Gespräch klar verstanden hatten, wie ernst es mir war, versuchten sie auch nicht, mich von meinem Entschluss abzubringen. Mein Bruder sagte mir: »Ich arbeite gern mit dir zusammen, du machst deine Arbeit gut und gerne würde ich auch weiterhin mit dir zusammenarbeiten wollen. Ich werde dich aber trotzdem nicht überreden, bei uns zu bleiben, weil ich dann immer mit dem Gefühl leben müsste, dass du doch irgendwann gehst, und mit dieser Unsicherheit ist kein gutes Zusammenarbeiten möglich.« Für diese Worte war ich ihm sehr dankbar, weil sie mir in der folgenden Zeit bei aufkommenden Zweifeln immer wieder eine Hilfe waren. Die Wertschätzung meines Bruders tat gut, aber auch seine klare Aussage, dass die Firma für ihn Priorität habe, bestärkte mich. Letztendlich fühlte ich mich dadurch noch mehr bestätigt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Denn ich wollte dem, was mir wichtig war, mehr Priorität geben.

Bei meinem Vater hatte ich trotz seiner für mich positiven Reaktion das Gefühl, dass er auch ein wenig enttäuscht war, dass ich seine bisher gut funktionierende Nachfolgeregelung nun durcheinanderbrachte. Doch sein gesunder Pragmatismus und auch seine väterlichen Instinkte rückten schnell anderes in den Vordergrund. Er sorgte sich, wie auch später meine Mutter, sehr stark um die Folgen für mich. »Was willst du denn machen, welche Pläne hast du, wovon willst du auf Dauer leben?«, waren seine Fragen. Fragen, die ich mir natürlich auch stellte. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich viele Ideen hätte, aber noch nichts Konkretes ins Auge gefasst hätte. Vielleicht studieren: Journalismus, Bibliothekswissenschaften, Literatur- oder Kommunikationswissenschaften. Meinen alten Traum ein Buch zu schreiben, in die Tat umsetzen. Mich sozial engagieren. Alles das, was mich als Abiturientin auch interessiert hatte. Vieles schwirrte in meinem Kopf herum, sortiert war noch nichts, wie denn auch, ich musste erst einmal diesen gravierenden Einschnitt überhaupt verarbeiten.

Wir hatten vereinbart, meine volle Kündigungszeit von einem halben Jahr auszuschöpfen, und ich hatte versprochen, erst dann zu gehen, wenn die Nachfolge feststand und ich sie eingearbeitet hatte. Bis dahin wollten wir den Mitarbeitern auch nichts sagen, um keine unnötige Unruhe aufkommen zu lassen. Ich hatte für mich beschlossen, mich mit meinem neuen Weg erst dann weiter auseinanderzusetzen, wenn der Kopf dafür so richtig frei war – frei zu sein vom Arbeitsalltag mit seinen festgelegten Tagesabläufen. Mit meinen Ersparnissen, so hatte ich mir ausgerechnet, konnte ich mir dies auch einige Zeit leisten. Sicher war nur, dass ich den Jakobsweg gehen würde, sobald ich aufhören würde zu arbeiten.

Seltsamerweise machte mir meine Arbeit in den folgenden Monaten wieder sehr viel Spaß, vieles klappte leichter als vorher. Woran lag das? Sicherlich, weil ich damit aufgehört hatte, mich ständig in Frage zu stellen, alles in Zweifel zu ziehen. Ebenso war ich mir trotz der Unruhe bezüglich meiner beruflichen Zukunft immer sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich bereute nichts, im Gegenteil, ich empfand pure Lebensfreude.

Die Weisheit von Andre Gidé »Man entdeckt keine neuen Weltteile ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verliere« drückte meinen Seelenzustand aus. Ich hatte den Mut gehabt, meinen sicheren Boden unter den Füßen zu verlassen, ohne zu wissen, was kommt. Aber wie jeder Entdecker, so dachte ich, würde ich auf etwas stoßen, etwas Neues, Unbekanntes, aber bestimmt auch etwas Spannendes und Lohnendes. Später haben mir viele, nicht nur jene aus meiner engsten Umgebung, Bewunderung für diesen Mut entgegengebracht. Mehr noch, ich spürte sehr viel Respekt, das wiederum verlieh mir noch mehr Mut und Entschlossenheit. Etwas Anderes, etwas sehr Wesentliches, gab mir ebenso die tiefe Zuversicht, dass ich das Richtige tat. Es war mein Glaube. Ich wusste, ich bin nicht allein, Gott ist da, bei mir, in mir und gibt mir die Kraft, alle Antworten auf meine Fragen zu finden.

