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1.2 Thesen der Studie

Die Witbooi-Bibel veranschaulicht im Kontext der kulturpolitischen Bestrebungen und Transformationen, die zur Rückgabe führten, die drei Hauptthesen der vorliegenden Studie zur Rolle des „Affekts“ im deutschsprachigen Roman der Gegenwart zum Thema Herero- bzw. Nama-Genozid 1904 bis 1908:

Metahistorische Romane sind Texte, die gezwungenermaßen die Spannung zwischen Fakt und Fiktion besetzen. Und zwar nicht unbedingt ausschließlich mit dem Ziel, eine historische Wahrheit zu Tage zu fördern oder aufzuarbeiten, sondern eher, um die Verbindung zwischen einem bzw. einer Leser*in einer fiktiven Geschichte und einer „wahren“ Geschichte zu überprüfen. D. h. letztendlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu forschen. In den hier untersuchten Textbeispielen geht es darum, in welchem Verhältnis der bzw. die Leser*in mittels des Texts zum Deutsch-Namibischen Krieg und zum Genozid der Herero- bzw. Nama-Völker in Deutsch-Südwestafrika vor über hundert Jahren steht.

Metahistorische Romane arbeiten auf den kognitiven Ebenen der Repräsentation, d.h. wie ein historischer Inhalt textuell dargestellt wird, und der Hermeneutik, d.h. wie der Rezipient der Darstellung diese Darstellung entschlüsselt bzw. interpretiert. Diese Ebenen entsprechen den Disziplinen der Diskursanalyse (Zima 1989) und der Rezeptionsästhetik (Jauß 1970). Allerdings arbeiten solche metahistorischen Romane nicht nur auf diesen zwei Ebenen. Sie wirken gleichzeitig auch auf der „affektiven“ Ebene, d.h. mit der Art und Weise, wie die Verbindung zwischen Text und Leser, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Romanfigur und interpretierendem Subjekt inszeniert und transformiert wird. Die Verbindung gilt dabei nicht als eine vorgegebene Größe, sondern stellt ein dynamisches Wirkungsfeld dar und bleibt als solches stets beweglich und unstabil. Der „Affekt“ meint hier, laut Spinoza (1972: 157), „die Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erregungen“; solche Änderungen des Tätigkeitsvermögens des Körpers werden durch die Tätigkeiten eines anderen Körpers erregt, so dass der „Affekt“ zwangsläufig die transformative Beziehung zwischen mindestens zwei Körpern bezeichnet. Im Rahmen dieser Studie wird ein erweiterter Affektbegriff vorausgesetzt und verwendet. Der „Affekt“ bezeichnet nicht nur Emotionen („Gefühle“) zwischen Menschen, sondern auch anderes „Gefühltes“: Solches, das nicht bewusst wahrgenommen wird, und ebenfalls solches, das zwischen nicht-menschlichen Körpern, auch nicht-lebendigen Körpern verkehrt, so dass jenes „Gefühltes“ nur anhand seiner Konsequenzen abgelesen werden kann. Der „Affekt“ ist überall wirksam als grundlegender Baustein der materiellen Realität in ihrer Dynamik (West-Pavlov 2019); er wirkt dank der räumlichen Nähe bzw. der materiellen Kausalität und bewirkt die Komplexität der „Emergenz“ der natürlichen Welt (Prigogine / Stengers 1980). Er ist wirksam auch im, um und durch den literarischen Text. Der literarische Text kann Affekte im engeren Sinne erwecken und daher im breiteren Sinne, im Rahmen anderer „Affektnetzwerke“, Effekte bewirken. Im Kontext der vorliegenden Studie geht es zum einen um eine radikal erneuerte Beziehung zur Kolonialvergangenheit. Einerseits zu Deutsch-Südwestafrika, der Kolonie, in der der Genozid stattgefunden hat, aber auch ganz konkret zum heutigen Namibia im Sinne einer Bewusstmachung der bestehenden Verhältnisse und Annäherung zwischen den Ländern im Zuge des aufkommenden Globalen Südens.

