Читать книгу: «Der Tod setzt Segel», страница 5

Шрифт:

• TEIL ZWEI •
DER TOD WARTET


1


Bis zum Abend würden wir in Luxor bleiben, daher schwankten wir nach dem Mittagessen (noch mehr von dem süßen dunkelroten Getränk – das Amina uns als Hibiskussaft vorstellte –, juwelenartige Salate aus Obst, Fleisch und Kräutern auf großzügigen Tabletts, gefolgt von Tellern mit winzigen Küchlein, die nach Datteln, Zimt und Mandeln schmeckten) über den Landungssteg wieder an Land und wurden in einer staubigen Kette aus Kutschen zum Karnak-Tempel gefahren.

Als wir dort ankamen, war ich etwas unsicher, was ich erwartet hatte. Das Alte Ägypten ist für mich ein Ort, das in meinen Büchern existiert. Ich hatte mir seine Ruinen nur von den Ausmaßen der größeren Gebäude in Hongkong vorgestellt, weil ich mir etwas Gewaltigeres nicht ausmalen konnte. Doch ein einziger Blick auf die Steilhänge über mir genügte, um zu begreifen, dass ich bisher gar nichts begriffen hatte. Diese Ruinen waren nicht für Menschen erbaut, nicht mit menschengroßen Fenstern und Türen. Sie waren erschaffen für Götter und Menschen sollten vor ihnen in Ehrfurcht erstarren.

»Dies ist Karnak!«, verkündete unser Führer. »Siebenundzwanzig Herrscher haben über zweitausend Jahre lang daran gebaut. Das Herzstück ist die Große Säulenhalle, in der es einhundertundsechsunddreißig wunderschöne Säulen gibt. Ladys und Gentlemen, folgen Sie mir und staunen Sie!«

Ich schaute und schaute und schaute. Die Höhe der Dinge, die offenen, starrenden Gesichter der halb verfallenen Statuen, die tiefen Schatten und die grell leuchtenden Wände raubten mir den Atem. Dann tauchten wir in den Schatten der großen Säulen selbst. Es war, wie in kaltes Wasser zu steigen oder einen Wald bei Zwielicht zu betreten – plötzlich war alles still, ruhig und geheimnisvoll.

Der Führer erzählte weiter, vom Gott Amun-Re und dessen Frau und Sohn, immer leiser, während ich wie verzaubert durch die Säulen in eine andere Richtung driftete. Der Himmel war blau und weit entfernt. Die Sonne malte lebhafte Streifen auf die obersten Enden der Säulen. Ich betrachtete die eingemeißelten Bilder auf meiner Augenhöhe – Menschen mit scharfen Gesichtszügen, geschwungene Symbole, seltsame Tiere – und kam mir klein wie ein Fingernagel vor, so vergänglich. Dies hier existierte seit mehr als dreitausend Jahren. Ich versuchte mir vorzustellen, wie jemand wie ich diese Biene meißelte, diese Gans in den Stein hieb, so wie ich unsere Abenteuer in meinen Fallbüchern festhielt, und scheiterte. Der Gedanke daran, dass meine Worte Jahre nach meinem Tod weiterexistieren sollten, machte meine Beine ganz schwach, sodass ich ihn abschütteln musste.

Daisy blieb vor einem halb verdeckten Fries von einem Gott mit einem Anch in der ausgestreckten Hand stehen, das er wie ein Geschenk oder auch wie eine Waffe hielt. Dabei hatte sie selbst große Ähnlichkeit mit einem Gemälde – und als ich zu meiner Linken blickte, fiel mir auf, dass auch Amina sie beobachtete. Ich fragte mich, ob ihr wohl ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf ging.

»Ich weiß nicht, ob mir das hier gefällt«, sagte George, der plötzlich neben mir auftauchte. Verwundert drehte ich mich ihm zu. »Warum auch!«, sagte er schulterzuckend. »Wir betrachten Tempel, die angeblich von Königen für Götter errichtet wurden – dabei wurde die wahre Arbeit von einer Menge Menschen erledigt, die dafür niemals Anerkennung bekommen haben. Alles dreht sich um die Pharaonen, nicht wahr, obwohl die niemals einen Finger krumm gemacht haben, um all das zu erschaffen?«

Darüber ärgerte ich mich zur Hälfte. Zur anderen Hälfte fühlte ich – nun, so wie ich mich bei George immer fühle: als hätte er meinen Horizont in eine Richtung erweitert, für die ich nicht unbedingt dankbar war.

