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Читать книгу: «Fabeleien», страница 5

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Der Stiefvater

Im Wald, im tiefen dunklen Wald, lebte eine Witwe mit fünf Knaben. Das waren muntere Gesellen, die immer Unfug im Sinne hatten, immer darauf aus waren, etwas zu entdecken, zu erfinden, zu veranstalten. Wenn ein Sonnenstrahl durch das Dickicht brach, wenn ein Regentropfen auf die Erde fiel, wenn ein Windstoß hoch oben durch die Wipfel strich, gleich guckten sie, gleich horchten sie, gleich wollten sie hinaus ins Freie.

Die Mutter aber hütete sie ängstlich wie eine Gluckhenne ihre Küchlein. Sie war eine Frau nach der Frauen Weise, besaß viel Herz und wenig Verstand. So konnte sie sich durchaus nicht erinnern, wie sie denn mit ihren fünf Kindern in den Wald geraten war; alles Vorhergegangene hatte sie rein vergessen. Nur verworrene und undeutliche Vorstellungen über das, was jenseits lag, waren ihr geblieben, das unbestimmte Gefühl eines großen Unglücks, eines Sturzes aus lichten Höhen, aus einem selig leidlosen Leben in Nacht und Kümmernis. Selbst die Erinnerung an den verlorenen Gemahl, der ihr die fünf Kinder geschenkt hatte, war ihr aus dem Sinn entschwunden; sie hegte aber die Überzeugung, daß sie und er von gar hoher, glorreicher Abkunft sein müßten. Und ebenso trug sie im Stillen die gläubige Hoffnung, daß sie dereinst das selig leidlose Leben in den lichten Höhen wiederfinden werde.

Da sprangen eines Tages die fünf Knaben vor sie hin und riefen wie aus einem Munde:

»Mutter, was liegt jenseits des Waldes?«

»Jenseits des Waldes?«, sagte die Witwe erschrocken, und ihren armen Verstand wandelte gleich ein Schwindel an.

»Ja dort, woher der Wind weht und der Regen strömt und die Sonne scheint – was liegt jenseits des Waldes?«

Die Witwe besann sich gewaltig und sagte dann bange: »Jenseits des Waldes liegt die Welt!«

Als die Knaben dieses Wort hörten, jauchzten sie laut auf vor Entzücken.

»Die Welt! O Wonne und Glück! Die Welt! Wie süß das klingt! Wie das lockt und ruft! O Mutter ade! Wir gehen in die Welt, in die Welt, in die Welt!«

So sangen die Knaben und tanzten und sprangen.

»Kinder, Kinder!« rief die Witwe fassungslos. »Was fällt euch ein! Die Welt ist voll Grauen und Gefahren, habʼ ich sagen gehört; dort soll es Drachen geben, Menschenfresser und böse Feen. Kobolde gibt es dort und Wassermänner, die die Kinder zu sich hinunterziehen, und verzauberte Hunde mit Augen so groß wie Mühlenräder; und ein großer Wauwau geht herum, der steckt alle Kinder, die ihm begegnen, in seinen Rucksack –«

»Den schlagen wir tot, Mutter,« riefen die Knaben begeistert.

Und alle Einwendungen, die sie erhob, beantworteten sie mit dem gleichen weltseligen Mut, und waren nicht mehr zu bändigen vor Erwartung und Ungeduld, so daß die Witwe wohl einsah, ihre Warnungen fruchteten nichts. Zugleich war auch ihre Hoffnung lebendig geworden. Konnten nicht die Knaben in der Welt die verschollene Kunde von ihrer Vergangenheit aufspüren? Konnten sie nicht das Schloß ihrer Väter wiederfinden, die Stätte ihrer ehemaligen Glückseligkeit, wo sie alle von neuem herrlich und in Freuden leben würden?

Unter Tränen schnürte sie jedem ein bescheidenes Ränzlein; im Grunde ihres Herzens aber war sie stolz, daß sie fünf so tapfere, weltmutige Heldensöhne hatte.

Und die fünf Knaben zogen fort in die Welt.

Einsam blieb die Witwe im Walde zurück, in der tiefen, stillen, heimlichen Waldesmitte, wo ihre Hütte stand.