In dieser Hinsicht bezeichnet der literarische „Affekt“ nicht nur die „Gefühle“, die anhand literarischer Figuren registriert oder beschrieben werden, oder die Gefühle, die vom Leser bzw. der Leserin bei der Lektüre empfunden werden, sondern primär die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen sowie die daraus entstehenden Transformationen eines jeglichen Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dementsprechend beschreibt der literarische „Affekt“ ferner die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen zwischen Subjekten in der Vergangenheit und Subjekten in der Gegenwart und schließlich die unergründlichen Innovationen, die in der Zukunft dadurch hervorgebracht werden können. Der „Affekt“ birgt daher das Potenzial für eine Veränderung der durch geschichtliche Ereignisse scheinbar vorbestimmten Verhältnisse. Der „Affekt“ beantwortet letztlich die Frage Bhabhas (1994: 212), „wie das Neue in die Welt kommt“. Er bildet eine Basis für einen textanalytischen und kulturpolitischen Ansatz, der die Geisteswissenschaften aus der Sackgasse der trotzdem nach wie vor unabdingbaren Diskursanalyse und der damit einhergehenden Ideologiekritik (vgl. z.B. Felski 2015; McDonald 2018) bringen kann, und welcher sich mit einem positiven Ausgangspunkt der grundsätzlichen Vernetzung und deren transformativer Wirkung verbindet.

1.3 Struktur der Studie

Der erste Teil der Studie besteht aus einer theoretischen Einleitung (Kapitel 2) und einer gegenwärtigen diskurspolitischen Kontextualisierung (Kapitel 3), die die Grundlagen für die anschließenden Textanalysen bilden.

Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen gelegt. Hier dient zunächst Gerhard Seyfrieds Roman Herero (2003) als Folie für die theoretische Erörterung der Studie. Eingangs wird der allgemeine Kontext der heutigen Literaturwissenschaft skizziert, vor allem die gegenwärtige Multikrise, einschließlich der deutsch-afrikanischen Beziehungen, die zunehmend in das Blickfeld der Geisteswissenschaften gerät. Vor allem im Bereich der heute gängigen literaturwissenschaftlichen Ansätze, die meist historisch-kontextualisierend arbeiten, werden Desiderata aufgezeichnet, so dass der Bezug zum heutigen Moment oft verloren geht. Im Gegensatz dazu entwirft und erprobt die vorliegende Studie einen affektorientierten Ansatz, in dessen Zentrum ein erweiterter Affektbegriff steht.

Im dritten Kapitel wird, nach einem einführenden Exkurs zum Familienroman Hellmut Lemmers, Der Sand der Namib (2014), eine ausführliche Analyse der Bundestagsdebatten zu den Beziehungen zu Namibia unternommen, um so das Fundament für die im zweiten und dritten Teil der Studie folgenden Analysen sechs weiterer belletristischer Fallstudien zu legen und sie in den heutigen Kontext einbetten zu können. Ausschlaggebend für diese Untersuchung ist weniger die sehr vorsichtige und ausschließlich „privat“ gemeinte Entschuldigung, die von der damaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul in Namibia 2004 ausgesprochen wurde, als vielmehr die Nähe zu den fast gleichzeitig stattfindenden Debatten im Bundestag über den Armenienvölkermord (Jelpke et al. 2015). Es zeigt sich, dass in vielen der herrschenden Diskursmuster Distanz, Gleichgültigkeit und Überheblichkeit, wie gegenüber den heutigen namibischen Verhandlungspartnern, spürbar sind, die in etlichen Hinsichten koloniale Züge aufzeigen.