»Trotzdem können wir noch immer sehen, was sie geschaffen haben«, sagte ich. »Geht es nicht darum? Das alles ist so schön und es hat überdauert.«

»Nur weil es schön ist, ist es nicht automatisch gut«, meinte George – und blickte ebenfalls zu Daisy hinüber. »Einige schöne Dinge sind gut, was allerdings nicht bedeutet, dass sie es auch bleiben.«

»George, jetzt krieg dich wieder ein!«, sagte Alexander, der um eine Säule herumkam und ihn mit dem Ellbogen in die Rippen stieß. »Kannst du es nicht einfach genießen? Wir sind in Ägypten!«

»Sind wir«, sagte George. »Und zwar genau aus diesem Grund, nicht? Um uns ägyptische Ruinen anzusehen …?« Dabei blickte er Alexander direkt an, dann mich, und ich spürte, wie mir die Hitze in den Kopf schoss. »Also ich gehe jetzt da rüber und studiere diese hochinteressante Wand. Viel Spaß, ihr zwei.«

Alexander und ich blieben allein zurück.

Beide starrten wir stur geradeaus auf die Bildhauerei – und obwohl ich ihn nicht ansah, spürte ich ihn neben mir, als hätte ich auf einmal so eine Art zweites Gesicht.

»Ich, äh, ich finde es hübsch«, sagte Alexander nach einer Weile.

»Oh, ich auch!« Ich wandte ihm den Kopf zu, genau im selben Moment als er sich zu mir drehte.

Irgendwie war das sogar noch schlimmer, unerträglich sogar, und wir wandten uns schnell wieder ab.

»Bisher finde ich Ägypten toll«, sagte ich dämlich, als wäre ich so alt wie May.

Die Stille zwischen uns schien wie ein entzündeter Faden zu brennen und sich hinzuziehen. Und plötzlich tauchte hinter einer Säule ein Mann mit Turban auf und sagte: »Lady! Ich kann Ihnen einen Mumienfinger verkaufen. Ein echter Finger! Zum besten Preis! Hier, Junge, kauf ihn für dein Mädchen! Vielleicht liebt sie dich dann!«

»Nein, danke!«, rief ich entsetzt.

Im nächsten Moment war natürlich Daisy da und fragte: »Ein echter Finger? Darf ich mal sehen? Was für eine Mumie? Was genau ist mit ihr passiert?« Ich musste sie fortzerren. Es dauerte lange, bis meine Wangen nicht mehr rot waren – bis wir wieder auf dem Schiff waren und Daisy und ich Seite an Seite auf dem Oberdeck saßen, zusahen, wie die Sonne dem entfernten Horizont entgegeneilte und den Himmel in blutiges Orange tauchte.

»Weißt du«, sagte Daisy und lehnte sich an mich, »im Tempel habe ich etwas gehört, von dem ich dir noch gar nicht erzählt habe. Es war kurz bevor dieser Mann uns den Finger verkaufen wollte – den du mich im Übrigen wirklich hättest kaufen lassen sollen, Hazel!«

»Niemals! Es war ekelhaft! Was hast du denn gehört?«

»Mr DeWitt und Mrs Miller. Sie haben sich diese … Obelisken angesehen – diese spitzen Dinger, du weißt schon. Mr DeWitt sagte: Das wirst du nicht bereuen, Theo. Mrs Miller sagte: Wovon um alles in der Welt redest du? Und darauf meinte Mr DeWitt: Mich zu deinem Thutmosis ernannt zu haben. Ich weiß, bisher hast du allein geherrscht, aber das musst du nicht länger. Ich bin nun hier, um dir zu helfen, genau wie in unserem früheren Leben Thutmosis Hatschepsut unterstützt hat und nach ihr herrschte. Er hat das so übertrieben gesagt, als würde er ihr damit das größte Geschenk auf Erden machen, aber Mrs Miller hat nur laut gelacht und gesagt: Aber das hat rein gar nichts zu bedeuten, Narcissus, du Trottel! Es ist lediglich ein Titel. Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich die Gesellschaft in deine Hände fallen lasse? Nein, ich werde sie weiterhin führen, egal wer deine Reinkarnation ist. Dann hat sie wieder den Obelisken betrachtet, doch Mr DeWitt … Nun, Mr DeWitt sah aus, als hätte er sie am liebsten ermordet.«

2


Dann brachen wir auf und glitten durch das dunkel werdende Wasser, dass es weiß schäumte. Ich stellte mich darauf ein, dass mir wieder übel werden würde, wie üblich auf Schiffen – doch der Nil ist so ruhig wie eine Badewanne und wir schaukelten nur sanft dahin. Ich konnte ohne jede Schwierigkeit zu Abend essen, sogar den Nachtisch. Als ich danach an die frische Luft ging, war es schon Nacht und über dem Wasser ging ein roter und irgendwie seltsamer Mond auf. Mir wollte nicht einfallen, was daran nicht stimmte, bis ich begriff, dass er verglichen mit der Form, die ich gewohnt war, schräg stand.

