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2.2 Kontext der Studie

Seyfrieds Herero erscheint kurz nach dem Ende eines Jahrzehnts des (vermeintlichen) Friedens in der westlichen Welt, das sich an das Ende des Kalten Kriegs nach dem Mauerfall 1989 und die Wiedervereinigung 1990 anschloss. Der Fall der Berliner Mauer bedeutete zugleich, aus der Sicht des amerikanischen Historikers Fukuyama (1989), „das Ende der Geschichte“ und die nachfolgenden zehn Jahre schienen, zumindest aus euro-amerikanischer Perspektive, diese Sichtweise zu bestätigen: Das Ende des Apartheidregimes in Südafrika 1994, das Oslo-Abkommen zwischen den Palästinensern und Israelis 1995 und das Karfreitagsabkommen in Nordirland 1998 ließen eine Epoche mit der Option eines Weltfriedens unter dem Zeichen des „siegreichen“ Kapitalismus näherrücken. Gleichzeitig trat das vereinte Deutschland mit neuem Selbstbewusstsein als politischer Akteur auf die internationale Bühne, unter anderem verkörpert durch die Amtszeit Joschka Fischers als deutscher Außenminister 1999 bis 2005. In diesem Kontext erwuchs ein neues Interesse an Deutschlands weltgeschichtlicher Vergangenheit – einschließlich der Kolonialvergangenheit, die in den vorhergegangenen Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit geraten war.

Dieser Eindruck einer Epoche des Friedens war jedoch nur von kurzer Dauer. Das damit verbundene Interesse an der globalen Vergangenheit Deutschlands war ähnlich limitiert. Loimeier (2004) dokumentiert mit Recht den „hierzulande auf vergleichsweise großes Interesse stoßende[n] Aufstand der Herero und Nama“, der die sehr erfolgreiche Rezeption von Seyfrieds Romans zumindest teilweise erklärt. Loimeier zufolge „mag [dies] damit zusammenhängen, dass der […] Aufstand der Herero und Nama noch nicht aus der Sicht eines schwarzafrikanischen Autors thematisiert wurde“. Ein „wenig entwickelte[s] […] Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen deutscher Reichsgründung und der langfristig imperialen Politik Deutschlands“ mündet allgemein in eine „deutsche Geschichtsvergessenheit“, woran „das Deckmäntelchen eines oberflächlichen Interesses am Herero-Aufstand“ leider nicht viel Grundlegendes änderte. Auch die teils eurozentrische Fokussierung auf den Holocaust, worauf später detaillierter eingegangen wird, trug dazu bei. Wesentlich für diese nicht-problematisierende Sicht der Kolonialvergangenheit ist Seyfrieds bereits erwähnte Ausblendung des Völkermords an den Herero und Nama. Die direkte Beteiligung der Romanprotagonisten am Deutsch-Namibischen Krieg endet vor der Vertreibung in die Omaheke-Wüste, so dass Seyfried den Genozid weitgehend erzählerisch umschiffen kann (Hermes 2009: 237). Ferner stellt der Text in Frage, ob die Vernichtung durch das Verdursten bzw. Verhungern in der Wüste – das Hauptkriterium des Völkermords also – überhaupt beabsichtigt war (Seyfried 2003: 565) und versucht, die Verantwortung für das Sterben auf die Opfer zu übertragen, indem er behauptet, sie hätten die angeblich zur Verfügung stehenden Fluchtwege aus der Wüste nicht genutzt: „[D]a geht es um 400 km oder mehr in wasserloser Wüste, da kann man ja keine Postenketten hinstellen“ (ebd.: 564). Petrus beispielsweise, der als zentrale Fokalisierungsfigur der angeblich afrikanischen Perspektive der Erzählung gilt, schafft es ohne Mühe aus der Wüste zu entkommen (ebd.: 574).