Der zweite Teil der Studie ist dem für diese Untersuchung als paradigmatisch geltenden Roman Uwe Timms aus dem Jahre 1978, Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]), gewidmet. Die Kapitel vier und fünf bauen auf die gegenwartsbezogene (geo-)politische Diskursanalyse der Bundestagsdebatte auf, um eine affektorientierte Textanalyse des Romans zu unternehmen. Es wird gezeigt, dass die Montage-Methode Timms nicht nur einen epistemisch-historischen „Verfremdungseffekt“ erzeugt, sondern dass das Nebeneinander von Textfragmenten verschiedener Gattungen ein Modell liefert, welches das In-Bezug-Setzen von disparaten geschichtlichen Epochen und anscheinend auseinanderliegenden Völkern, Dingen und Lebensweisen konkret werden lässt. So entwirft Timms Roman auf dem Hintergrund des Deutsch-Namibischen Kriegs und des Herero- bzw. Nama-Völkermords ein Konzept für einen auf dem komplexen, dynamischen Gewebe des Lebens beruhenden erweiterten Affektbegriff.

Im Anschluss an die Analyse von Morenga werden im dritten Teil der Studie fünf andere Romane aus drei Jahrzehnten untersucht, ausgehend von Dietmar Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) und Giselher W. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994) (Kapitel 6), über Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003) (Kapitel 7) sowie Andrea Paluchs und Robert Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) (Kapitel 8) bis hin zu Bernhard Jaumanns Der lange Schatten (2015) (Kapitel 9), um die verschiedenen Gestaltungsformen der affektiven Verbindungsmodi zur afrikanischen Vergangenheit bzw. Gegenwart darzulegen. Die affekttheoretischen Ergebnisse fallen insgesamt bei aller Komplexität der Texte ernüchternd aus, zeigen jedoch auf, inwiefern die Verwobenheit der zwei Kulturen trotz der Entfernung voneinander über ein Jahrhundert weiterbesteht.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Morenga seiner Zeit weit voraus war und bis heute ist. Timm „hat […] den Roman nicht als Parabel auf seine Zeit angelegt, und so konnte und kann der Roman weit über seine Gegenwart hinausweisen“, so Habeck (2020: 474) in seinem Nachwort zur jüngsten dtv-Ausgabe des Romans. Timms Hauptfigur Gottschalk entwickelt eine starke affektive Verbindung zum Land Südwestafrika und zu seinen Bewohnern, kann dies jedoch nicht in eine grundsätzliche persönliche Haltung bzw. Lebenspraxis umsetzen – was zugegebenermaßen zu der Zeit, in der der Roman spielt, sowieso fast unmöglich gewesen wäre. Da wo Gottschalk als Figur scheitert, gelingt es aber Timms Text, ein Bündel affektbasierter Schreibstrategien darzubieten, die das kompensieren, was die Figur selbst nicht kann. Diese textuellen Strategien deuten – wohlgemerkt – bereits Mitte der 1970er-Jahre das an, was spätestens heutzutage aufgrund der zunehmenden Verflechtung der beiden Kontinente miteinander an positiven politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Strategien notwendig wäre, um die bestehende Distanz in eine genuine, gleichberechtigte Zusammenarbeit umzuwandeln. Der zukunftsträchtige Charakter der Timm’schen Strategien tritt umso stärker in den Vordergrund, je affektarmer die textuellen Strategien der nachfolgenden Fiktionen des Deutsch-Namibischen Kriegs ausfallen.

Mit teilweiser Ausnahme von Jaumanns Krimi Der lange Schatten (2015) wird in den Texten eine große Distanz zu den dargestellten afrikanischen Bevölkerungen stillschweigend vorausgesetzt und durch die textuellen Strategien der Fiktionen aufrechterhalten. Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) verwendet einen Protagonisten, dessen hybride Identität eine affektive Anschlussstelle für den erzählerischen Einblick in die Welt der nicht-weißen Beteiligten am Deutsch-Namibischen Krieg bietet, solche Einfühlungsperspektiven jedoch in abstrakten Verbündnisträumen verpuffen lässt. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994) ist von einem Deutsch-Namibier verfasst, so dass man von einer gewissen affektiven Nähe zu den afrikanischen Protagonisten ausgehen könnte. Diese Annahme ruht auf der empathischen Darstellung des Herero-Lebens, teilweise untermauert durch eine pseudo-autobiografische Stimme. Es bleibt aber bis zum Ende unklar, inwiefern das hier wortwörtlich verflochtene deutsch-namibische Schicksal ein residuales koloniales Wissen in Erscheinung treten lässt, das in eine unterschwellige Bejahung des Untergangs des Herero-Volkes mündet und auf diese Weise nicht dessen Ferne, sondern vielmehr dessen Abwesenheit postuliert. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003), Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) und Lemmers Der Sand der Namib (2014) sind deutsche Familienromane, welche durch die generisch bedingte Selbstfokussierung auf die deutsche Seite jener „Verflechtungsgeschichte“ zwangsweise die afrikanische Seite mehr oder weniger ausblenden. In diesen Romanen bleibt Afrika weitgehend fernab der deutschen Realitäten von heute.