»Blutrot!«, sagte Daisy fröhlich, als sie ihn sah. »Was hat das zu bedeuten? Vielleicht gibt es einen Mo–«

Ich stieß sie fest an, denn mein Vater lief an uns vorbei zu seiner Kabine und warf Daisy einen mehr als argwöhnischen Blick zu.

Nachdem die Lichter gelöscht waren und das Schiff am Ostufer neben einem dicken Wald aus Palmen angelegt hatte, stopften Daisy und ich Polster unter unsere Decken, für den Fall, dass jemand nach uns sehen würde, wickelten uns gegen die nächtliche Kälte in einen Schal und stiegen die steile Treppe zum Oberdeck hinauf. Kaum hatten wir es uns in unseren kleinen Korbstühlen bequem gemacht, erschien Amina, gefolgt von George und Alexander.

»’n Abend!«, flüsterte George.

»Man ist euch nicht gefolgt?«, fragte Daisy misstrauisch.

»Miss Beauvais schnarcht«, sagte Amina, die ihr Taschentuch auffaltete, um einige extra Küchlein vom Abendessen zu präsentieren. »Also weiß ich, dass sie schläft. Außerdem habe ich sie für alle Fälle eingesperrt. Ist es nicht praktisch, dass die Schlüssel hier auf beiden Seiten der Kabinentüren funktionieren?«

»Und Mr Young ist über seinen Notizen eingeschlafen«, berichtete George. »Er hat keinen blassen Schimmer vom antiken Ägypten, daher muss er seine ganze Zeit damit verbringen, heimlich in der Kabine vorauszulernen, was er uns beibringen will. Deswegen haben wir ihn ausgesucht! Er ist einer von Harolds Bekannten aus Cambridge. Er fällt in Geschichte durch, daher fand ich ihn perfekt. Vor dem Frühstück morgen wird er nicht nach uns sehen.«

Wir fünf unterhielten und unterhielten uns, während über uns die Sterne funkelten, als wäre die Welt von Kerzen erleuchtet. Die Weidenzweige meines Stuhls stachen mir in die Arme und die Kälte zwickte mich in Wangen und Finger – und ich kam mir ungeheuer erwachsen und wagemutig vor. Ich war nachts draußen, mit Jungs. Ich betrachtete Alexanders Umriss im Dunkeln und überlegte, ob er wirklich meinetwegen hier war. In der Hitze des Tages war es mir unwahrscheinlich vorgekommen, doch hier oben, bei Nacht, während ich erschauderte, entweder wegen der kühlen Luft oder aber vor Aufregung, konnte ich es beinahe glauben.

Die Uhr im Salon unter uns schlug zur vollen Stunde und Amina kicherte. »Zwei Uhr!«, flüsterte sie. »Lasst uns was anstellen – kommt!«

»Was willst du denn machen?«, fragte Daisy neugierig.

»Ach, keine Ahnung.« Amina zuckte mit den Schultern. »Die Nummern an den Kabinentüren vertauschen. In den Speisesaal schleichen und das gesamte Frühstücksbesteck durcheinanderbringen. Irgendwas

»Was, wenn wir –«, begann Alexander, doch dann hielt Daisy die Hand hoch.

»Psst!«, zischte sie. Ich dachte schon, sie wäre Alexander gegenüber schlicht unhöflich, wie immer, doch einen Moment später hörte auch ich, was sie aufgeschreckt hatte. Ein leises, gleichmäßiges Geräusch wie von einem Herzschlag – Schritte auf dem Deck unter uns.

Wie ein Geist erhob Daisy sich aus ihrem Stuhl und trat zur Backbordseite des Schiffes. Wir alle folgten ihr und spähten über das Geländer. Mein eigenes Herz klopfte laut und ich klammerte mich an Daisys Arm.