Eines Tages, als sie vor ihrer Haustür saß und an ihre fernen Kinder dachte, geschah es, daß jemand vorüberging. Es war der Waldsiedler, der in demselben unermeßlichen Wald wohnte, ein heiliger Mann und hochgerühmt an Gelehrsamkeit. Immer schon hatte sie darauf gesonnen, wie sie mit ihm in Verbindung treten könnte; aber eine innere Stimme verbot ihr stets, sich über den engen Bezirk ihrer Hütte hinauszuwagen.

Er blieb vor ihr stehen und sie fühlte ohne aufzuschauen, daß er seinen durchdringenden Blick auf sie heftete.

»Weib, du bist die Pforte der Hölle, weißt du das?« sagte er mit einer Stimme, die dumpf und drohend klang wie fernes Donnergrollen.

»O Verehrungswürdiger, ich bin nur eine niedrige Magd,« versetzte sie bebend, »aber wenn du mich lehren wolltest, wie man zur Pforte des Paradieses gelangt –«

»Weiberlogik!« antwortete er unwirsch und ging seines Weges.

Dieses artige kleine Gespräch machte auf die Witwe einen tiefen Eindruck. Mit wehmütiger Resignation dachte sie, daß er, der so hoch über ihr stand, wohl nicht geneigt sein dürfte, ein zweites Mal mit ihr zu reden.

Doch er kam wieder.

Täglich kam er wieder, und immer länger blieb er. Gemeinsam mit der Witwe wandelte er auf und nieder vor ihrer bescheidenen Hütte und ließ sein Licht leuchten vor ihrem bescheidenen Gemüt. Er redete und sie hörte zu. Seine Lippen troffen von dem Honigseim der Weisheit; aller Dinge Grund und Wesen war ihm offenbar, und kundig war er alles Wissens, das in Höhen und Tiefen zu finden. Sich selbst aber betrachtete er als den Mittelpunkt alles Seienden, als den Urquell aller Vortrefflichkeit, als das Erste und Letzte, neben dem nichts anderes bestehen kann.

Ehrfürchtig lauschte die Witwe seinen Worten. Sie war glückselig, daß sie ihren Herrn und Meister gefunden hatte, der sich herabließ, sie zu unterweisen und auf den rechten Weg zu leiten.

Nur in einem Punkte konnte sie zu keinem Einvernehmen mit ihm kommen. Das waren ihre fünf Kinder, die tapferen Knaben, die in die Welt gegangen waren.

Oft bebte das Mutterherz in Sorge und Ungewißheit, oder in Hoffnung und Erwartung, und dann wollte es überfließen in das Herz des Freundes, um Trost und Beruhigung von diesen gewichtigen Lippen zu empfangen.

Aber der strenge Meister duldete solche Anwandlungen nicht. Er hegte keinerlei Sympathie für die fünf Knaben. So oft die Witwe auf sie zu sprechen kam, runzelte er die Stirne; und er gähnte laut, wenn sie, wie Mütter gerne tun, von ihren lieben kindlichen Werken und Aussprüchen zu erzählen begann. Als sie aber einmal andeutete, die Knaben würden ihr vielleicht aus der Welt die verschollene Kunde von ihrer Herkunft und ihrer Bestimmung bringen, ergrimmte der heilige Mann. Denn in der Welt sei weder Wissen noch Weisheit zu holen; die Welt sei eitel Torheit und Blendwerk, ein Jammertal, ein Sündenpfuhl; dem Weisen gezieme es, sich von ihr abzuwenden und sie zu verachten. Über den verlorenen Gemahl der Witwe äußerte er sich noch viel abfälliger; er ließ durchblicken, daß der Vater solcher weltsüchtiger Rangen kein Fürst und Meister, sondern ein gleißender Verführer gewesen sei, ein Taugenichts und schlechter Kerl, dem sich die Witwe sehr zu ihrem Unheil ergeben habe. Und sie könne diesen Fehltritt nur gut machen, wenn sie ihren Sinn nicht länger an diesen Unwürdigen und seine Brut hänge, sondern sich im ausschließlichen Verkehr mit ihm zu reinigen und zu läutern strebe.

Die Witwe erschrak aufs Tiefste, und hütete sich fortan sorgfältig, von ihren Knaben zu reden. Dennoch brachte sie es nicht über sich, ihnen in ihrem Allerinnersten abtrünnig zu werden, und liebte sie wie vor und eh, selbst auf die Gefahr hin, daß ihr Vater nur ein Vagabund gewesen sein sollte.