Ein Geschenk für meinen Mut zu neuen Ufern aufzubrechen, bekam ich übrigens sehr schnell. Bis heute verstehe ich rein rational nicht, warum ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, in der Situation. In der gleichen Woche, in der ich kündigte, begegnete ich dem Mann, der heute mein Mann ist. Verrückt, total verrückt. Die Umstände unseres Kennenlernens, das Wie, alles war schon ungewöhnlich.

Wie es unter Frauen üblich ist, müssen die besten Freundinnen von allen wichtigen Entscheidungen sofort in Kenntnis gesetzt werden. Ich bin da nicht anders gestrickt. Allerdings habe ich mich doch in einem Punkt zurückgehalten, meine »alten« Freundinnen aus meiner Heimatstadt band ich nicht ein, nicht weil ich sie nicht für vertrauenswürdig hielt, sondern weil alle auch eine Nähe zu meiner Familie dort haben und ich sie nicht in eine Zwickmühle bringen wollte. Denn mir war klar, dass mein Bruder zunächst Stillschweigen bewahren wollte. Meinen Freundinnen aus Münster, Susanne, Larina und Anne, erzählte ich natürlich die Neuigkeiten. Freunde sind wichtig, vor allem wenn man keine eigene Familie hat. Sie haben meist einen anderen Blickwinkel als die Herkunftsfamilie, vieles wird dadurch anders eingeordnet. Deswegen bedeutete mir das Feedback, die Reaktion auf meine Entschlüsse, seitens meiner engsten Vertrauten sehr viel.

Larina erreichte ich erst nach zwei Tagen telefonisch, eigentlich hatte sie auch an diesem Dienstagabend keine Zeit. Sie hatte vor kurzem eine spirituelle Ausbildung begonnen und gerade an diesem Abend traf sie sich mit einem ihrer Kollegen in unserer damaligen kleinen Stammkneipe, dem »Rabenschwarz« um die Ecke. Sie lud mich ein, dazu zu kommen, wenn mich die Anwesenheit von Gu, so sein Name, nicht stören würde. Es störte mich überhaupt nicht, besser gesagt, es war mir sogar egal, ob dieser Wildfremde dabei sitzen würde. Er kannte mich nicht, ich ihn nicht, sollte er doch zuhören, wenn er denn wollte, es interessierte mich in dieser Situation sowieso nicht. Als ich dann in das »Rabenschwarz« eintrat, saßen die beiden schon dort. Larina stellte uns kurz vor. Ohne ihn danach großartig zu beachten, sprudelten die Ereignisse der vergangenen Tage nur so aus mir heraus. Ich ließ keinen meiner gefassten Vorsätze aus, nicht einen einzigen. Larina, aber auch Gu, hörten interessiert zu. Larina, wie später auch meine anderen Freunde, unterstützte mich vorbehaltlos in meinen Plänen und freute sich mit mir, ja, sie bestärkte mich sogar. Irgendwann meldete sich auch Gu zu Wort und meinte, er würde meinen Mut sehr bewundern und er freue sich, dass er an meiner Geschichte hätte teilhaben dürfen.

