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Bis zu unserer Abreise mussten weitere Reisevorbereitungen getroffen werden, hauptsächlich für mich, denn wie bereits angedeutet gehörte bis dahin eine Wanderausrüstung nicht in meinen Kleiderschrank. Es fehlte wirklich alles: Rucksack, Schlafsack, Isomatte, Trinkflasche, weitere Wanderbekleidung, Regenzeug und, und, und. Wanderschuhe zu kaufen, stellte sich als die größte Schwierigkeit heraus. Es dauerte fast einen Monat passende Exemplare für mich zu finden, meine Ferse war zu schmal und hatte in den normal geschnittenen Modellen keinen festen Halt.

Also bekam ich extra schlanke Schuhe, natürlich aus Italien, sie waren sogar ganz schick. Meine alte Profession kam mal wieder zum Vorschein. Den Rucksack tauschte ich einmal um: Zunächst hatte ich mir zu einem 55-Liter-Exemplar raten lassen, doch beim Probepacken passte nicht alles hinein. Dabei hatte ich doch schon mehrmals aussortiert und mich für meine Verhältnisse drastisch beschränkt. Dazu muss man wissen, dass ich grundsätzlich auf Reisen für alle Eventualitäten zwei bis drei Outfits mehr einpackte. Gu meinte nur: »Du musst den Rucksack fünf Wochen tragen, es ist deine Entscheidung, ob du dir einen größeren zulegst.« Ich kaufte einen 65-Liter-Rucksack, in ihn konnte ich alles verstauen und ich war mir sehr sicher, die 15 Kilo meines geplanten Gepäcks tragen zu können. Davon, dass man als Rucksackgewicht mit zehn Prozent seines Körpergewichtes rechnen sollte, erfuhr ich erst während des Pilgerns. Auch den Ratschlag meines Vaters, auf keinen Fall mehr als zehn Kilo mitzunehmen, ignorierte ich. Es musste also unbedingt das größere Exemplar sein. Später auf der Reise sah ich, dass fast nur die Männer ähnlich große Modelle wie ich trugen.

Je näher die Abreise rückte, umso mehr freute ich mich. Ich fieberte innerlich dem Weg entgegen, auch wenn ich äußerlich verhältnismäßig ruhig war. Ich denke, es hatte aber auch damit zu tun, die Gewissheit zu haben, zunächst zu zweit zu reisen und mich nicht allein in das mir Unbekannte vorzuwagen. Außerdem war es sehr schön, die Reisevorkehrungen nicht allein, sondern zu zweit treffen zu können. Mit Gu zusammen zu planen, den Reiseführer und die Karten zu wälzen, sich den Weg auszumalen, Gedanken darüber auszutauschen, machte großen Spaß. Wir planten mit dem Auto zu unserer ersten Wanderstation zu fahren, das Auto dort zu parken, damit Gu später, nach den zwei Wochen, wieder damit zurückfahren konnte. Ich wollte dann später von Santiago aus nach Hause fliegen. Am 21. Mai, meinem 41. Geburtstag, sollte es losgehen. Wir wollten eine Nacht irgendwo in Frankreich verbringen, um dann am 22. Mai in St. Jean-Pied-de-Port anzukommen. Von dort sollte es dann am Morgen des 23. Mai zu Fuß weitergehen.

Die Zeit bis zu unserer Abreise genoss ich sehr. Ich fühlte mich frei, unabhängig und ohne jegliche Verantwortung, außer der, die ich für mich hatte. Am Anfang fiel mir das Loslassen noch schwer. Mich plagte mein schlechtes Gewissen, wenn ich ausschlief, wenn ich mitten am Tag mit Larina oder Susanne im Café saß oder einfach nur faul die ersten Frühlingsstrahlen auf meinem Balkon auskostete, Aber dann bekam ich zunehmend mehr emotionalen Abstand zu meinem alten beruflichen Alltag. Ich brauchte keine dringenden Telefonate mehr zu führen, musste keine Entscheidungen von jetzt auf gleich treffen. Da waren keine zwei, drei oder mehr Menschen, die alle gleichzeitig etwas von mir wollten. Ich musste nicht mehr verantworten, ob wir noch mal kurzfristig Kleider produzieren sollten, weil das Wetter sich so toll entwickelte. Store-Checking war ab sofort ein Fremdwort für mich: Ich konnte in der Stadt bummeln gehen, ohne dass ich mit Argusaugen beobachtete, was unsere Mitbewerber denn gerade neu an den Handel ausgeliefert hatten. Ich fühlte mich befreit. Ich wollte aufbrechen und nicht zurückschauen. Ich hatte losgelassen, wollte mich neu einlassen und mich dem Fluss des Lebens überlassen. Die Gegenwart zu genießen, die Zukunft nicht wie sonst zu planen, das wollte ich von ganzem Herzen versuchen. Etwas Neues, Schönes, Wunderbares würde vor mir liegen, nicht nur auf dem alten Pilgerpfad, sondern auch in meinem zukünftigen Leben, dessen war ich mir ganz sicher!