Diese Beschönigung der Geschichte des kolonialen Genozids ist nicht vollkommen deckungsgleich mit der allgemeinen Auffassung einer Epoche nach dem zunächst anscheinend endgültigen Ende des Kalten Krieges und den daraus resultierenden wirtschaftlich-politischen Polaritäten. Sie steht aber dennoch im Einklang mit einer überwiegend affirmativen Auffassung der weltgeschichtlichen Stimmung, in der beispielsweise die Kosten des Übergangs in den globalen Neoliberalismus für die Bevölkerungen der einst sozialistischen Länder kaum Erwähnung fanden (vgl. Ther 2016) oder in der die jugoslawischen Nachfolgekriege von 1991 bis 2001 mit dem Massaker bzw. Genozid von Srebrenica 1995, dem schwersten Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs, lediglich als vorübergehende Aberration wahrgenommen werden konnte. Bezeichnend in diesem historischen Kontext war der Besuch Helmut Kohls in Namibia 1995, während dessen er es vermied, den Völkermord an den Herero bzw. Nama überhaupt zu erwähnen oder sich mit Vertretern der Opfer zu treffen (Jamfa 2008: 202). Stattdessen betonte er „die besonderen Verdienste der Deutschsprachigen bei der Entwicklung des Landes“ (Zimmerer 2019: 24). Drei Jahre später sprach der damalige Bundespräsident Roman Herzog während seines Namibia-Besuchs 1998 lediglich von „eine[r] kurze[n] Periode gemeinsamer Geschichte, die nicht sehr glücklich war“ (Herzog 1998). Zwar räumte er ein, dass „das Verhalten der Deutschen […] nicht in Ordnung“ war, behauptete jedoch, „[e]ine Entschuldigung […] sei nur eine Worthülse, die mehr schade als nutze. Außerdem liege das Ereignis allzu lange zurück“ (Pech 1998). Stattdessen sorgte er sich um die „Pflege der deutschen Sprache“ als Minderheitssprache in Namibia (Herzog 1998). In dem Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Kriegs rückte die Kolonialvergangenheit so zwar in Sichtnähe, wurde in der deutschen Bundespolitik jedoch kaum ernst genommen, geschweige denn problematisiert.