Das Deck unter uns wurde sanft vom Mond beschienen, der inzwischen ein cremiges Weiß angenommen hatte und fast direkt über unseren Köpfen stand. In seinem Glanz konnten wir sehen, dass etwas über das Salondeck trieb, und zwar mit einem merkwürdigen, unheimlichen Gang.

Ich glaube nicht an Geister, das habe ich mir tausendmal gesagt, aber –

Ich stieß hörbar die Luft aus und Daisy rammte mich mit dem Ellbogen.

»Geister machen keine Schritte, Hazel«, wisperte sie in mein Ohr und ich kam wieder zu mir. Wie hatte ich so albern sein können? Was ich da sah, war lediglich ein Mensch in einem weißen Nachthemd – ein blasser Mensch mit langem gelocktem Haar, der die Hände ein wenig vor sich ausgestreckt hatte, als würde er nach etwas greifen.

»Das ist Heppy!«, flüsterte Amina. »Was treibt sie da?«

»Spazieren gehen!«, antwortete Alexander. »Wie seltsam. Es ist zwei Uhr morgens!«

Seine Stimme musste bis nach unten gedrungen sein, denn Heppy zuckte zusammen und drehte das Gesicht in unsere Richtung. In diesem Moment sahen wir etwas, das uns einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Heppys Augen glitzerten im Licht der nächsten Lampe, doch sie waren völlig ausdruckslos.

»Sie schlafwandelt!«, raunten George und Daisy im Chor und warfen sich einen verzückten Blick zu.

Ich war zu beschäftigt damit, meine Atmung in den Griff zu bekommen, um irgendetwas anderes als blankes Entsetzen zu empfinden. Heppys kaltes, nichtssagendes Gesicht, ihre ausgestreckten Hände – es war, als würde man einen Albtraum von außen beobachten.

Vor unseren Augen glitt sie übers Deck, blieb stehen und schob die Tür direkt unter uns auf.

»Wessen Kabine ist das?«, flüsterte Alexander.

»Entweder die von Miss Doggett oder Theodora Miller«, wisperte Daisy. »Oh, wie merkwürdig!«

Wir warteten, atmeten behutsam und fünf Minuten später glitt Heppy wieder heraus und schloss leise die Tür hinter sich. Als sie sich abwandte war ihr Blick noch immer leer. Etwas Gruseligeres habe ich im ganzen Leben noch nicht gesehen und irgendwie war uns danach der Spaß vergangen. Wir zogen uns ins Bett zurück, unruhig und aufgewühlt.

Wir hatten keine Ahnung, als wie wichtig sich das erweisen würde, was wir in dieser Nacht beobachtet hatten.

3


Als ich am Morgen aufwachte, stand die Sonne schon hoch und der Himmel war strahlend hell, obwohl es erst kurz vor acht Uhr war. Das Frühstück bestand aus saftigen Früchten und Blätterteiggebäck auf dem Oberdeck, begleitet von winzigen Tassen mit schwarzem Kaffee. Ich beschloss, einen zu trinken, um erwachsen zu wirken, musste ihn aber angeekelt wegstellen, weil er so bitter und stark war.

Wieder schipperten wir an niedrigen grünen Palmen und hohen gelben Bergen vorüber, während der breite Fluss um uns ruhig und dunkelblau dalag. Feluken glitten mit geblähten Segeln vorbei, Enten paddelten im Wasser und am Ufer jagte ein Mann in einer weißen Dschallabija seine Esel, die sich losgerissen hatten. Als wir die Esna-Schleuse passierten, ging ein Großteil unserer Reisegruppe an Deck, um zuzusehen, wie das Schiff prächtig in die Höhe schwebte. Rhiannon Bartleby spazierte vorüber und suchte händeringend nach ihrer Brille (die auf ihrem Kopf saß), weswegen sie von Theodora angekeift wurde. Heppy war schwer damit beschäftigt, für die anderen des Hauch-des-Lebens Sachen zu holen und zu tragen. Sie wirkte müde, wie ich fand, und tat mir umso mehr leid.

Dann fuhren wir weiter. May beugte sich über die Reling und versuchte, Dinge in das sich drehende Schaufelrad zu werfen. Pik An, die recht grün um die Nase wirkte (im Zug hatte sie Salat gegessen, der ihr nicht gut bekommen war), zerrte sie fort.

Am Nachmittag, als die Sonne schwer und heiß im Westen stand, ging das Schiff vor einer staubigen kleinen Stadt vor Anker und in einer Prozession von Pferden und Karren ratterten wir von dannen zu einem anderen Tempel. Pik An kam nicht mit – sie war wegen ihrer Lebensmittelvergiftung so grün wie nie und musste die Kabine hüten.