Den letzten Abend feierten wir mit Freunden – Susanne und ihrem Mann Chester sowie Larina mit ihrem Mann Nico – in meinen Geburtstag hinein und nahmen Abschied. Es ist schon ein wenig komisch, dass alle ganz sentimental werden, wenn man längere Zeit unterwegs ist und nicht den üblichen zwei- oder dreiwöchigen Urlaub antritt. Es war eine lustige, witzige, aber doch leise Atmosphäre an diesem Abend. Um Mitternacht wurde nicht nur ich beschenkt. Gu hatte für uns alle Engelkarten ausgewählt. Sie enthielten einen kleinen geschnitzten und glatt polierten Engel mit einem zum Holz passenden Text. Jeder hatte einen anderen Engel. Man spürte förmlich, wie Gu sich vorher mit jedem Einzelnen von uns auseinandergesetzt hatte, um genau den richtigen Engel auszuwählen. Ich bekam den Engel der Klarheit, geschnitzt aus Lindenholz. Er soll mich daran erinnern, in meinem Leben für klare Linien zu sorgen. Er soll mich begleiten, um Zeiten der Stille für mich zu finden, denn sie wiederum sorgen für Klarheit. Auch der weitere Text sprach mich an und es war klar, der Engel würde mich auf der Reise begleiten, ebenso wie das kleine Holzkreuz und das Miniatur-Marienbild aus Kupfer, das ich darüber hinaus als Schutzbegleiter geschenkt bekam. So viel Weiteres wanderte in dieser Nacht noch in meinen Rucksack: Wunderschöne Karten mit liebvollen Worten meiner Freunde, ein Glückskäfer von meiner Schwester Sigrid, ein Tagebuch von meinem Bruder Bernd und seiner Frau Claudia mit vielen fürsorglichen und innigen Wünsche für mich. Mit all diesen guten Wünschen und Gedanken konnte die Reise nur unter einem besonderen Stern stehen.

Ich selbst hatte mir auf einer Postkarte meinen ganz persönlichen Reisewunsch niedergeschrieben. Meister Eckhart, einer der bedeutendsten Theologen und Mystiker der katholischen Kirche, hatte mich dazu mit einem seiner Gedanken inspiriert:

»Die Welt von innen zu betrachten, sich von innen bewegen zu lassen, führt zum eigenen Lebensweg!« »Was ist mein Leben?« »Was von innen her, aus sich selbst bewegt wird. Das aber lebt nicht, was von außen bewegt wird.« Ich selbst hatte noch hinzugefügt: »Geh deinen Weg! Sabine!«

Die Postkarte zeigt als Motiv das Kreuz von San Damiano in Assisi, dort hatte Gott zum heiligen Franziskus gesprochen. Ich hatte sie aus der kleinen Kapuziner-Klosterkirche in meiner Nachbarschaft mitgebracht. Mein Wunsch, ja fast schon Appell, an mich und das wunderschöne Kreuz sowie der Gedanke an Franziskus und sein Leben passten für mich einfach wunderbar zusammen. Während der Reise hatte ich die Karte oft in der Hand. Auch wenn ich die Worte im Herzen trug, an den Farben, der Gestaltung des Kreuzes, am Gesicht Jesu konnte ich mich nie genug satt sehen.

II. Auf dem Jakobsweg
Sonntag, 21. Mai 2006
Münster – Clermont-Ferrand

Nach einem kurzen Frühstück fuhren wir endlich los! Wir hatten uns kein festes Etappenziel für den Abend vorgenommen, wir wollten nur möglichst nah an unser eigentliches Ziel kommen, um am zweiten Tag nicht allzu spät dort anzukommen. Die Autobahnen in Frankreich wollten wir nur bedingt nutzen, zum einen, um die teure Maut nicht immer bezahlen zu müssen, zum anderen, weil wir davon ausgingen, abseits der Hauptverkehrsströme sehr viel einfacher ein Nachtquartier für uns zu finden. Das sollte sich später als Irrtum herausstellen.