Fazit: Morenga ist nicht grundlos nach wie vor bei der deutschen Leserschaft beliebt, wie die seit vier Jahrzehnten konstant bleibenden Verkaufszahlen und regelmäßigen Neuauflagen (zuletzt Anfang 2020 mit einem Nachwort von Robert Habeck) zeigen. Diese Beliebtheit beruht darauf, dass der Roman ein Publikum anspricht, das einer affektiven Beziehung zur Vergangenheit und Gegenwart Afrikas offen gegenübersteht, auch wenn er durch seine Montage-Technik keine leichte Kost ist. Bleibt Morenga vielleicht deshalb so erfolgreich, weil die affektive Arbeit, die der Roman leistet, nach wie vor ein Desiderat sowohl in der deutschsprachigen Belletristik als auch in der deutschen Außen- bzw. Kulturpolitik darstellt?

1. Teil: Theorie, Methode und Kontext

2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie

Im Jahr 2003, kurz bevor sich der Beginn des Deutsch-Namibischen Kriegs zum hundertsten Mal jährte, wurde Gerhard Seyfrieds knapp betitelter Roman Herero mit großer medialer Wirkung veröffentlicht. Auf die gebundene Ausgabe im Frankfurter Eichborn Verlag folgte 2004 eine Taschenbuchausgabe im Berliner Aufbau Verlag, was darauf hindeutet, dass der Roman ein Verkaufserfolg war. Der Roman präsentiert sich als penibel recherchierte und historisch genaue Wiedergabe des damaligen Geschehens (Seyfried 2003: 4; Thomma 2003) und evoziert somit zwangsläufig die ewige Frage des Verhältnisses von Fakt und Fiktion (vgl. Koschorke 2012; Roesch 2013). Herero löst jedoch seine Versprechungen in einem wichtigen Bereich nicht ein: Die titelgebenden Herero zeichnen sich durch Abwesenheit in weiten Teilen der Handlung aus. Diese auffällige Diskrepanz bietet einen fruchtbaren Einstieg in die Materie der theoretischen und methodologischen Fundierung der vorliegenden Studie.

2.1 Seyfrieds Herero und die Unsichtbarkeit der Herero

Seyfrieds Herero beeindruckt durch den Umfang von 600 Seiten und die Fülle an Material, die es erlaubt, den Deutsch-Namibischen Krieg in seiner Anfangsphase als quasi-welthistorisches Ereignis zu präsentieren. Der versprochene historische Wahrheitsgehalt wird durch verschiedene narrative Methoden unterstützt: Der Roman ist mit Landkarten (Seyfried 2003: Buchdeckel innen), Fotografien (ebd.: 119, 269, 334, 360, 361, 406, 431, 432, 468; allerdings nicht in der Taschenbuchausgabe von 2004), Skizzen (ebd.: 50, 154, 156, 198, 233, 330, 336, 350, 380, 382, 455, 494, 506, die ebenfalls in der Taschenbuchausgabe fehlen), Glossaren (ebd.: 594–601) und Quellenverzeichnissen (ebd.: 602–5) ausgestattet; der Text ist voll von Bezügen zu wahren Begebenheiten, geschichtlich belegbaren Orts- und Personennamen sowie technischen Beschreibungen: „Fast nichts an meinen Schilderungen ist fiktiv“, so Seyfried in einem Interview. „Es stimmt alles so weit wie möglich. Ich habe all die Jahre recherchiert und gut 250 Bücher durchgeackert. Die Figuren sind nahezu alle historisch“ (Thomma 2003).