Noch ungefähr eine halbe Stunde plauderten wir über alles Mögliche, der Abend war kurzweilig und lustig. Gu fand ich sympathisch. »Netter Typ«, dachte ich mir. Als Mann nahm ich ihn an diesem Abend eigentlich nicht so richtig wahr. Wie auch, das, was hinter mir lag, war noch viel zu frisch. Dennoch muss ich zugeben, dass ich seine braunen Augen und den intensiven Blick daraus schon attraktiv fand, und seinen Po stufte ich auch als ganz knackig ein, als er sich zwischendurch auf den Weg zum stillen Örtchen machte. Dann wollte ich mich verabschieden, Gu hielt mich aber auf, ich solle bitte kurz warten. Er verließ das »Rabenschwarz« mit den Worten: »Ich hole nur schnell etwas aus dem Auto. Da gibt es etwas, was ich dir geben möchte.« Larina und ich schauten uns erstaunt an, sie hatte auch keine Ahnung, wovon er sprach. Bei seiner Rückkehr überreichte er mir ein Päckchen mit den Worten: »Ich weiß nun, warum ich vor einigen Wochen aus einem Impuls heraus etwas gekauft habe, ohne zu wissen, warum oder für wen. Heute nun ist es mir klar geworden. Das darin enthaltene Geschenk ist für dich bestimmt.« Ich reagierte mit Ungläubigkeit: »Das sagst du jetzt nur so, eine schön ausgedachte kleine Anekdote.« Er blieb ganz ruhig, sah mich eindringlich an und meinte nur: »Pack es einfach aus, du wirst schon sehen.« Eine wunderschöne Kette mit leuchtenden kristallblauen Steinen kam zum Vorschein, ich schaute ihn verwundert an. »Die Steine der Kette haben die gleiche Farbe wie deine Augen, sie passt zu dir. Ich möchte dir etwas schenken, weil ich deinen Mut und deine Lebensfreude als etwas Besonderes erachte.« Das erste Kennenlernen zwischen uns hört sich kitschig an. Für mich war dieser Abend einfach nur heiter und schön. Ich ging positiv gestimmt nach Hause, freute mich über das unerwartete Präsent und vor allem über dessen Begründung. Gu sagte mir später, dass er sich bereits an diesem Abend in mich verliebt hat. In der Folgezeit ließ er über Larina immer wieder Grüße an mich übermitteln. Ehrlich gesagt, das tat mir sehr gut, es beruhigte mein verwundetes Herz und schmeichelte natürlich auch meinem Ego. Es sorgte zusätzlich dafür, dass ich nicht wieder in ständige Grübeleien verfiel, warum ich wieder einmal allein war. Nach und nach eroberte Gu mein Herz und überzeugte mich davon, wie ernst es ihm mit mir war. Das, was ich mir immer gewünscht hatte, einen Menschen zu finden, der ohne Wenn und Aber ja sagt, ich habe ihn in Gu gefunden. Oft denke ich, dass Gu in mein Leben getreten ist, damit ich täglich daran erinnert werde, bewusst und auf meine innere Stimme hörend, meinen neuen Weg zu gehen. Er ist eine Antwort auf eine meiner vielen Fragen, aber ich habe ihn nur gefunden, weil ich mich auf den Weg zu mir selbst gemacht habe. Auf den Weg, der mein eigener und nur für mich bestimmte Weg ist.

Im Dezember, zwischen den Jahren, nahm ich am Seminar »Der Weg ins Licht« teil. Bei diesem spirituellen Seminar geht es im Wesentlichen darum zu erkennen, welche Qualitäten man in seinem Leben bereits lebt und welche sich noch verbergen. Sich bewusst zu machen, was man in sich trägt, und das Vertrauen und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, dieses auch nach außen zum Ausdruck zu bringen und es zu leben. Sita, die spirituelle Leiterin, arbeitete dabei unter anderem mit den verschiedenen Chakren. Die Tage am Bodensee, das Seminarzentrum lag nur unweit davon entfernt, waren entspannend, sehr intensiv und in vielerlei Hinsicht klärend. Mir wurde einmal mehr deutlich, wie eng meine Beziehung zu meinem Glauben ist, aber auch was Stille und Meditation bewirken und auslösen können. Durch das Miteinander mit den anderen Teilnehmern spürte ich, wie gerne ich mich auf andere Menschen einlasse. Ich genoss die entstehende Gruppendynamik und den Wunsch, gemeinsam für jeden Einzelnen ein gutes Fortkommen und Ergebnis zu erreichen.

Untergebracht war ich auf einem Ferienbauernhof. Die Atmosphäre dort war heimelig, gemütlich und sehr fürsorglich. Die Nähe zum Alltag des Bauernhofes war ein wohltuender Kontrast zu den Tagen vorher, die sich um die neuesten Modetrends für den darauf folgenden Winter gedreht hatten. Der Geruch des nahen Kuhstalls, der Duft der überall herumliegenden Apfelprodukte und die liebevolle Gastfreundschaft der jungen Bauernfamilie ließen mich so richtig zur Ruhe kommen. Es hatte zudem geschneit und anders als beim münsterschen Schmuddelwetter konnte man hier in eine weihnachtlich-besinnliche Stimmung eintauchen. Die Spaziergänge zwischendurch und ab und zu auch am Abend, manchmal unter wunderbar klarem Sternenhimmel, öffneten mich zusätzlich für die Seminararbeit. Ich fühlte mich als Teil von Gott und empfand eine Energie, die mich durchflutete und die ganze Woche über begleitete.