Die Fahrt war schön. Unsere unbändige Freude über die vor uns liegende gemeinsame Zeit, das Abenteuer, das uns erwartete, sowie das Glück so nah beieinander zu sein, machte die Reise zu einem Vergnügen. Die Anrufe und SMS-Nachrichten, die zwischendurch zu meinem Geburtstag eintrafen, motivierten, denn immer war der Glückwunsch auch mit einem Reisewunsch verbunden. Die Landschaften zogen an uns vorbei, wir genossen die Aussicht. Zunächst war das Wetter etwas trüb und regnerisch, später in Frankreich klarte es auf. Die Sonne brach sich immer wieder ihren Weg durch schnell dahinziehende Wolken, die unterschiedlich schattiert waren, ein grandioses Schauspiel. Wir durchquerten Gegenden, die ich bisher nur von der Landkarte oder durch französisches Essen kannte: Languedoc, Perigord, Gascogne, …, einfach umwerfend schön.

Gu und ich hatten, wie vorher festgelegt, irgendwann die Autobahn verlassen, um über Land weiterzufahren. Wir hatten nur nicht bedacht, dass am Sonntag augenscheinlich sehr viele Ausflügler unterwegs waren. Nur langsam kamen wir voran. Unser Plan möglichst nah an die französisch-spanische Grenze zu kommen, schien in weite Ferne zu rücken. Damit haderte ich, malte mir bereits aus, wie spät wir am nächsten Morgen in St. Jean-Pied-de-Port ankommen würden. Es würde wenig Zeit bleiben, um sich in Ruhe auf den ersten Wandertag vorzubereiten und die restlichen Formalitäten erledigen zu können. Immer wieder nervte ich Gu mit Fragen: »Was meinst du, bis wohin werden wir es heute noch schaffen? Sollen wir morgen noch früher losfahren, um den Zeitverlust auszugleichen? Können wir nicht einen kürzeren Weg fahren?« Gu entgegnete mir immer mit gleicher stoischer Ruhe: »Wir kommen dort und dann an, wie es eben der Verkehr zulässt, ich kann es nicht ändern. Es ist so, wie es ist.« Irgendwann begriff ich, ich war wieder in mein altes Muster verfallen. Plötzlich war ich nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern bereits wieder in der Zukunft. Statt weiter die Nähe von Gu und das Panorama zu genießen, war ich schon in Gedanken beim Abend und sogar beim nächsten Tag. Nicht nur kurz für einen Moment, sondern immer und immer wieder driftete ich ab. Vergangenes hinter mich zu lassen, war etwas ganz Einfaches für mich, aber in der Gegenwart zu sein, ohne dabei die Zukunft in den Mittelpunkt meines Denkens zu stellen, das war sehr, sehr schwer für mich. »Adsum«, einfach da sein, würde ich das auf dem Jakobsweg ein wenig mehr verinnerlichen? Würde ich meine Ungeduld, die innere Anspannung und meine Erwartungen in den Griff bekommen?

Gegen 19 Uhr begannen wir, nach einer Pension Ausschau zu halten. Wir passierten so viele kleine Dörfer und Städte, dass wir dachten, ohne Probleme Unterkunft für die Nacht zu finden. Dem war aber nicht so, entweder gefielen uns die Häuser von außen nicht, sie waren geschlossen oder es gab am Weg gar keine Möglichkeit unterzukommen. Irgendwann war es bis Clermont-Ferrand nicht mehr weit, deshalb entschieden wir, dort eine Bleibe zu suchen. Um 21 Uhr hatten wir endlich ein Zimmer, eigentlich für unser Budget zu teuer, aber verkehrsgünstig gelegen und dennoch nah zur wunderschönen Altstadt. An einem mittelalterlich anmutenden Platz, umsäumt von Platanen, aßen wir in einem typisch französischen Lokal zu Abend. Dank Heizstrahler und der lauen Luft konnten wir unser Essen auf der Terrasse einnehmen und meinen Geburtstag sowie unseren ersten Reisetag in Ruhe ausklingen lassen.