Der Waldsiedler aber befestigte seine Herrschaft über die Witwe mit jedem Tage mehr, bis sie sich in den Gedanken zu ergeben begann, mit aller Vergangenheit und Zukunft abzuschließen, dem Waldsiedler die Hand zu reichen und Frau Waldsiedlerin zu werden.

Denn es war ihr nicht entgangen: er hatte es satt, unter den Bäumen auf dem kalten harten Boden zu übernachten, und seinen Hunger mit unverdaulichen rohen Wurzeln zu stillen; sie merkte wohl, er sehnte sich nach einer warmen Feuerstätte, nach einer guten Streu, auf die er sich hinstrecken konnte, wenn er müde war, nach einem bereitwilligen Gefäße, in das er überfließen konnte, wenn er sich mitteilen wollte, nach einem verschwiegenen Brunnen, aus dem er schöpfen konnte, wenn er leer war – ja, die Witwe merkte alles wohl, was er sich selbst nicht eingestand. Aber sie besaß zugleich die Klugheit, womit die gütige Natur die Einfältigen ausgestattet hat; und als er ihr antrug, sie »aus Gnade und Barmherzigkeit, zur völligen Errettung von ihrer dunklen Vergangenheit« zu heiraten, willigte sie ein, ohne zu fragen, ob es nicht auch andere Gründe gebe.

So schlössen die Beiden ihren frommen Bund. Der Waldsiedler zog in die Hütte der Witwe, predigte, fastete und betete und hielt seine Frau in der Zucht des Herrn.

Als nun die Witwe einmal allein zu Hause war, während ihr Gatte sich in den Wald begeben hatte, um zu meditieren, hörte sie von ferne ein helles Jauchzen und Singen wie von einem flatternden Nachtigallenchor.

Ein süßer Schreck durchfuhr sie: wer konnte so hell jauchzen und singen, wenn nicht ihre Kinder? Und sie riß Fenster und Türen auf und rief in den Wald hinaus; und als sie die Stimmen deutlicher vernahm, weinte sie vor Freude und lief den Ankommenden entgegen trotz ihrer Scheu und Schüchternheit.

Groß und schön kehrten die fünf aus der Welt zurück, voll Übermut und strahlender Lebenslust, so warm, so frisch, so blühend, daß sich die Witwe gar nicht satt sehen konnte.

»Daß ich euch nur wieder habe, Kinder, meine Kinder,« rief sie unter Lachen und Weinen. »Kommt, erzählt, wie geht es zu in der Welt? Nicht wahr, die Welt ist ganz abscheulich, ein Jammertal, ein Sündenpfuhl, aus dem weder Wissen noch Weisheit zu holen ist –?«

Da lachten die Knaben laut und riefen wie aus einem Munde:

»O Mutter, Mütterlein, die Welt ist schön, die Welt ist wunderschön, die Welt ist voll ewiger Herrlichkeit!«

Und der Kleinste trat hervor, breitete die Arme aus voll Entzücken und sprach:

»Die Welt ist schön, die Welt ist wunderschön, die Welt ist voll ewiger Herrlichkeit! Wo du sie fassest, findest du Form und Fülle; da wird dir so wohl, da wiegst du dich selig, da trinkst du das köstliche Flüssige, da atmest du wehende Lüfte, da wärmt dich die Sonne, da kühlt dich der Schatten. Die Welt, sie schwillt dir entgegen, sie umfängt dich mit schmeichelnden Händen – man muß sie erleben, man kann sie nicht schildern!«

Dann trat der Zweite hervor, breitete die Arme aus voll Entzücken und sprach:

»Die Welt ist schön, die Welt ist wunderschön, die Welt ist voll ewiger Herrlichkeit! Sie steht in Fruchtbarkeit und Erntesegen, sie bringt hervor unzählbare Kräuter und Früchte, und jegliche Art hat etwas Wunderbares, das nur ihr eigen ist, und das sie dir offenbart, wenn du sie in dich aufnimmst. So reich an solchen Süßigkeiten ist die Welt, daß keine Worte sie bezeichnen können. Man muß sie erleben, man kann sie nicht schildern!«

Dann trat der Dritte hervor, breitete die Arme aus voll Entzücken und sprach:

»Die Welt ist schön, die Welt ist wunderschön, die Welt ist voll ewiger Herrlichkeit! Und alla, was darin ist, verkündet sich und lockt dich an, wenn du dich näherst. Und wonnesame Blumen blühen überall; die hauchen ihren Atem aus gleich dem Weihrauch, der von den Altären emporsteigt zum Preise des Erschaffenen. Die Welt, sie ist ein duftender Garten; man muß sie erleben, man kann sie nicht schildern!«

Dahn trat der Vierte hervor, breitete seine Arme aus voll Entzücken und sprach:

»Die Welt ist schön, die Welt ist wunderschön, die Welt ist voll ewiger Herrlichkeit! Eine blaue Wölbung steht unermeßlich ausgespannt in den Höhen, und in den Tiefen unermeßlich ein silberner Spiegel, der umfaßt die dunkle Erde mit kristallener Klarheit. Und ein goldenes Licht wandelt durch die Welt, das aufgeht in Purpur und niedergeht in Scharlach; es gießt sich aus auf alle Dinge und spielt mit ihnen in tausend Farben. Sie kleiden die Welt in ein strahlendes Brautgewand, daß sie einhergeht mit Prangen als eine selige Königin!«

Dann trat der Fünfte hervor, breitete die Arme aus voll Entzücken und sprach:

»Die Welt ist schön, die Welt ist wunderschön, die Welt ist voll ewiger Herrlichkeit! Und alle Wesen bringen ihr einen jauchzenden Lobgesang – der Sturmwind, der einherfährt mit Brausen, und die Lüfte, die in den Bäumen säuseln, das Meer, das an den Küsten rauscht, und der Bach, der zwischen Wiesengründen rieselt, die Nachtigall, die im Gebüsche singt, und die Biene, die auf Blütenkelchen summt; doch über Sturmwind, Meer und Nachtigall erschallt der Lobgesang des Menschen. Denn er hat aus Geigen, Flöten, Harfen und Trompeten die Welt zum zweiten Mal erschaffen und kann ihr geheimstes Wesen, das stumm in ihr verborgen liegt, durch Harmonien offenbaren.«

Und sie reichten sich die Hände und schlössen singend und tanzend ihre Mutter ein.

»Die Welt ist schön, die Welt ist wunderschön, die Welt ist voll ewiger Herrlichkeit! O Mutter, Mütterlein, komm, komm mit, komm mit uns in die Welt!«

Die Witwe war bewegt. Sie hätte wirklich nicht übel Lust gehabt, mit den frischen, frohen Knaben gleich hinauszuziehen in die sonnige, wonnige, duftende Welt. Aber das ging nicht an ohne die Einwilligung des Waldsiedlers, ihres Herrn und Gebieters. Und war der nicht ein grimmiger Weltverächter?

Deshalb sagte die Witwe, als die Knaben sie immer ungestümer bedrängten, daß das ein gar folgenschwerer Entschluß sei, den sie nicht fassen könne ohne reifliche Überlegung. Denn es sei – die gute Frau wurde ein wenig verlegen – denn es sei, während sie in der Welt herumreisten und nichts von sich hören ließen, ein – ein Onkel zu ihr in den Wald gekommen, ein Mann von hohem Einfluß und Gewicht, dem alle Dinge der Welt kund und offenbar seien; der wisse genau Bescheid, und vielleicht, wenn sie ihn recht beweglich bäten –

Hier verstummte die Witwe, und das Herz wurde ihr schwer. Es schien ihr nicht ganz wahrscheinlich, daß der erhabene Waldsiedler irgend welchen beweglichen Bitten zugänglich sein könnte.

Die Knaben aber murrten: ein Onkel? Was für ein Onkel? Sie hätten ihr Lebtag nichts von diesem Onkel gehört!

»Das macht nichts«, sagte die Witwe. »Ihr habt noch gar vieles nicht gehört, was er euch lehren wird.«

»Wir brauchen aber nichts von einem Onkel zu lernen,« riefen die Knaben unmutig; »wir sind in der Welt gewesen!«

So kamen Mutter und Kinder in der Hütte an.