Angesichts des Anspruchs auf Historientreue und insbesondere des programmatisch anmutenden Titels ist es umso bemerkenswerter, dass die vermeintlich im Vordergrund stehenden Herero selten vorkommen. Ein Abschnitt des Romans Seyfrieds (2003: 200–1) mit dem Titel „Brandungsneger“ steht in außerordentlich scharfem Kontrast zum Beginn von Uwe Timms Morenga (2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9), in dem Gottschalk auf dem Rücken eines Eingeborenen durch die Brandung zum Strand getragen wird, und zu einer analogen Textstelle in Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen (2004: 18). Da, wo Timm und Paluch / Habeck die affektive Reaktion Gottschalks bzw. Arabellas auf den intimen Kontakt zwischen den Körpern schildern (ausführlicher wird hierauf in den Unterkapiteln 5.3, 5.5.2 und 8.3 eingegangen), fällt bei Seyfried die völlige Abwesenheit der afrikanischen Träger ins Auge. Ausführlich geschildert wird jedoch die Neugier des Protagonisten Seelig, ob die „Brandungsneger“, die an Bord des Schiffs kommen sollen, tatsächlich sehr schwarzhäutig seien („Bloß braun wäre enttäuschend, aber so richtig schwarz, das muss seltsam aussehen“; ebd.: 201). Die afrikanischen Arbeiter erscheinen allerdings gar nicht. Sie kommen nicht einmal in Sichtnähe, geschweige denn in intimen körperlichen Kontakt mit den Deutschen. Gottschalks erste Auseinandersetzung mit einem solchen Körperkontakt („Er ekelte sich“; Timm 2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9) bahnt den Weg für eine Entwicklung hin zur Vertrautheit mit dem „Geruch nach Erde, Sonne und Wind“ seiner Nama-Geliebten Katharina (ebd.: 254 / 265); ähnlich funktioniert Arabellas Entdeckung, „daß sich die Haut anfühlte, als wäre sie weiß“ (Paluch / Habeck 2004: 18), als leise Andeutung auf die spätere Beziehung zum aufständischen Assa. Im Gegensatz dazu steht Seyfrieds imaginäre Beschreibung der nicht vorhandenen Eingeborenen als geradezu paradigmatisch für die weitgehende Unsichtbarkeit der Afrikaner in einem Roman, der dennoch ihren kollektiven Namen trägt. Da wo Timm und Paluch / Habeck einen viszeralen Affekt beschreiben, der Teil eines Transformationsprozesses ist, der nicht nur andere Menschen, sondern auch das Land und die Umwelt miteinschließt, „schaut“ die Seyfried’sche Figur „gierig hinüber“ (2003: 201) zu einer entfernten, menschenleeren Küste, die somit lediglich als „durchaus paradiesisch[er]“ Gegenstand der kolonialen Raffgier erscheint (ebd.: 201).

Gerade in diesem Widerspruch zwischen der Verwendung des Kollektivnamens und der Abwesenheit der Herero spiegelt sich die grundlegende Ambivalenz in Seyfrieds Roman in Bezug auf die Darstellung der Afrikaner. Einerseits wird durch die häufige Verwendung der erlebten Rede ein unmittelbarer Zugang zum Bewusstsein der wenigen beschriebenen Herero-Figuren suggeriert. Ein solcher Zugang wird sehr früh im Roman anhand der Perspektive der Fokalisierungsfigur Petrus gezeigt, die stellvertretend für einen bestimmten Blickwinkel steht:

Petrus […] läuft auf dem heißen Sand durch den lichten Busch, vermeidet, ohne recht achtzugeben, die scharfkantigen Steine und die nadelspitzen Dornen und denkt dabei an Osona und das große Palaver. Wichtig ist die Häuptlingsnachfolge, das hat man auch überall den Deutschmännern erzählt, aber beim Palaver in der Oganda Osona wird es um etwas viel, viel Wichtigeres gehen. Um was es da geht, das hat den Deutji keiner gesagt, das sollen sie nicht wissen. Nur die schwarzen Menschen wissen, daß es um die große Angst und um die große Wut geht und um die gelben Dinger [d.h. um die Weißen]. Es geht um die Otjirumbu [d.h. um die gelben Dinger, die Weißen]. (Seyfried 2003: 21)