Montag, 22. Mai 2006
Clermont-Ferrand – St. Jean-Pied-de-Port

Ein atemberaubender Ausblick erwartete uns an diesem Morgen im Frühstücksraum des Hotels. Dort, im obersten Stockwerk, konnten wir über die gesamte Altstadt blicken, in deren Mitte die Kathedrale mit ihren aufstrebenden Türmen stand. Sie sah wie eine kleinere Ausgabe des Kölner Doms aus. Dieser Ausblick versöhnte uns mit unserer späten Ankunft, die es nicht mehr zugelassen hatte, die Stadt näher zu erforschen. Gegen 9 Uhr starteten wir. Der letzte Tag mit dem Auto, ab dem nächsten Morgen würden wir zu Fuß weiterreisen. Je näher wir den Pyrenäen kamen, desto mehr leuchtete der Ginster rechts und links der Straßen. Das kräftige Gelb kontrastierte wunderbar mit dem satten Grün der Wiesen. Die Bäume standen teilweise noch in Blüte. Der Frühling verschwendete seine ganze Pracht. Wir strahlten uns beide an, die Natur würde von nun an unser ständiger Begleiter sein. Wir hofften beide auf gutes Wetter, auch wenn wir in unserer Ausrüstung Regen und Kälte berücksichtigt hatten.

Am späten Nachmittag trafen wir endlich in St. Jean-Pied-de-Port ein. Zunächst suchten wir einen Parkplatz, der möglichst sicher, öffentlich, ohne Gebühren sowie ohne zeitliche Begrenzung war. Kein leichtes Unterfangen, aber schließlich hatten wir Glück. Er lag sogar ziemlich nah an der Altstadt, sodass wir unsere Rucksäcke bis zum Pilgerbüro nicht sehr weit tragen mussten. Welche Ironie, über diese wirklich kurze Strecke war ich heilfroh. Was sollte nur werden, wenn ich mehr als diese tausend Meter wandern würde? Es war ein ganz neues Gefühl für mich, für die nächsten Wochen mein gesamtes Hab und Gut für die Reise auf meinem Rücken zu tragen. Mein Rucksack, neben Gu, mein wichtigster Gefährte. Fluch und Segen zugleich sollte er für mich in vielen Situationen und für die gesamte Reise sein.

Im Pilgerbüro angekommen ließen wir uns den ersten Stempel unserer Wanderung geben. Die Credencial del Peregrino, den Pilgerausweis, hatte ich uns schon in Deutschland bei der St. Jakobsbruderschaft in Trier besorgt. Die Credencial ist sehr schön gestaltet. Die Vorderseite zeigt eine Tür, an der ein Pilgerstab mit Jakobsmuschel und Kalebasse gelehnt steht. Die Rückseite wird von der Kathedrale in Santiago, dem Grab des heiligen Jakobus sowie von Grußworten, unter anderem von Papst Johannes Paul II., geziert. Entfaltet man den Ausweis, sind auf der einen Seite insgesamt vierzig freie Stempelfelder zu finden, die allesamt darauf warten, mit schlichten oder kunstvollen, großen oder kleinen, eindrucksvollen und unterschiedlich farbigen Stempeln geschmückt zu werden. Daneben befindet sich ein Feld mit den offiziellen Daten zur Person. Auf der anderen Seite der Faltkarte sind alle Jakobswege Europas aufgeführt. Den Camino Frances, den Weg, den wir gehen würden, der Camino del Norte, der Camino Portugues sowie die Via de la Plata, alle in Spanien beziehungsweise in Portugal gelegen, sind noch mal gesondert dargestellt. Wenn man diese Karten betrachtet, wird man ganz ehrfürchtig und begreift, wie alt die Pilgerbewegung ist. Neben meinen Erinnerungen ist die Credencial eines meiner schönsten Andenken. Wir waren auch in das Pilgerbüro gegangen, um uns einen Tipp für die Unterkunft geben zu lassen und uns eine Muschel für die Reise auszusuchen. Gegen eine Spende wählten Gu und ich zwei gleich große Exemplare aus, die sonst sehr unterschiedlich waren. Seine Jakobsmuschel war in der charakteristischen in sich gewölbten Form und war eher von hellerer Farbe mit wenigen leicht bräunlichen Färbungen, sie wirkte robust und beständig. Sie passte zu Gu. Ich wählte eine zwar von der Art her typische Muschel, die Wölbung fehlte aber, sie war ganz flach. Darüber hinaus war sie sehr stark rot geädert und stach mir dadurch sofort ins Auge. Ich liebe die Farbe rot. Meine Muschel unterschied sich außerdem, weil sie filigran und dennoch zäh wirkte, das gefiel mir.