Diese Epoche endete mit den New Yorker Al-Qaida-Anschlägen vom 11. September 2001 und dem bald darauf eingeleiteten Krieg im Irak. In diesem Augenblick, in dem eine sogenannte „Koalition der Willigen“ im „Krieg gegen den Terror“ mobilisiert wurde, lies sich nicht vorausahnen, dass dies der Ausbruch eines bis heute anhaltenden „globalen Bürgerkrieg[s]“ (Berardi 2016) sein sollte. Die Ausblendung des Genozids an den Herero bzw. Nama in Seyfrieds Roman kann in diesem Zusammenhang nicht nur als Symptom des historischen Unwissens über die Vergangenheit gelesen werden, sondern steht auch für das bewusste Ausblenden einer globalen Konfliktlage, deren Konturen mit den Kriegen im Irak und in Afghanistan, mit der Etablierung des Guantanamo-Lagers im Januar 2002 und der gleichzeitigen Aufnahme der „Renditionsflüge“ (vgl. Bartelt / Muggenthaler 2006; Luftpost 2006) sowie dem späteren „Drohnenkrieg“ ab 2004 (Amnesty International 2018: 6–7, 51–61; siehe auch Chamayou 2015), beides unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands, erst allmählich klar wurden. Die Kluft zwischen der „deutsche[n] Brille vom Krieg in Namibia [gemeint ist Deutsch-Südwestafrika]“ und der „andere[n] Seite der Medaille – also [der] Perspektive der Nama und Herero“ (Loimeier 2004), die dem Roman Seyfrieds strukturell zugrunde liegt, steht so stellvertretend für eine anhaltende Kurzsichtigkeit bezüglich der globalen Situation, in der der Krieg gegen den Terror hauptsächlich auf Kosten von Bevölkerungen im Globalen Süden geführt wird (vgl. z.B. Save the Children International 2019). Im Laufe der 2000er-Jahre wurde jedoch immer mehr mediale Aufmerksamkeit auf die anfangs unbeachteten Opfer des Kriegs gegen den Terror gelenkt. Ab 2001, mit dem Ausbruch des bis heute andauernden Bürgerkriegs in Syrien, der 2015 die sogenannte „Flüchtlingskrise“ in Europa und insbesondere in Deutschland auslöste, wurde endgültig klar, welche Konsequenzen die eng miteinander verbundenen Facetten des globalen Kriegs gegen den Terror für Europa hatten. Diese Erkenntnis wurde weiter gestärkt durch eine Reihe von ISIS-Terroranschlägen in Deutschland 2016 und 2017. Zudem wurden durch die ablehnenden Reaktionen mancher osteuropäischer Staaten gegenüber einer gemeinsamen EU-Politik nach 2015, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und den Brexit-Volksentscheid 2016 sowie die Wahl Jair Bolsonaros zum brasilianischen Präsidenten 2018 unmissverständlich sichtbar, wie instabil das globale politische System geworden war. Allmählich ging dieses aufkommende Bewusstsein für die global vernetzten Dimensionen der Konflikte in die zunehmende Wahrnehmung der bereits seit Jahren von Wissenschaftler*innen angekündigten Klimakatastrophe über – einer Katastrophe, die nun nicht mehr ausschließlich als „eine ökologische Herausforderung für die Menschheit“ verstanden wird, sondern, in den Worten des deutschen Außenministers Heiko Maas (2019) vor der UN-Generalversammlung, „immer öfter [als] eine Frage von Krieg und Frieden“. Schrittweise wird sichtbar, dass die heutige Krise in einem historischen System von Kolonialismus und Imperialismus wurzelt, das nicht nur globale Ungleichheiten, sondern auch planetare Zerstörungen hervorgebracht hat (Brand / Wissen 2017). Die seit der Jahrhundertwende aufflammende globale Krise mit ihren mannigfaltigen Aspekten konnte in den 1990er-Jahren in ihren heutigen, erschreckenden Ausmaßen nicht vorhergesehen werden (vgl. Kennedy 1997). Die Unfähigkeit, in die Zukunft zu blicken und die erschreckenden globalen Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte zu erahnen, ist eine tatsächliche Unfähigkeit. Rückblickend das volle Ausmaß der kolonialen Gewalt der deutschen Vergangenheit und deren langfristige Auswirkungen zur Kenntnis zu nehmen, jedoch eine gewollte. Seyfrieds Herero ist durch die Art und Weise, wie der Text die im Titel angekündigte Fokussierung der Erzählung doch verfehlt, ein negatives Bespiel für einen Historismus manqué, dessen Blindheit für die Gegenwart und unmittelbar bevorstehende Zukunft nun vollends offensichtlich wird. Der Roman kann daher als Ansporn fungieren an eine Lektüre der jüngsten literarischen Darstellungen des Deutsch-Namibischen Kriegs nicht nur historisch-kontextualisierend, sondern auch gegenwartsorientiert und daher mit einem geschärften Bewusstsein für lebendige Verbindungslinien heranzugehen.