Am Ende des Seminars bekam jeder Teilnehmer von Sita einen Satz geschenkt, der die jeweilige Lebensaufgabe beschreiben sollte. Dieser Satz bewegte mich sehr: Wahrheit und Frieden so in mir in Einklang zu bringen, dass ich damit die Herzen anderer Menschen berühre. »Was bedeutet er eigentlich?«, fragte ich mich. Für mich sagte er aus, dass ich meine eigene Wahrheit finde, Erkenntnisse in mir suchen und reifen lasse, sie in Übereinstimmung mit mir selbst bringe. Darüber hinaus Harmonie und Ausgleich im persönlichen Inneren zu erlangen, um inneren Frieden zu verspüren. Wahrheit und Frieden, zwei wunderbare und sehr erstrebenswerte Ziele, so in sich selbst in Einklang zu bringen, also mit sich selbst im Reinen, im Konsens zu sein, um damit als wahrhaftiger, authentischer, in sich ruhender Mensch andere Menschen zu berühren.

Die Aufgabe drückte für mich auch noch eine weitere wichtige Erkenntnis aus: Der innere Wachstumsprozess muss mit dem äußeren Sein und Tun konform gehen. Ich kann nicht im Inneren in Harmonie bleiben, wenn meine Wünsche, Ziele und Visionen im Außen keine Entsprechung finden. Auch heute denke ich, dass in diesem Satz genau die Wahrheit für mein Leben liegt, die ich gesucht habe. Ich habe sie zwar immer noch nicht vollständig gefunden, aber ich bin ihr ein sehr, sehr großes Stück näher gekommen.

Im Februar, nach den großen Stoffmessen, wurde die Entscheidung meiner Kündigung den Mitarbeitern und Kollegen mitgeteilt. Es gab keine einheitliche Reaktion, wie auch, die Menschen und ihre Empfindungen sind verschieden. Eines wurde mir aber deutlich entgegengebracht: Verständnis und Respekt. An meinem letzten Tag, während einer kleinen Abschiedsfeier, kam dies ganz besonders zum Ausdruck. Ich bekam ein Bildobjekt von der Künstlerin Susanne Hegmann sowie ein liebevoll gestaltetes Erinnerungsalbum geschenkt. Alle Abteilungen hatten sich an dem Album beteiligt. Auf vielen Seiten waren darin Wünsche für meine Zukunft in Weisheiten, Gedichten und Texten zum Ausdruck gebracht worden. Was mich am meisten berührte, sie hatten sich mit mir als Menschen auseinandergesetzt, sich mit meinen Motiven beschäftigt und auch meinen Abschied für mich als Start in einen neuen Lebensabschnitt begriffen. Sie verstanden, wie schwer mir dieser Schritt trotz allem fiel, dass ich nicht nur in eine neue, ungewisse Zukunft ging, sondern auch, dass ich quasi meine Familie verließ, und sie machten mir deshalb Mut. Eine der vielen Weisheiten lautete: »Viele Wege führen zum Ziel, aber nur dein eigener Weg führt dich ins Glück.« Ich sehe noch heute die Gesichter vor mir. Neugierde, Anerkennung, Zuneigung, Wohlwollen, aber auch Skepsis und Verwunderung spiegelten sich auf den Gesichtern wider. Viele kannten mich schon eine Ewigkeit. Schon als Teenager hatten meine Geschwister und ich in den Ferien in der Firma gejobbt, andere waren mit mir zur Schule gegangen. Es war ein sehr persönlicher Abschied und deshalb ging ich nicht nur traurig, sondern auch glücklich und zufrieden nach Hause. Etwas ganz Entscheidendes verstand ich an diesem Tag aber auch. Es war nicht wichtig, was Menschen, die mich nur von außen wahrnahmen und oberflächlich kannten, über mein Ausscheiden aus dem Familienunternehmen spekuliert und vermutet hatten und welche falschen Schlussfolgerungen sie daraus gezogen hatten. Es war nur entscheidend, was die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung dachten. Sie hatten meine Kündigung als das wahrgenommen, was sie war. Es war überflüssig, an die in der Fachpresse im März veröffentlichte negative Berichterstattung über mein Ausscheiden überhaupt einen Gedanken zu verschwenden. Sie war es nicht wert, negative Gefühle in mir hochkommen zu lassen. Die, die meine Familie und mich kannten, wussten, dass nichts Negatives zwischen uns vorgefallen war.