Unser Quartier für die Nacht war bei einer netten, aber sehr geschäftstüchtigen Witwe, die in ihrem Haus allein lebte und ihren Dachboden an Pilger untervermietete. Für vergleichsweise teure fünfzehn Euro pro Person hatten wir von Madame eine kleine separate Kammer mit zwei Liegen, die schon bessere Tage gesehen hatten, zugewiesen bekommen. Die anderen Pilger, sechs an der Zahl, lagen im Vorraum an der Treppe. Im Vergleich dazu empfanden wir unser Separee als Luxus. Die Waschgelegenheit, die Dusche und die Toilette waren nachträglich draußen auf der Terrasse angebaut worden. Es war hellhörig, aber dafür geruchsneutral, ein Vorteil für die beiden anderen Pilger, die dort ihr Abendessen zu sich nahmen. Wir zogen es unter diesen Umständen vor, auf das Duschen zu verzichten und in einem Restaurant zu essen, auch weil die Kälte gegen Abend wieder zugenommen hatte. Wir fanden ein kleines, gemütliches Bistro, in dem wir unser erstes Pilgermenue bekamen. Es war eines der besseren. Um uns herum waren neben wenigen Einheimischen auch einige Pilger. Wir schauten uns alle neugierig an, keiner traute sich aber, den anderen anzusprechen. Gu und ich fragten uns, ob wir den einen oder anderen wiedersehen würden. Seltsamerweise haben wir niemanden aus diesem Restaurant während der Wanderung wieder getroffen. Nach dem Essen erkundeten wir noch ein wenig die Altstadt und versuchten auszuloten, wann die erste Bäckerei am Morgen öffnen würde. Den übrigen Proviant hatten wir schon am Nachmittag besorgt. Ebenso machten wir uns schlau, welchen Weg wir aus der Stadt nehmen mussten. In einer kleinen Kirche beteten wir und zündeten Kerzen mit unseren Wünschen an. Ich war zuversichtlich, dass wir in sicherer Obhut waren.

Später im Bett schrieb ich noch einmal meine Beweggründe für das Pilgern in mein Tagebuch:

-Ich will mich selbst entdecken!

-Ich will meine Mitte finden, auf mich konzentriert sein. Niemand von außen soll mich beschäftigen. Was ist in mir, was will ich, möchte ich? Welche Erwartungen habe ich an mich?

-Ich will Grenzen erfahren.

-Ich möchte weg von den Äußerlichkeiten in meinem Leben. Das Quartier hier war da schon mal eine gute Erfahrung.

-Seit fast drei Jahren lässt mich der Weg nicht mehr los! Ich muss ihn gehen!

Noch mehr Fragen schwirrten in meinem Kopf! Würde ich mich auf dem Weg neu entdecken oder mich wieder entdecken? Würde ich die Reise nutzen, um eine ganz neue Beziehung zwischen mir und der Welt um mich herum herzustellen? Würde ich Seiten an mir kennen lernen, die mir noch gar nicht bewusst oder lange verschüttet waren? Welche neuen Stärken würde ich freisetzen, welche Kräfte würde ich entwickeln? Welche inneren Abgründe würden sich vor mir auftun? Würde ich Antworten finden?

Die Nacht war relativ ruhig, nur ab und zu unterbrochen vom Schnarchen, das durch die Tür drang. Wie immer musste ich nachts einmal aufstehen, aber zum ersten Mal war dies mit Unbequemlichkeit verbunden. Es war kalt, ich musste ein Stockwerk tiefer, ich konnte wegen meiner Mitpilger kein Licht machen und draußen war es noch kälter. Ich verfluchte innerlich meine schwache Blase und mein eigentlich so gesundes Trinkverhalten. Nie konnte ich mich während meiner Wanderung daran gewöhnen.

1. Pilgertag, Dienstag, 23. Mai 2006
St. Jean-Pied-de-Port – Roncesvalles

Am Morgen durften wir in der sehr gemütlichen Küche von Madame frühstücken. Es duftete nach Croissants und Kaffee, auf uns wartete das typisch französische petit dejeuner. Erni und Toni, ein älteres Ehepaar aus Salzburg, saßen ebenfalls am Tisch und wir tauschten uns trotz des frühen Morgens über unsere erste Wegstrecke und weitere Reisedetails aus. Beide waren nett, aber doch höflich-distanziert. Wir begegneten ihnen noch oft auf unseren späteren Etappen.

Gu und ich hatten am vorherigen Abend doch noch einige Dinge aussortiert. Wir deponierten sie auf dem Weg hinaus aus der Stadt im Auto. Nach zähem Ringen mit mir selbst verzichtete ich auf zwei T-Shirts, ein Fleece, den zweiten Reiseführer und weitere Lektüre. Letzteres fiel mir am schwersten, Lesen ist eine meiner großen Leidenschaften. Wie sich herausstellte, war der Verzicht kein Beinbruch, zum Lesen hatte ich nachfolgend kaum Zeit. Der Rucksack war trotzdem schwer, aber mehr konnte ich nicht weglassen! Gu war rigoroser, fast zwei Kilo ließ er zurück.