Die erlebte Rede, die eine auktoriale narrative Perspektive mit einer Figurenperspektive verschmelzen lässt (Fludernik 1993), erzeugt ein Gefühl der unvermittelten Nähe zur Erlebniswelt der Figuren. In dieser Textstelle bietet die erlebte Rede einen Zugang zur Welt der Herero, den die zeitgenössischen Deutschen nicht besitzen. Dementsprechend sagt der Autor in einem Interview, „Es geht mir um die Nähe zu dieser Zeit, auch in der Sprache und im Stil“ (Thomma 2003). Und somit liegt Loimeier (2004: 40) zum Teil falsch, wenn er behauptet, dass „die Leser […] nur durch die deutsche Brille vom Krieg in Namibia [erfahren]. Die andere Seite der Medaille – also die Perspektive der Nama und Herero – bleibt vollkommen ausgeblendet.“ Wird doch immer wieder eine, wenn auch künstliche afrikanische Sicht der Dinge in die Erzählung eingebaut.

Loimeiers Einschätzung ist aber zum Teil auch richtig. Denn andererseits wird durch die erlebte Rede bzw. die eigenen Aussagen der Herero-Figuren eine unüberwindbare Fremdheit generiert. Wie durch die soeben zitierte Stelle ersichtlich wird, stört der Einschub von nicht unmittelbar verständlichen Begriffen aus der Herero-Sprache oder die Verwendung ungewöhnlicher semantischer und syntaktischer Strukturen (z.B. „Deutji“, kindisch klingende Verdopplungen usw.) die angeblich mehr oder weniger direkte Vermittlung der Figurengedanken. Somit bleiben sie dem bzw. der Leser*in in dem Moment, in welchem er oder sie der afrikanischen Subjektivität am nächsten kommt.

Diesbezüglich merkt Habeck (2004) an:

[D]ie Schilderung erfolgt nicht mit dem Blick des Weißen (was wohl so sein muss), sondern bestätigt exakt die Erwartungshaltung, mit der man auf Safari geht, um eine seltene Spezies zu besichtigen. Seyfrieds Versuch, den schwarzen Blick zu kopieren, reproduziert das Klischee des Naturmenschen, also den einfachen Gegensatz von Zivilisation und Wildnis.

Vor allem mit Bezug nicht nur auf die Geschichtlichkeit der Ereignisse, sondern vielmehr auf das Geschichtsbewusstsein der fiktiven Herero wird eine unmessbare Ferne herbeigeführt. Seit der Niederlage am Waterberg ist laut einer der Figuren „der Mond einmal rund geworden und wieder ganz mager und noch einmal rund, und bald wird er wieder mager sein“ (Seyfried 2003: 574). Das Zeitbewusstsein der Herero-Figuren bleibt, so der Text, in einer zyklischen, d.h. nicht-linearen und daher vermeintlich primitiven Logik der natürlichen Welt verhaftet (vgl. Fabian 1983: 30; Ricoeur, Hg. 1975). Nur mit großer Mühe kann die Zeit bemessen werden: Die Figur Petrus „zählt so an die vierzig Sommer“ (Seyfried 2003: 21). Seyfrieds Herero-Figuren verharren in einem nicht ganz zeitlosen, doch nur partiell geschichtlich strukturierten Raum (vgl. Hermes 2009: 232–3). Daher die Ambivalenz der Darstellung: Der Roman gibt vor, den Herero-„Aufstand“ bis in die kleinsten geschichtstreuen Details dazustellen und lässt eine Art experientielle Nähe zu den Gegnern zu, schließt sie aber zugleich aus der Geschichtlichkeit der Geschichte aus. Das „afrikanische“ Afrika ist, wie bei Hegel (1961: 163), „kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung oder Entwicklung aufzuweisen.“ Die Geschichte Südwestafrikas wird „hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt“ (ebd.: 163) und bleibt letztendlich eine europäische Geschichte. Dem Afrikaner dagegen wird eine Teilhabe an jener Geschichte nicht gewährt; sein Wesen ist das eines „Geschichtslose[n] und Unaufgeschlossene[n], das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist“ (ebd.: 163). Die Herero werden somit in eine unüberbrückbare geschichtsphilosophische Ferne verbannt, die die Illusion der Erfahrungsnähe untergräbt. Die Erfahrungsnähe dient schließlich nur der epistemologischen Autorität der Erzählung, die es erlaubt, die Herero als historische Objekte (etwa nach dem Muster der „Geschichte und Gebräuche“, denen das Interesse Ettmanns gilt [Seyfried 2003: 37]) aus unmittelbarer Nähe zu kennen. Sie selbst treten nicht als historisch bewusste Subjekte auf und bleiben dem deutschen Publikum mentalitätstechnisch und geschichtsbegrifflich anhaltend fern. Es ist kein Zufall, dass es am Ende der Erzählung heißt: „Petrus blieb verschollen“ (ebd.: 592).