Da sagte der eine und horchte: »Was schnarcht hier in der Nähe so unangenehm?« und der Zweite, der die Kutte des Waldsiedlers an einem Nagel hängen sah: »Was hängt hier für ein graues Schlottergespenst und macht so griesgrämige Falten?« Und der Dritte und Vierte schnupperten mit gerümpften Nasen: »Was ist hier für eine schlechte Luft? Da riecht es so sauertöpfisch und muffig!« Und der Kleinste lief hin, befühlte die Kutte: »Was ist das für ein widerwärtiges Ding, daß einen ein Jucken ankommt, wenn manʼs nur berührt?«

In diesem Augenblick trat der Waldsiedler herein. Er war in einem hohlen Baum gestanden und hatte alles mit angehört. Ungnädig die Stirne runzelnd, blieb er unter der Türe stehen:

»Was ist das für ein unziemlicher Lärm? Was für ein Geplapper und Geplärr?«

Die Knaben rotteten sich trotzig auf ein Häuflein zusammen und starrten ihn feindlich an.

Mit den einschmeichelndsten, gewinnendsten Tönen ihrer sanften Frauenstimme stellte sie ihm die Witwe als ihre Kinder vor.

»Erhabener Freund,« sagte sie, »ich empfehle diese armen Waisen der unendlichen Huld und Gnade deines erleuchteten Sinnes! Gerade sind sie zurückgekommen und wissen gar Liebes und Schönes von der Welt zu erzählen. Sie sagen, o mein Gebieter, die Welt sei ein blühender Garten voll Duft und Licht und Wohlklang –«

»So? Sagen sie das?« versetzte der Waldsiedler ingrimmig. »Da werde ich sie gleich ins Gebet nehmen. Komm doch her, mein Kleiner –« er wollte sich den Jüngsten herbeilangen; der aber hub ein großes Geschrei an und flüchtete sich hinter die Rockfalten der Mutter, desgleichen der Zweite und Dritte.

Da zog der Waldsiedler eine schneidige Haselgerte, die er sich in wissender Voraussicht draußen geschnitten hatte, aus seiner Kutte und ließ sie durch die Luft pfeifen.

»Hei, meine Bürschlein, ich weiß, wie man euch kirre macht, ihr Ungeberdigen! Eine tüchtige Zuchtrute, das ist die beste Waffe für den, der Herr im Hause bleiben will.«

So redete der alte Waldsiedler und lachte höhnisch in seinen eisgrauen Bart.

»Ich werde euch die Annehmlichkeiten der Welt kennen lehren, ihr Prahlhänse! Dir werde ich das Röcklein ausziehen, du Kleiner, und dich nackt in die Brennesseln werfen, damit du deine Wohllüste vergißt; und dir, du Zweiter, werde ich Galle in den Mund träufeln, wenn du von den Süßigkeiten der Welt faselst; und dir du Dritter, werde ich brennenden Schwefel unter die Nase halten, wenn du die duftenden Gärten der Welt anpreisest –«

Die drei Kleinen stießen ein lautes Wehgeschrei aus; aber die zwei Größten traten hervor und riefen mutig:

»Halt ein, du Wüterich! Wenn du diese unverständigen Kinder bedrohst, hast du es mit uns zu tun, denn sie sind unsere Geschwister. Und uns – was könntest du uns beiden anhaben mit deiner Bosheit und Galle?«

»Auch ihr seid nichts als Lügenbolde und Faselanten! Höre mich, Frau, und merkʼ es dir wohl: an all dem, was diese Fünf sagen, ist kein wahres Wort! In Wahrheit ist die Welt nichts als eine finstere, ungeheuere Leere, in der ein wilder und wütender Dämon haust. Von ewig unstillbarer Wut erfüllt, sucht er rastlos nach neuen Opfern, die er auffrist, um sich die lange Weile zu vertreiben. Alles, was geboren wird, ist ihm verfallen, er zerfleischt es mit seinen Klauen. Blut und Mord, Krankheit und Tod, Leiden ohne Zahl herrschen in der Welt, die er sich geschaffen hat. Jammergeschrei und Schmerzgeheul erschallen ohnʼ Unterlaß; er fährt umher wie ein rasender Tiger und reißt der Kreatur das lebendige Fleisch in zuckenden Fetzen vom Leibe –«

»Hörʼ auf, hörʼ auf!« flehte die Witwe, die einer Ohnmacht nahe war. »Ich kann es nicht ertragen, wenn von solchen schrecklichen Dingen die Rede ist! Ich bekomme Herzweh vom bloßen Zuhören.«

»Ja, die Weiber wollen die Wahrheit nie hören,« sagte der alte Waldsiedler hart.