Den Rucksack geschultert, in Erwartung der vor uns liegenden Pyrenäen (Foto Sabine Dankbar)

Vor uns lagen ungefähr 25 km Wegstrecke und die Höhenzüge der Pyrenäen, dabei hatten wir als höchsten Punkt den Col de Lepoeder mit 1430 Metern zu überqueren. Mir war mulmig zumute, würde ich diese schwierige Strecke gleich am Anfang meistern? Das Wetter ließ sich optimal an, die Sonne schien und wir hatten klare Sicht. Direkt hinter der Stadt ging die Straße steil bergauf, auf diesem ersten Stück stolperte ich zweimal, jedes Mal konnte ich mich rechtzeitig auffangen. Für mich war das ein Zeichen: Ich würde den Weg gehen, ich sollte ihn gehen. Ich fühlte mich angespornt!

Viele Pilger waren an diesem Morgen aufgebrochen, entweder wurden wir überholt oder wir gingen mit flottem Schritt vorbei. Immer nickte man sich freundlich zu oder grüßte sich mit einem französischen »bon chemin«. Je höher wir kamen, desto fantastischer wurde die Aussicht. Vor uns lagen wunderschöne Täler, mit satten Wiesen, auf denen Schafe, Kühe oder Pferde friedlich grasten. Manchmal waren uns die Tiere so nah, dass wir sie hätten streicheln können. Kein Zaun umgab die Herden, so wie bei uns zu Hause. Kleine Wälder unterbrachen das Grün, manchmal standen auch mächtige alte Bäume inmitten der Weiden. Große Gehöfte und kleinere Bauernhäuser setzten farbliche Akzente. Überall um uns herum war das Zwitschern und Tirilieren der Vögel zu vernehmen. Obwohl die Sonne immer mehr an Kraft gewann, lag der Morgentau auf allem noch wie ein leichtes Schleierband.

Nach einem besonders steilen Anstieg machten wir eine kurze Rast an einem Brunnen mit wunderbarem Weitblick. Dort kamen wir auch zum ersten Mal mit Bert und Theo, zwei sehr netten Holländern, in Kontakt. Beide waren uns schon vorher aufgefallen. Wir schätzten sie auf mindestens sechzig Jahre alt, trotzdem waren sie sehr schnell unterwegs. Vor allem ich kam mir vor wie eine lahme Ente. Wir sahen sie dennoch immer wieder, weil die beiden häufiger Rast machten. Aus diesem Grund traf man immer wieder auf Pilger, deren Weg wir bereits gekreuzt hatten.

Kurz vor dem Col Bentarte veränderte sich das Wetter innerhalb kürzester Zeit. Wind kam auf, es wurde immer nebliger, leichter Nieselregen setzte ein, es wurde schneidend kalt. Wir zogen unsere Regenkleidung an, machten die Rucksäcke regensicher und versuchten die Kälte nicht zu sehr an uns heranzulassen. Die Sicht war mittlerweile auf keine zehn Meter reduziert, so konnte es plötzlich passieren, dass man unverhofft auf eine Kuh traf, die im Gras vor einem lag. Mein Rücken schmerzte zunehmend aufgrund der doch sehr fremden Last. Gu stöhnte über die Schmerzen in Oberschenkel und Füßen. Mindestens drei bis vier Stunden Fußmarsch lag noch vor uns und bereits jetzt jammerten wir über unsere wunden Körperteile.