Die trockene Hitze Ägyptens schillerte und die grellen, in der Sonne strahlenden Wände und Säulen überwältigten mich. Wohin ich auch blickte, gab es noch einen Pharao, der seine Feinde niederschmetterte, noch einen Gott mit einem Krokodil- oder Schakal- oder Löwengesicht. Dieser Tempel hatte eine Decke und die Räume waren dunkel. Mit der Zeit stellte sich in meinem Magen ein mehr als mulmiges Gefühl ein. Zugegeben kann ich nicht sagen, ob ich mir dieses Gefühl rückblickend nur einbilde – wegen dem, was später passierte –, aber ich erinnere mich wirklich daran, wie ich unter einem gewaltigen Fries stand und so aufgewühlt war, dass ich beinahe zitterte.

»Schau«, sagte Amina mit vor Begeisterung funkelnden Augen zu Daisy. Sie hatte selbstverständlich keine Angst. »Das ist Osiris. Er wurde von seinem Bruder Seth umgebracht –«

»Welches Motiv?«, unterbrach Daisy sie.

»Ach, Eifersucht, schätze ich«, antwortete Amina schulterzuckend. »Jedenfalls zerschnitt Seth Osiris in vierzehn Teile und verstreute sie im Nil. Doch die Frau von Osiris, Isis, ist den Nil auf und ab geflogen, bis sie alle gefunden hatte und Osiris wieder zusammensetzen konnte. Anschließend trugen beide ihrem Sohn Horus auf, nach Seth zu suchen, um Rache dafür zu üben, dass er seinen Vater zerstückelt hatte. Siehst du, das da ist Horus. Er hat Seth gefesselt.«

»Ist das nicht famos?!«, flüsterte Daisy mir ins Ohr. »Sogar die Alten Ägypter hatten es mit Mordfällen zu tun! Glaubst du, Isis war die erste Detektivin?«

»Sie war keine Detektivin«, sagte Amina und sah Daisy ein bisschen seltsam an. »Sie war eine Göttin.«

»Ja, ja, natürlich«, sagte Daisy. »Komm, Hazel, da drüben steht ein Mann, der sagt, er kann mir eine mumifizierte Schlange verkaufen!«

Und dann dämmerte es. Wieder war es Abendessenszeit (das war wirklich herrlich an der Hatschepsut, wie ungeheuer viel Essen es immer gab) und Theodora erhob sich, um zu verkünden, dass sie an diesem Abend im Salon ein Ritual abhalten wollte.

Typisch für Theodora Miller sagte sie es selbstverständlich sehr barsch.

»Ich möchte, dass Sie alle den Salon heute Abend räumen, verstanden?«, sagte sie zu Mr Mansour. »Ich will ein Ritual abhalten.«

»Aber Madam, die anderen Gäste –«

»Die anderen Gäste spielen keine Rolle«, unterbrach Mrs Miller ihn, und ich merkte, wie Vater neben mir zu brodeln begann. »Das Ritual zum Abwägen des Herzens duldet keinen Aufschub, verstanden?«

Mr DeWitt, Heppy und Miss Bartleby strahlten – doch Daniel warf verärgert die Hände in die Luft und Miss Doggett presste mit bebenden Nasenflügeln die Lippen zusammen.

»Theodora«, sagte sie. »Auf ein Wort?«

»Nicht jetzt, Ida«, entgegnete Theodora Miller. »Das Ritual wird um zehn Uhr abends im Salon stattfinden. Da wir OHNE unsere heiligen Gegenstände sind, weil EINER VON UNS sie in Alexandria im Zollhaus gelassen hat«, hierbei sah sie vorwurfsvoll Heppy an, die mit glänzenden Augen rot wurde, »müssen wir eben improvisieren. Wir brauchen eine Waage, eine Feder, ein Messer und – selbstverständlich – den Kelch des Lebens. Rhiannon, wenn du dich darum kümmern würdest, alles zu besorgen?«

»Das kann ich doch tun, Mu– Theodora«, bot Heppy hoffnungsvoll an.

»Nein, Heppy«, widersprach Theodora. »Du verschusselst es nur, wie das letzte Mal.«

Heppy ließ die Schultern hängen.

»Theo, wenn ich dich kurz unter vier Augen sprechen könnte!«, versuchte es Miss Doggett erneut.