Somit kann Seyfried schließlich den Völkermord an den Herero bzw. Nama relativieren und als geschichtliches Faktum weitgehend verdrängen (Hermes 2009: 237–40). Das eventuell aufkommende Gefühl der historischen Schuld bzw. der damit einhergehenden Verantwortung in Anbetracht einer zwangsläufig gemeinsamen Geschichte kann dabei vollständig ausgeblendet werden. Die strukturierende Ambivalenz von Seyfrieds Romans, die ein künstliches Gefühl der Nähe erzeugt, um es dann in ein Gefühl der Distanz umzukehren, kann als Symptom der heute allseits herrschenden Ambivalenz Deutschlands gegenüber Afrika im Allgemeinen und Namibia im Besonderen gedeutet werden: Afrika und Europa rücken im Zuge der wachsenden Migrationsströme immer näher zusammen, Deutschland wird sichtbar „afrikanischer“, der gefühlte Abstand bleibt jedoch erhalten und wird in rechtsradikalen Diskursen zusätzlich betont. Die „Politik der Annäherung“ an Afrika seitens der Bundesregierung entpuppt sich lediglich als Strategie der „Fluchtursachenbekämpfung“ oder ganz einfach als „Fluchtbekämpfung“ (Dünnwald et al. 2017). Im Folgenden fungieren diese strukturierenden Ambivalenzen und Spannungen zwischen Geschichtstreue und erlebter Stimmung, zwischen narratologisch generierter Nähe und geschichtsphilosophischer Distanz als konzeptuelle Einfassung des theoretischen und methodologischen Rahmens der vorliegenden Untersuchung.

Die Studie widmet sich gegenwärtigen literarischen Diskursen zum Deutsch-Namibischen Krieg und anschließenden Genozid im damaligen Deutsch-Südwestafrika 1904 bis 1908 anhand mehrerer zwischen 1978 und 2016 veröffentlichten Romane. Im Gegensatz zum herrschenden Forschungsansatz, der sich vornimmt, die Beziehungen zwischen der historischen Vorlage und der literarischen Fiktion nachzuzeichnen, um die öffentliche Meinung bezüglich der „Aufarbeitung“ des damaligen Völkermords – vor allem im Hinblick auf ein In-Bezug-Setzen des Herero-Genozids zum späteren Holocaust – widerzuspiegeln bzw. zu beeinflussen, werden hier die affektiven Dimensionen des schriftstellerischen Unternehmens, den Deutsch-Namibischen Krieg und den Völkermord an den Herero bzw. Nama mit literarischen Mitteln darzustellen, analysiert. Da Seyfrieds Roman Herero beide Aspekte der historischen Belletristik aufweist und versucht, wenn auch nur bedingt erfolgreich, sowohl historischer Treue wie auch nacherzählter Subjektivitätserfahrung gerecht zu werden, bietet der Text, wie bereits angeführt, einen passenden Einstieg in die Skizzierung des methodologischen und theoretischen Rahmens der Studie.

5 209,28 ₽
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9783823302322
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