Am Col de Bentarte liegt der Rolandsbrunnen. Kurz bevor wir ihn erreichten, kam uns ein Mann in heller Aufregung entgegengelaufen. Auf Englisch erklärte er uns in kurzen, hastigen Sätzen, dass am Brunnen ein schlimmer Unfall passiert sei, dort würde dringend Hilfe benötigt. Per Handy wäre dies aber nicht möglich, er hätte keinen Empfang. Auch wir stellten dies nach Einschalten unserer Handys fest. Der Mann, ein Holländer, lief weiter zurück, nachdem wir ihm erklärt hatten, dass ein Stück hinter uns gerade eine Pilgergruppe Rast machen würde, die von einem Auto begleitet würde. Wir beschlossen weiterzugehen, um zu schauen, ob wir am Unfallort Hilfe leisten könnten. Dort angekommen bot sich uns ein Bild des Jammers. Ein etwa 55- bis 60-jähriger Mann von schlanker, nicht allzu großer Statur war mit seinem Fuß und gesamten Unterschenkel, kurz oberhalb des Knies endend, in eine Art Eisenverstrebung hineingeraten, die im Boden als Abflussrinne eingelassen war. Diese Verstrebung erwies sich als sehr tückisch: Die einzelnen Streben waren durch den Regen sehr glatt, außerdem waren von Strebe zu Strebe breite Zwischenräume, durch die man sehr leicht durchrutschen konnte. Das war hier augenscheinlich passiert. Die äußere Verletzung schien gar nicht so schlimm zu sein, aber das Knie war so angeschwollen, dass das Bein nicht mehr herauszuziehen war. Der Schock und die nasse Kälte machten dem Mann sichtlich zu schaffen. Da wir aber nichts tun konnten und schon genug Helfer vor Ort waren, gingen wir weiter. Wir hatten dabei ein schlechtes Gefühl, aber wir fanden es für den Verletzten auch unangenehm, dass die Traube der Gaffer immer größer wurde, und wir wollten nicht auch noch dazugehören. Wir konnten nicht helfen. Später fuhr ein Geländewagen mit Rot-Kreuz-Zeichen an uns vorbei, kurze Zeit darauf rotierten die Blätter eines Hubschraubers über uns. Wir waren geschockt und empfanden tiefes Mitleid mit dem Pilger, dessen Reise bereits hier zu Ende war. Uns war es warnendes Beispiel dafür, immer und überall vorsichtig zu sein!

Bei all der Aufregung hatten wir nicht bemerkt, dass wir in der Nähe des Rolandbrunnens Frankreich schon verlassen hatten und nun in Spanien waren! Im Unterschied zu Frankreich wurden die Wegmarkierungen jetzt immer zahlreicher und vollständiger. Die gelben Pfeile waren gut sichtbar auf Straßen, Felsen, Baumstämmen oder Häusern gemalt. Wegtafeln aus Metall mit dem Muschelsymbol oder aber steinerne Pfeiler mit eingelassener Muschel wiesen uns zusätzlich den Weg. Es war ein sehr effektives System, das ich als Pilgerin immer wie meinen Leitstern empfunden habe. Mein Stern, der mich sicher und behütet in Richtung Westen, nach Santiago leitete.


Die Pyrenäen liegen hinter uns und wir sehen Roncesvalles in der Ferne liegen (Foto Sabine Dankbar)

Endlich erreichten wir den Col de Lepoeder. Mein ganzer Rücken war verspannt, ich versuchte es so gut es ging zu ignorieren, aber es gelang mir nicht. Zu unserem Trost klarte es auf, sodass wir bis weit in die Ebene von Roncesvalles blicken konnten. Das alte Kloster, unsere Herberge für die kommende Nacht, leuchtete uns in seinem Weiß schon entgegen, es war von dichtem Wald umgeben. Obwohl der Weg bis dorthin noch über eineinhalb Stunden dauern würde, war es wie ein Versprechen auf baldiges Ausruhen. Beim Abstieg begegneten wir zum ersten Mal Hans-Jakob. Wir verständigten uns kurz über den weiteren Weg. Hans-Jakob, ungefähr um die Mitte fünfzig, mit schlohweißem Haupt und Bart, sollte ein sehr wichtiger Weggefährte für uns, aber vor allem für mich, werden.

Die Natur, die wir jetzt wieder in ihrer vollen Pracht bewundern konnten, nahm uns mit ihrer Schönheit gefangen. Wir waren berührt und fühlten uns zutiefst glücklich. Die vielen Adrenalinstöße, die wir sicherlich bei der anstrengenden Pyrenäenüberquerung bekommen hatten, taten ihr Übriges. Bert und Theo überholten uns wieder einmal, diesmal blieb Theo aber stehen, deutete auf meinen Rucksack und meinte nur: »Mädel, der Rucksack sitzt nicht richtig. Wie du siehst, habe ich den gleichen, aber deiner schwankt in einer Tour hin und her. Du musst doch höllische Schmerzen haben. Darf ich dir eine bessere Einstellung zeigen?« Klar durfte er und danach ging es auch viel besser. Nun saß der Beckengurt viel höher und die Rückenlängsgurte waren entsprechend kürzer, das Gewicht deshalb auf meinem Rücken erträglicher verteilt. Ich war Theo dankbar.