»Glaube ihm nicht, Mutter!« riefen die Knaben und streichelten die weinende Frau. »Er ist ein Verleumder! Die Welt ist voll Unschuld und Güte; alle Übel wiegt sie königlich auf mit Lust und Freude.«

»Aber höre nur erst die ganze Wahrheit«, fuhr der Waldsiedler fort. »Lange genug habe ich dich geschont; jetzt aber nötigst du mich, dich aufzuklären. Dieser verworfene und gräßliche Dämon ist es, von dem du dich unwissentlich betören ließest; er ist es, der aus dir diese Fünf gezeugt hat, um sie als Kuppler und Werber für seine Schandtaten zu verwenden. Und nun gehen sie herum, prahlen und flunkern, lügen und betrügen, locken mit ihren Vorspiegelungen und Gaukeleien immer neue Wesen ins Dasein hinein, und die Not der Welt nimmt kein Ende!«

»Glaube ihm nicht, Mutter, er verleumdet!« schrien die Knaben. »Komm mit uns in die Welt, wenn du froh und glücklich leben willst.«

»Glaube ihnen nicht, sie lügen!« schrie gleichzeitig der Waldsiedler. »Bleibe bei mir und meide die Welt, wenn du den Weg zum ewigen Heile gehen willst!«

Die Witwe trocknete sich den Schweiß von der Stirne.

»Lieber Mann und liebe Kinder«, sagte sie mit schwacher Stimme, »ich bittʼ euch, laßt jetzt die Welt auf sich beruhen. Es ist spät geworden, wir wollen zur Ruhe gehen. Guter Rat kommt über Nacht.«

Allein am nächsten Morgen brach der Streit gleich von neuem los. Die Knaben blieben bei ihrer Meinung, und der Waldsiedler blieb auch bei seiner Meinung, und jeder Teil wollte die Witwe für sich gewinnen. Sie besänftigte und begütigte, sie vermittelte und vertuschte – doch es half alles nichts: der Streit war nicht zu schlichten. Wenn sie mit dem Waldsiedler beisammen war, schien es ihr, daß der Waldsiedler Recht hatte; und wenn sie mit den Knaben beisammen war, schien es ihr, daß die Knaben Recht hatten – denn sie liebte diese und liebte jenen.

So trieben sieʼs, und so treiben sieʼs noch. Die Witwe aber ist übel dran!

Eine Jubiläums-Inkarnation

Die Posaune tönte, daß mir die Ohren gellten.

Ich setzte mich auf, noch ganz schlaftrunken, und rieb mir die Augen.

Wie? Schon wieder an die Arbeit? Die Zeit der Ruhe schon wieder vorbei? Und alle die seligen Träume zerstoben! Aufgewacht mit leeren Händen und leerem Kopf!

Und nun heißt es wieder leben, leben! Hinab in die Tretmühle auf siebzig oder achtzig Jahre! Ach, es war so gar nicht einladend, dieses sauere Tagewerk des irdischen Daseins! So gar nicht einladend, wieder unterzutauchen in die finstere Tiefe, in das große Vergessen, aus dem man hilflos erwacht – zu Not und Elend, zu Glanz und Glück, wer weiß es?

Melancholisch legte ich mich noch einmal nieder, um so hinzudämmern bis zum zweiten Posaunenstoß.

Aber der Schlaf war dahin; eine nervöse Unruhe, ein Prickeln in allen Gliedern, das ich nur zu gut aus langer Erfahrung kannte, verleidete mir das Liegen. Also heraus!

Ringsherum herrschte bereits große Bewegung. Die kleinen, geflügelten Monaden, meine Schlafkameraden, machten sich reisefertig; es war eine geräuschvolle Geschäftigkeit, ein Getrippel und Gewispel, ein Gähnen, Seufzen, Schwätzen wie in der Schule, bevor der Lehrer kommt. Sie reckten und streckten sich, begrüßten einander als gute Bekannte, die zusammen ihren Haschischrausch ausgeschlafen haben, und machten heimlich lästerliche Bemerkungen über die Pedanterie, mit welcher man auf die Minute, wenn nicht gar um einiges zu früh, aus den Federn gejagt werde.

Da erscholl auch schon, näher und drohender, der zweite Posaunenstoß.

Eilig stürzten wir an unsere Betten zurück, um unter den weißseidenen Kopfkissen unsere Konduitelisten hervorzunehmen. Darin standen alle Lebensläufe, die jede Monade zurückgelegt hatte, mit Nummern versehen und ausführlich beschrieben.