In diesem Sinne untersucht die vorliegende Studie diejenigen literarischen Strategien, die die heutige Herero-Fiktion dazu befähigen, eine affektive Verbindung zu Ereignissen und Subjekten herzustellen, die sowohl zeitlich als auch geografisch weit von unserer Gegenwart entfernt sind. Um dieses Projekt voranzutreiben, wird eine Neuauflage des Jauß’schen Ansatzes der Rezeptionsästhetik unternommen. In Literaturgeschichte als Provokation (1970) nimmt Jauß die historischen „Erwartungshorizonte“ sukzessiver Momente der Textrezeption unter die Lupe, um deren „Wirkungsgeschichte“ aufzuzeigen. Der „Erwartungshorizont“, der heutzutage die Lektüre der hier untersuchten Herero-Fiktion steuert, wird durch zweierlei Faktoren bestimmt: einerseits die sich verringernde Entfernung zwischen Afrika und Europa im Zuge einer gewaltigen afrikanischen Migrationswelle, die künftig eher zu- als abnehmen wird (Smith 2019; UNDP 2019), andererseits die zunehmende Bedeutung Afrikas für Europa im Hinblick auf Rohstoffe (Dennin 2013). Angesichts einer gegenwärtigen Wiederkehr der vergessenen (wenn nicht ganz unterdrückten) Nähe zu Afrika bezüglich der Themen „Demografie“, „Sicherheitspolitik“, „Ressourcen“ und „Klimamigration“ (vgl. Auswärtiges Amt 2019; Smith 2019; UNDP 2019) ist eine wieder relevant gewordene „Poetik der Relation“ (Glissant 1990) gefragt. Eine solche „Poetik der Relation“ könnte eine kreative Plattform bieten, auf der affektive Verbindungen zu Afrika wiederaufgebaut werden können. Zweck dieses Wiederaufbaus von affektiven Verbindungslinien wäre die Stärkung von gemeinsamer Handlungsfähigkeit zusammen mit einem Afrika, das lange Zeit bewusst von Europas Außengrenzen ferngehalten wurde. Ein solcher Wunsch ist keine utopische Träumerei, sondern benennt eine notwendige geopolitische Trendwende, die sich beispielsweise in den jüngsten „Afrikaleitlinien“ der Bundesregierung abzeichnet: „Das Wohlergehen Europas ist mit dem unseres Nachbarn Afrika untrennbar verbunden“ (Auswärtiges Amt 2019: 2). Mit Blick auf solche geopolitischen Entwicklungen ist es wünschenswert, dass im Bereich des ästhetischen Schaffens eine „Ästhetik der Proximität“ (West-Pavlov 2018) neben einer nach wie vor politisch notwendigen Ästhetik der kritischen „Distanz“ (Felski 2015) in Erscheinung tritt. An dieser Stelle macht die sokratische Tradition des kritischen Fragens Platz für eine genauso wichtige Philosophie des Antwortens, die auf einer gegenseitigen Nähe und „Responsivität“ basiert (Waldenfels 1994).

Solch eine Ästhetik der Nähe ist von elementarer Wichtigkeit in einem Zeitalter, das von „bürgerlicher Kälte“ (Adorno 1971: 100–2) und einer „globalen Gleichgültigkeit“ (Neumann 2017) geprägt ist. Sowohl innerhalb der Grenzen Europas wie auch zwischen Europa und seinen nicht-europäischen Nachbarn herrschen wütende Diskriminierung bzw. Ausbeutung und eine erschreckende Gleichgültigkeit angesichts dieser Zustände.

Zunächst lässt sich in Deutschland zunehmend ein Eindruck der Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts feststellen. Diesbezüglich sagt die Meinungsforscherin Renate Köcher über die 30- bis 59-Jährigen: „Wenn die mittlere Generation das gesellschaftliche Klima beschreibt, dann hat man das Gefühl, sie fröstelt“ (Mair 2018). Und Köcher weiter:

Die mittlere Generation ist wie die gesamte Bevölkerung im Zwiespalt zwischen der wachsenden Zufriedenheit mit der materiellen Situation und dem Unbehagen über die Entwicklungen in Gesellschaft und Politik. […] Das gesellschaftliche Klima entwickelt sich nach dem Eindruck der mittleren Generation kritisch. Sie diagnostiziert vor allem […] zunehmende Vorbehalte gegenüber Ausländern; zunehmende Rücksichtslosigkeit und weniger Hilfsbereitschaft; weniger Zusammenhalt in der Gesellschaft. (Köcher 2018: 1)

Diese weit verbreitete „bürgerlicher Kälte“ ist besonders ausgeprägt in Verbindung mit ausländischen Menschen, egal, ob sie sich noch in der eigenen Heimat befinden oder bereits in Deutschland eingereist sind.