Einige Minuten später konnten wir ein majestätisches Naturschauspiel betrachten. Zunächst sahen wir nur einen Adler, der sich mit den Windströmungen gleiten ließ. Kurz darauf sahen wir einen zweiten und dritten Adler, die den Wind nutzend, durch die Luft schwebten. Schließlich konnten wir im Tal acht dieser erhabenen Tiere beobachten. Bei unserem weiteren Abstieg schauten wir immer wieder zum Himmel hinauf. Welche grenzenlose Weite und Freiheit durch das Fliegen dieser Vögel zum Ausdruck kommt! Man bekommt solch eine Sehnsucht es ihnen gleichzutun. Der alte Menschheitstraum vom Fliegen …

Fast zeitgleich mit Theo und Bert kamen wir nach acht Stunden Wanderung ziemlich kaputt und müde in Roncesvalles an. Es gab dort zwei Möglichkeiten zu übernachten, im Kloster mit riesigem Schlafsaal oder in der ebenfalls im Gebäudekomplex befindlichen Jugendherberge. Wir entschieden uns für Letzteres, da wir dort bereits die Rucksäcke abgelegt hatten, bevor wir weitere Erkundungen machten. Wir waren einfach zu faul, noch ein paar Schritte weiterzugehen. Die Zimmer waren eisig, draußen pfiff der Wind um das alte Gemäuer. Die Zimmer bestanden aus jeweils zwei Stockbetten. Wir teilten unser Zimmer mit Fortina, einer Australierin, die zum zweiten Mal den Jakobsweg ging. Beim ersten Mal hatte ihr Weg von Roncesvalles nach Santiago geführt, nun war sie bereits seit 28 Tagen und über 700 km unterwegs. In Le Puy in Frankreich war sie gestartet. Es war beeindruckend, was diese kleine, zarte Frau uns von ihrer Reise berichtete. Sie strahlte eine Ruhe und große Herzlichkeit aus. Wir lernten noch viele Pilger kennen, die schon in ihrem Heimatland gestartet waren, Schweizer, Holländer, Franzosen, Deutsche, sogar einen Polen. Andere, wie auch Fortina, hatten als Startpunkt einen sehr geschichtsträchtigen Ort der Pilgerbewegung, wie Le Puy, Conques, Reims oder Lourdes, ausgewählt.


In der Jugendherberge von Roncesvalles – eine der komfortableren Herbergen (Foto Sabine Dankbar)

Theo, Bert, Hans-Jakob sowie Nele und Jörg, zwei junge Deutsche, mit denen wir auf der Etappe ebenfalls ins Gespräch gekommen waren, schliefen auch hier in der Jugendherberge. Wie fast in jeder anderen Herberge genauso üblich, waren Männer und Frauen nicht getrennt untergebracht, hier mussten wir uns allerdings auch die Toiletten und Duschen teilen. Im Vergleich zu vielen anderen Waschräumen, die ich später auf meinem Weg nutzen durfte, war dieser einer der komfortableren, obwohl ich es an diesem Spätnachmittag nicht so empfand. Trotzdem war die Dusche mit ihren heißen Wasserstrahlen eine einzige Wohltat für meinen geschundenen Körper. Ich genoss sie in vollen Zügen. Gu schmerzten nach wie vor Füße und Oberschenkel. Wir rieben uns gegenseitig die kritischen Stellen mit Tigerbalsam ein, dadurch konnten unsere Muskeln ein wenig entspannen.

Nachdem wir uns körperlich wieder einigermaßen in Form gebracht hatten, schauten wir uns Roncesvalles etwas näher an. Es ist kein Ort im üblichen Sinn: Die Abtei mit den einzelnen Gebäuden, eine gotische Kirche, eine kleine Kapelle sowie zwei Restaurants bestimmen das Bild. Achtundzwanzig Einwohner sollen dort leben, das Bild wird aber eindeutig von den Pilgern beherrscht. Gu und ich betraten nun eines dieser Restaurants, weil wir einen Bärenhunger hatten, bis zum Abendessen konnten wir nicht warten. Der »café con leche«, ein Milchkaffee, sowie ein »bocadillo con jamon«, ein Schinkenbaquette, schmeckten köstlich. Beides wurde in den nächsten Wochen zu unseren Grundnahrungsmittel. Die Wärme der Gaststube, das rege Treiben und das gute Gefühl, etwas Großes geschafft zu haben, versetzten mich in eine wohlige Stimmung. Gu erging es nicht anders.

860,87 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
398 стр. 81 иллюстрация
ISBN:
9783899604146
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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