Alle guten und alle schlechten Taten waren gewissenhaft und unparteiisch angeführt, so ging das Gerücht; und aus der Summe von Schuld und Verdienst dieser verflossenen Lebensläufe wurde die Direktive für das kommende Leben gezogen. Leider waren diese Notizen in einer unverständlichen Chiffernschrift verfaßt, die man erst in viel höheren Jahrgängen lesen lernte.

Einige von uns blätterten in ihren Bögen mit der verzweifelten Hoffnung, vielleicht doch ein oder das andere Zeichen zu enträtseln.

Umsonst!

Nur die Nummern waren erkennbar. Aber was hatte man davon, zu erfahren das wievielte Mal man eben geboren werden sollte!

In Ermangelung anderer Kenntnisse begannen wir unsere Nummern auszutauschen.

»Wieviel hast du hinter dir?«

»Neuhunderteinundzwanzig.«

»Und du?«

»Neunhundertsiebenundachtzig.«

»Und du?«

»Neunhundertdreiundfünfzig.«

So ging es immer in Neunhunderten fort; denn wir waren offenbar nach dem Hundert sortiert.

Als die Reihe an mich kam, sah auch ich nach.

»Neunhundertneunundneunzig!«

»Wie? Was? Da kommst du ja schon in die Tausender? O du Glückliche! O du Beneidenswerte!«

Sie drängten sich um mich und warfen mißtrauische Blicke in mein Heft, ob ich nicht bloß renommiert hätte; dabei richteten sie hämische Seitenblicke auf mich und flüsterten sich spöttische Bemerkungen in die Ohren.

Es ging ganz wie auf Erden zu, wenn jemand eine Auszeichnung erhält. Wir waren eben lauter erbärmliche Erdenseelen und konnten uns auch hier nicht anders benehmen, als wirʼs unten gelernt hatten.

Einige, die meiner Ziffer zunächst standen, gratulierten mir. »O, wenn wir nur auch so weit wären«, seufzten sie dann.

»Da wäret ihr was Rechtes!« sagte ich. »Was habʼ ich denn davon? Verstehʼ ich mehr als ihr? Kann ich die Schrift entziffern? Bin ich um ein Jota wissender als ihr? Bin ich um ein Haar besser als ihr? Muß ich nicht auch hinunter ins Ungewisse?«

Das schien ihnen einzuleuchten Die neidischen Blicke verwandelten sich wieder in behaglich geringschätzige; die Seufzer beruhigten sich. Nur Nummer Neunhundertsiebenundneunzig schüttelte den Kopf.

»Sehr tröstlich ist das gerade nicht«, sagte sie. »Da rackert man sich weidlich ab, Leben aus, Leben ein, stöhnt und schwitzt in endlosen Nöten – und dann machen hundert Lebensläufe nicht einmal einen wesentlichen Unterschied? Ist das ein menschenwürdiges Avancement? Muß man bei solchen Zuständen nicht alle Lust und Liebe zum Leben verlieren?«

Diese Worte riefen einen förmlichen Aufruhr unter den Seelen hervor; eine rebellische Stimmung gewann rasch die Oberhand.

»Warum sollen wir denn alles stillschweigend einstecken? Rühren wir uns einmal! Protestieren wir! Raffen wir uns zu einer Tat auf!« schrien sie durcheinander. »Wir wollen nicht länger bloße Diurnisten der Wiedergeburt sein! Wir wollen uns nicht länger wie eine Herde unsterblicher Schafe behandeln lassen! Es muß etwas für uns geschehen!«

»Das ist alles recht schön,« erwiderte Nummer Neunhunderfünfundneunzig; »aber was soll denn geschehen? Wir haben keinerlei Rechte oder Beziehungen nach oben; wie sollen wir da unseren Wünschen Geltung verschaffen?«

»Reichen wir eine Petition ein«, meinte schüchtern Nummer Neunhundertfünfunddreißig.

»Was? Eine Petition?« sagte eine andere, die wahrscheinlich in ihrem letzten Lebenslauf Parlamentsmitglied gewesen war. »Petitionen sind für den Papierkorb. Da lassen wirʼs lieber gleich beim Alten bewenden.«

Hierauf schien sich eine erregte Debatte entspinnen zu wollen; doch Nummer Neunhundertsiebenundneunzig rief entschlossen:

»Verehrte Anwesende, wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich schlage ihnen vor: wählen sie eine Deputation, die ihre Wünsche höheren Ortes vorbringen soll –«

Dieser Vorschlag wurde mit Begeisterung angenommen. Aber er konnte nicht ausgeführt werden.