Einen Monat später wollten wir aufbrechen und uns auf unsere Pilgerreise begeben. Wir, das waren Gu und ich. Irgendwann im Laufe des Frühjahres hatte er gefragt, ob er mitkommen könne. Zunächst war ich skeptisch, was sollte ich antworten, eigentlich wollte ich den Weg doch alleine gehen. Fairerweise muss ich aber zugeben, dass mein Respekt vor dieser Unternehmung mit den zunehmenden Reisevorbereitungen und dem sich nahenden Reisedatum immer mehr wuchs. Die Tragweite des Pilgerns wurde mir immer mehr bewusst. Deshalb wies ich das Ansinnen Gu’s auch nicht sofort zurück. Er machte den Vorschlag zwei Wochen vor Ende der Reise dazu zu stoßen und den Rest des Pilgerweges bis nach Santiago mit mir zu gehen, da er nur zwei Wochen Urlaub nehmen konnte. Wir überlegten und diskutierten. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und sagte ihm, dass ich es besser finden würde, wenn er mich am Anfang begleiten würde. Meine nicht uneigennützigen Gründe verschwieg ich ihm nicht: »Gerade der Beginn der Reise wird für mich nicht einfach sein. Noch nie bin ich mit Rucksack gewandert, seit Jahren bin ich Komfort auf meinen Reisen gewohnt. Und dann bin ich doch in bestimmten Situationen auch ein Angsthase, allein im Dunklen zum Beispiel. Mich macht auch dieser ganz andere Tagesablauf nervös, was, wenn ich es nicht schaffe. Ich finde es schön, wenn du mich die ersten Tage begleitest und ich dann alleine weitergehe. Ich glaube, das ist für mich besser.« Ein Stück weit noch Begleitung, eine Brücke zwischen dem alten Weg und dem neuen Weg, so dachte ich mir, das könnte Gu als Reisebegleitung für mich sein. Er reagierte mit Verständnis, nahm mich liebevoll in den Arm und versprach mir: »Ich bin die ersten Tage gerne dein Beschützer. Ich glaube zwar, dass du mich dazu nicht brauchst. Du schaffst das auch allein.«