Eine solche „Kälte“ gegenüber Menschen ausländischer Herkunft manifestiert sich beispielsweise in den Parolen ausländerfeindlicher Gruppierungen in der deutschen Gesellschaft: „In Dresden skandierten Bürger bei einer Versammlung von Pegida ‚Absaufen! Absaufen!‘ im Chor. Sie meinten das Schiff Mission Lifeline, das voller Geflüchteter tagelang im Mittelmer herumirrte“ (Topçu 2018: 1). Angesichts des Ausmaßes der sich weiterhin im Mittelmeer abspielenden Tragödie (gestorben waren bis Ende September 2018 fast 2.000 Menschen [Missing Migrants 2018], 2017 waren es mehr als 5.000, 2016 mehr als 3.000 und 2015 fast 4.000 [IOM 2016; IOM 2018]) eine erschreckende Gleichgültigkeit. Bezeichnend für diese Art „bürgerlicher Kälte“ steht die Aussage des damaligen südafrikanischen Justizministers Kruger zum Foltertot des „Black Consciousness“-Anführers und Anti-Apartheidaktivisten Steve Biko: „Dit laat my koud“ [„Das lässt mich kalt“] (zitiert nach Woods 1987: 214). Noch weiter zurück, zwar in der fiktiven Geschichte, jedoch ungefähr zeitgleich mit der Aussage Krugers, liegt Timms Beschreibung (2000 [1978]: 234 / 2020 [1978]: 244) des Offiziers der deutschen Schutztruppen Deimling als „kühl-distanziert“ gegenüber den afrikanischen Opfern. Solche „ungrievable lives“ (Butler 2004; 2009) sind per Definition die Leben derer, die von „uns, hier“ weit entfernt sind. Allzu oft sind das afrikanische Leben. Dazu kommentiert Achille Mbembe in Bezug auf Afrika, unseren Nachbarn:

Dans maints régimes modernes du discours et dans la connaissance, le terme „Afrique“ évoque presque automatiquement un monde à part; un monde avec lequel beaucoup de nos contemporains éprouvent de la difficulté à s’identifier; une réalité dont ils ne savent parler que sous une forme lointaine et anecdotique […] Pourquoi? Parce que, à leurs yeux, la vie en Afrique n’est jamais la vie humaine toute courte. Elle apparaît très souvent comme la vie d’autres gens dans quelque autre lieu, ailleurs. (Mbembe 2017b: 382)

Das Prinzip der „Entfernung“ und der „Distanz“ liegt dem Kolonialunternehmen und dem „Anspruch der Ansiedler, daß die ‚soziale Distanz‘ und das ökonomische Interesse mit allen Mitteln der Selbstjustiz durchgesetzt werden dürften“ (Bley 1968: 298), zugrunde. In den heutigen Einstellungen treten jene affektiven Strukturen der kolonialen „Distanz“ bzw. der „Kälte“ erneut zu Tage – an versetzten Orten, aber mit in vielerlei Hinsicht wesentlich unveränderten Inhalten. Bezüglich der ausweichenden Redewendungen, die von der Staatsministerin Pieper anlässlich der Übergabe menschlicher Überreste namibischer Provenienz 2011 verwendet wurden, notieren Kößler und Melber (2017: 65), dass „[d]ie Umstände des Todes der Menschen, deren Leichen im Dienste einer fragwürdigen Wissenschaft zerfleddert wurden, […] in dieser bürokratischen, offenbar vorgestanzten Sprache, die ständig auf die gleichen ungelenken Wendungen zurückfällt, nicht der Rede wert [erscheinen]“ – stattdessen manifestieren die neutralen Floskeln nur „Kühle, ja eisige Distanz“. Auch Wieczorek-Zeul (2017: 10) nennt die Formulierungen „respektlos und ohne jede Empathie“. Durch die Wortwahl sollte sowohl menschliche wie geschichtliche Nähe, die eine gefährliche, geschichtlich-moralische Verantwortung samt möglichem Handlungsdruck mit sich hätte bringen können, vermieden werden.