Der dritte Posaunenstoß erscholl in diesem Augenblick. Laut, grimmig, zerschmetternd dröhnte er durch den Himmel. Und aus der schimmernden Bläue hervor wie aus einem seidenen Vorhang trat, auf die goldene Posaune gestützt, groß und gewaltig er, der auf Erden der Tod genannt wird – der Engel der Geburt.

Mit welchem atemlosen Respekt verstummten wir da sofort! Nun erst überfiel uns das volle Bewußtsein, daß es Ernst war, daß es keinen Aufschub gab, nun erst das volle Bewußtsein, was es hieß, wieder geboren zu werden. Wie arme Sünder standen wir da – mit allen Gefühlen ohnmächtiger Furcht und ohnmächtigen Grolles, von denen die armen Sünder heimlich erfüllt sind. Der Geist der Auflehnung war spurlos ausgelöscht; niemand wagte mehr zu mucksen.

Zitternd wichen wir zurück, während der große Unbekannte vorüberschritt. Er würdigte uns keines Blickes, er sprach kein Wort, er gab kein Zeichen – er war hochmütig und unnahbar wie der Tod.

Wir schlossen uns mechanisch hinter ihm in einen bunten Haufen; langsam und lautlos wie Flocken begannen wir abwärts zu sinken. Durch dieses Schneegestöber von Seelen leuchtet unser Führer voran wie eine blutigrote Wintersonne.

Endlich drang durch die tiefe Windstille eine leichte Bewegung wie der erste Luftzug vor dem Gewitter; und ferne, fern wie das erste Rollen des Donners kam ein dumpfes Brausen herauf. Die Luft verfinsterte sich; ein düsteres Grau lagerte sich in wolkigen Schichten um uns her Daraus hervor stieg allmählich etwas wie eine schwarze Felsenkette, kahl und steil. Es war das Ufer, an dem der Strom des Lebens mit schauerlichem Getöse vorüberraste.

Als wir auf dem Felsengrund angelangt waren, sahen wir hinab in den wilden Strom. Hochauf schäumte er und überstürzte sich strudelnd in abgründlichen Wirbeln; heulend wälzten sich die purpurnen Wogen übereinander; der Felsen bebte unter der donnernden Wucht der Katarakte.

Die armen Seelen brachen in ein lautes Angstgeschrei aus.

»Da hinunter? O ewige Mächte! Erbarmen! Hilfe! Ich kann nicht! Ich will nicht! Gnade! Gnade!«

Aber kein Erbarmen, keine Gnade! Ungehört verhallte das Geschrei im Tosen der Flut. Und vergeblich jeder Versuch, sich an das nackte Gestein zu klammern; unaufhaltsam glitten wir dem Abgrunde zu, wehrlos einem fremden Willen gehorchend.

Der schweigende Führer wandte sich um. Gebieterisch wies er auf die jüngste der Seelen und wies hinab in den kochenden Gischt.

Eine gewaltige Woge türmte sich auf, schwemmte sich züngelnd ans Ufer – und weg war das Seelchen.

Eins nach dem andern spülte der Strom so mit sich fort.

Ich sah zu wie ein Verurteilter, an den erst die Reihe kommt, bis die Köpfe seiner Mitschuldigen gefallen sind.

Nun war ich allein übrig. Schon erhob der Schreckliche seine unerbittliche Hand – da schrie ich auf, verwegen vor Verzweiflung:

»Höre mich! Ich will leben und sterben, wie es sein muß, ohne Widersetzlichkeit! Aber wer seine Jahre treu und redlich gedient hat, bekommt schließlich eine Belohnung. So sage mir heute: ist dies irdische Tagewerk nicht vergeblich? Gibt es einen Fortschritt, gibt es ein Ziel? Zum tausendsten Mal tret ich das Leben an, und bin doch so gering, so schlecht, so unwissend wie jene, die um viele Leben hinter mir sind!«

Da schwoll ein unsterbliches Gelächter über die Brandung:

»Du hältst dich nicht mehr für besser als deinesgleichen – was murrst du da über deine Fortschritte, unzuvergnügender Sterblicher?«

Und hui! war ich versunken.

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Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
Объем:
140 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
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