Wir beschlossen, eine Probewanderung im Sauerland durchzuführen. Diese war in erster Linie für mich gedacht. Gu war ein erfahrener Wanderer und Kletterer. Ich wollte ein Gefühl für das bekommen, was vor mir lag. Außerdem hatte Gu einen zweiten Rucksack, den ich zwecks Tragekomforts ausprobieren wollte. Ostersonntag machten wir uns auf den Weg. Der Rothaarsteig, man nennt ihn auch den Weg der Sinne, war unser Ziel. In Olsberg stellten wir unser Auto ab. Unser Tagesziel war Willingen, wir wollten ca. 15 Kilometer zurücklegen. Wie sich herausstellte, hatten wir uns ein Osterwochenende ausgesucht, das von Nieselregen, kaltem Ostwind bis hin zu Schneeregen alles für uns bereithielt. In den höheren Lagen waren sogar noch Schneefelder vorhanden. Da ich keine Wanderausrüstung besaß, hatte ich mir kurz vorher eine warme Goretex-Hose sowie eine wasserabweisende Regenjacke zugelegt, ansonsten versuchte ich mit Skiunterwäsche, Sportklamotten und meinen Winterthermostiefeln klarzukommen. Diese kleinen Unzulänglichkeiten und der für mich völlig ungewohnte Rucksack, der zudem in keiner Gurteinstellung zu meinem Rücken passen wollte, beeinträchtigten meine gute Laune nicht. Die Wanderung war wunderschön. Wegen des schlechten Wetters begegneten wir so gut wie keiner Menschenseele, wir hatten die Wälder für uns allein. Der Wind rauschte mächtig durch die Tannen und das leere Geäst der Laubbäume. Der aufgeweichte, schlammige Boden gab unsere Schritte leise schmatzend wieder, ab und zu fiel ein Tannenzapfen zu Boden und durchbrach damit die Stille. Ja, wir waren still. Gu und ich genossen das selbstverständliche Nebeneinander, schauten uns nur hin und wieder beim Gehen an. Es war eine besondere Atmosphäre, Reden hätte nur gestört. Ganz zu Beginn unserer Wanderung führte unser Weg zur Borbergskapelle. Bis dorthin verläuft ein Kreuzweg, dessen waren wir uns vorher nicht bewusst, um so mehr freuten wir uns darüber. Es war eine meditative und besinnliche Wegstrecke, die uns beide an den vor uns liegenden Jakobsweg erinnerte. Oben angekommen machten wir eine kleine Frühstücksrast und erfreuten uns des schönen Kirchplatzes, die kleine Kapelle war leider geschlossen. Eine Familie, die dort oben ihren Osterspaziergang mit einer Eiersuche verband, schenkte uns zwei Schokoladeneier als Wegzehrung. Es war, als wenn das Pilgern schon jetzt an diesem Osterwochenende unsere Herzen auf besondere Weise erfasste. Wir passierten später die Feuereiche, übten uns an der Ginsterkopf-Klettervariante, kamen an den Bruchhauser Steinen vorbei und bogen am Richtplatz Richtung Willingen ab. Wir waren um 11 Uhr in Olsberg gestartet und erreichten mit einigen Pausen gegen 16 Uhr Willingen. Meinen Körper fühlte ich mit jeder Muskelfaser, alles tat mir weh, der Rucksack lag wie Blei auf meinem Rücken. Ich sehnte mich nach einer heißen Dusche für meine müden, kalten und muskelverzerrten Glieder. Ich wähnte das von uns vorbestellte Pensionszimmer schon in unmittelbarer Nähe und sah mich von meinen körperlichen Leiden schon erlöst, als wir feststellen mussten, dass Gu in einem Vorort von Willingen das besagte Zimmer reserviert hatte. Der Vorort lag von uns aus gesehen hinter Willingen. Nur unter Anfeuerungsrufen und mit gutem Zureden schaffte ich das letzte Stück. Wir belohnten uns an diesem Abend mit einem ausgezeichneten Essen in einem sehr schönen Restaurant. Unser Fußweg dorthin war für Gu ein einziger Angriff auf seinen Lachmuskel, was ich gar nicht witzig fand. Neben Gu lief eine breitbeinige, an John Wayne erinnernde, sich schwer vorwärts bewegende, wandergeplagte Frau. Ich fragte mich, wie ich es nur jemals nach Santiago schaffen wollte. Mein Ehrgeiz aber war geweckt.

»Der morgige Tag soll nur kommen«, dachte ich bei mir. Der zweite Tag begann nach ausgiebigem Schlaf und köstlichem Frühstück mit einem Geschenk. Unser Pensionswirt, der anscheinend schnell verstanden hatte, welcher Wanderkategorie er mich zuordnen musste, brachte uns mit dem Auto zu unserem Ausgangspunkt für diesen Tag. Ich hätte ihn umarmen können! Danach machte ich meine erste wichtige Wandererfahrung. Die ersten Schritte lassen einen noch alles spüren, mit jedem Schritt weiter vergeht der Schmerz. So erklommen wir den Langenberg, durchquerten das Naturschutzgebiet Neuer Hagen, sahen die fünfhundertjährige alte Linde in Küstelberg und kosteten aus der Quelle der Ruhr. Über die Heidenstraße gelangten wir schließlich nach Winterberg. Auf diesem letzten Abschnitt kamen wir an einem Bildstock vorbei, es war ein Bildstock zu Ehren des Apostels Jakobus des Älteren. Wir befanden uns auf einem Teilstück des Jakobsweges! Auch das hatten wir vorher nicht gelesen. Der Pilgerpfad, das war offensichtlich, rief uns und wartete auf uns! Unsere Vorfreude war mit unserer wunderbaren Osterwanderung nur noch größer geworden. Meine konditionellen Schwächen konnten mich davon auch nicht abhalten.

860,87 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
398 стр. 81 иллюстрация
ISBN:
9783899604146
Издатель:
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