Man darf jedoch nicht vergessen, dass auf dem Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015, die eine nennenswerte Zahl Afrikaner*innen nach Deutschland brachte, auch eine Welle „bürgerlicher Nähe“ in Erscheinung trat. In Deutschland allein engagierten sich ca. sieben Millionen freiwillige Helfer*innen (Bade 2016: 73, 76) – d.h. fast zehn Prozent der Bevölkerung war die Situation der neu angekommenen Geflüchteten nicht gleichgültig. Mit einem Blick in die Vergangenheit könnte man an die „Solidarität“ vieler DDR-Bürger mit dem Befreiungskampf der SWAPO denken, die „[b]ei aller zentralistischen Steuerung […] vielen Menschen eine Herzenssache“ war:

Aus dieser Zeit bestehen weiterhin persönliche Freundschaften. Selbst ein ehemaliger hoher SWAPO-Funktionär, der später als Führer der oppositionellen SWAPO-Demokraten wahrlich keiner Sympathien für die sozialistischen Länder verdächtig ist, erwähnt die Herzlichkeit und Wärme, die ihn in der DDR empfing, die er damals als „zweite Heimat“ empfand.

Die „zahlreichen persönlichen Bindungen“ zwischen DDR-Entwicklungsarbeiter*innen und SWAPO-Mitgliedern, die in vielen Fällen noch bestehen, zeugen von einer Nähe zu Afrika, die über die Grenzen des Kalten Kriegs hinausgeht und bis in den heutigen Kontext reicht (Schleicher 2006: 126). Jedoch auch diese sehr erfreuliche Solidarität schrumpfte innerhalb relativ kurzer Zeit wieder zugunsten der erneut wachsenden Fremdenfeindlichkeit (Emnid 2017).

Im Deutschland der Jetztzeit findet diese Verschiebung weiterhin statt bzw. nimmt mit steigender Ablehnung gegenüber allen Ausländern, Migranten und Geflüchteten weiterhin zu (Decker / Brähler, Hg. 2018).

Das Phänomen der „Kälte“ und „Distanz“ ist nicht nur eine Sache der politischen Lager von Mitte und rechts bzw. der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten, sondern spiegelt sich auf höchster staatspolitischer Ebene wider. Die aktuelle Afrika-Politik Deutschlands ist ausschließlich auf die Bekämpfung von sogenannten „Fluchtursachen“ ausgerichtet. Das heißt, die vermeintliche Annäherung an Afrika, die in letzten Jahren umjubelt wurde, ist zum Teil nur eine Fassade für eine Strategie des Auf-Abstand-Haltens.

Der Wunsch nach Abstand geht klar aus den Formulierungen des Auswärtigen Amtes hervor:

Die globalen Migrationsbewegungen der letzten Zeit sind nur ein Beispiel von vielen: Die Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent können sich in kürzester Zeit ganz unmittelbar auf Deutschland und Europa auswirken. Eine nachhaltige außenpolitische Strategie muss darum umfassend ansetzen. (Auswärtiges Amt 2018)

„Unmittelbare Auswirkungen“ heißt im Klartext „Migrationsbewegungen“ nach Europa. Etwas vorsichtiger, aber dafür differenzierter formuliert, heißt es in den „Afrika-Leitlinien“:

Zum Gesamtbild gehört auch, dass Krisen und Auswirkungen von Konflikten in Afrika (Flucht, organisierte Kriminalität, Proliferation, Terrorismus, Piraterie u.a.m.) Europa und Deutschland immer unmittelbarer treffen. Wachsende Verbindungen zum Maghreb verstärken Probleme subsaharischen Ursprungs. Instabilität löst Migrationsbewegungen aus, die wiederum Menschenhandel und soziale Unruhen befördern. Die innen- und sicherheitspolitische Kooperation mit Afrika liegt in unserem nationalen Interesse. Wir können in einer vernetzten und globalisierten Welt, in einem Europa ohne Grenzen, Sicherheit in Deutschland nur dann gewährleisten, wenn wir auch in anderen Regionen dazu beitragen, rechtsstaatliche Strukturen und funktionierende Sicherheitsbehörden aufzubauen. (Auswärtiges Amt 2018a: 4; Hervorhebungen im Originaltext)

Die Aussage bleibt unverändert, wie die kursivierten Textstellen verdeutlichen: Afrika kann, wenn es in Berührung mit Europa kommt, ausschließlich als Bedrohung aufgefasst werden. Daher gilt als Hauptziel des deutschen Engagements in Afrika nicht etwa der reale Aufbau von mannigfaltigen und nachhaltigen Verbindungen und Kooperationen, sondern es soll vor Ort nur in die Verhinderung einer übermäßig starken Süd-Nord-Migration investiert werden und in nichts anderes. Eine globale Vernetzung der Welt wird aufgerufen, welche jedoch nicht in allzu ausgiebige, konkrete demografische (d.h. zwischenmenschliche) Kontakte münden soll. Auch Neuauflagen der bundesrepublikanischen Afrikapolitik betonen weiterhin nur die Absicht, „verstärkt die Fluchtursachen in Herkunftsländern [Afrikas] ressortübergreifend mit Instrumenten und Ansätzen der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik an[zu]gehen“ (Auswärtiges Amt 2019: 20; Hervorhebungen im Originaltext).

In solchen Absichtserklärungen ist wenig von der langen geschichtlichen Verbindung zwischen Europa und Afrika zu finden, wie sie etwa im Opus magnum von Braudel (1990) zum Mittelmeer als geschichtsträchtigem kontinentübergreifenden Kultur- und Handelsraum dargelegt wird. Stattdessen wird zwischenmenschlicher Kontakt bzw. Kulturkontakt als bloße Gefahr betrachtet. Nicht einmal Handelskontakte, die seit jeher eine zentrale Überbrückungsfunktion übernommen haben (z.B. Jardine 1996), fungieren hier als Plattform für menschliche Kontakte: Laut Zapf (2018) sieht die

deutsche Politik […] den wirtschaftlichen Aufbau inzwischen aus Angst vor einem Massenzustrom afrikanischer Migranten vorrangig durch das Brennglas der Migrationsabwehr. Merkel besucht nicht mehr den wichtigsten Handelspartner Südafrika, sondern die Transitländer Mali, Niger und Äthiopien 2017. Nun [d.h. 2018] sind es mit Senegal, Ghana und Nigeria drei Herkunftsländer westafrikanischer Flüchtlinge.

Angesichts der Tatsache, dass die Migration aus Afrika das Gesellschaftsbild Deutschlands zunehmend und immer sichtbarer prägt (Mikrozensus 2017; Obute 2017) und prägen wird (Smith 2019), ist es Ziel dieser Studie, einen innovativen literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansatz zu erproben, der der heutigen Sachlage Rechnung trägt. Die Studie nimmt Kenntnis von den rigoros historisierend-kontextualisierenden Ansätzen, die bislang die Analyse der Herero-Fiktionen geleitet haben, und übernimmt an vielen wichtigen Stellen ihr Wissen, verschiebt jedoch den Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Arbeit auf eine „präsentistische“ Lektüre der Texte (vgl. Grady / Hawkes, Hg. 2007) anhand einer affektorientierten Theorie literarischer Konnektivität. Der „präsentistische“ Ansatz stammt aus der Überzeugung, dass ein realistischer und nüchterner Blick auf die gegenwärtigen „Multikrisen“ und deren ungeheure Dringlichkeit die literaturwissenschaftliche Analyse leiten sollte. Damit geht eine Schwerpunktverschiebung von „fachinternen“ Größen – etwa ästhetischen Kriterien oder der Geschichte von Paradigmenwechseln innerhalb des Fachs – auf „fachexterne“ Faktoren als treibende Kräfte für die Rahmensetzung der Grundlagenfragen der Geisteswissenschaften einher (vgl. West-Pavlov 2018b). Dieser Ansatz arbeitet mit der Leitkategorie der Konnektivität und greift daher auf eine lange theoretische Tradition zurück, die im Folgenden näher erläutert werden soll.

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