»WAS?«, fuhr Theodora sie an und wandte sich angriffslustig zu Ida um.

Sie tuschelten – neben mir reckte Daisy sich wie eine Schlingpflanze, um zu lauschen, doch leider stand unser Tisch zu weit entfernt. Wir sahen nur, wie Mrs Miller entschieden den Kopf schüttelte, Miss Doggett die Augen zu Schlitzen verzog und anschließend aufsprang, um aus dem Zimmer zu stolzieren.

Alle waren einen Moment lang wie versteinert, unsicher, wie sie so tun könnten, als hätten sie diese Szene eben nicht miterlebt – bis Miss Bartleby in die Hände klatschte und gut gelaunt fragte: »Also, wer hilft mir dabei, ein Messer zu organisieren?« Damit schien der Bann gebrochen.

»Oh, was hat sie nur gesagt?!«, hauchte Daisy mir zu.

»Ich hab’s gehört«, ertönte eine Stimme zu unseren Füßen – und als wir nach unten blickten, sahen wir meine kleine Schwester May, außer Puste und reichlich zerknittert. »Ich hab mich unter dem Tisch versteckt«, verriet sie uns, während sie sich die Haare aus den Augen schob. Schon wieder hatte sich ihr Zopf gelockert.

»Wie kommst du denn auf so was?!«, rief ich.

»Ich übe, weil ich mal Spionin werden will«, erklärte May. »Wollt ihr wissen, was ich belauscht habe? Die dürre weiße Frau –«

»Miss Doggett«, übersetzte ich für Daisy.

»Die also. Sie sagte zu der grässlichen weißen Frau –«

»Mrs Miller.«

»Ja, DIE. Jetzt tu nicht so erwachsen, sondern hör zu! Also sie sagte, dass es kein guter Zeitpunkt für das Ritual ist und sie die Götter zum Gespött der Leute macht und dass sie sie dafür … niederstricken würden. Das Wort kenne ich nicht – was heißt das?« May redete nun wieder auf Kantonesisch, was sie immer tat, wenn sie sich ärgerte oder verwirrt war.

»Meinst du niederstrecken?«, fragte ich auf Englisch.

»Kann sein – Englisch ist eine doofe Sprache. Was bedeutet es?«

»Es bedeutet töten«, sagte ich und dachte an die Tempelwände. »Könige machen das, wenn sie sich über andere ärgern.«

»Oooh«, machte May, »dann hoffe ich, dass jemand niederstrickert wird. Ich geh mal weiter spionieren! Bis später!« Schon war sie fort und kroch von einem Tisch zum nächsten durch den Speisesaal.

Daisy legte das Kinn in die Hände. »Genau wie wir früher«, sagte sie wehmütig. »Ich wünschte, wir wären noch klein genug, um unter den Tisch zu passen. Das ist das einzige Problem am Großwerden.«

Alexander lachte – und sah uns dann schuldbewusst an, während er sich mit der Hand durchs Haar fuhr. Ich wusste, er dachte daran, wie Daisy und ich uns damals im Orientexpress versteckt hatten.

»Wir müssen dieses Ritual beobachten!«, sagte Amina. Wir anderen starrten sie überrascht an – abgesehen von Daisy, die voller Bewunderung war, bis sie merkte, dass ich sie ansah, und stolz so tat, als wäre es nie geschehen. »Ich will sehen, was diese Trottel vorhaben. Das Wiegen des Herzens gehört zum Leben nach den Tod, wisst ihr? Das Herz des Toten wird von den Göttern mit dem Gegengewicht einer Feder gewogen, um zu sehen, ob er in seinem Leben etwas Schlechtes getan hat.«

»Eine Feder?«, wiederholte Alexander und verzog das Gesicht. »Gegen ein Herz?«

»Meiner Meinung nach muss es eine sehr große Feder gewesen sein«, sagte Amina grinsend.

George betrachtete sie nachdenklich. »Aber wird dich das nicht aufregen?«

»Auch nicht mehr als bisher«, antwortete Amina. »Außerdem ist es ja nicht so, dass ich daran glaube. Ich bin Muslima. Es geht mir mehr um … Na ja, sie ziehen die Geschichte meines Landes ins Lächerliche. Und …«

»Und?«, hakte Daisy nach.

»Und«, sprach Amina weiter, »wenn dabei rein zufällig etwas schieflaufen sollte … Dann wäre das doch lustig, sonst nichts.«

Sie strahlte uns mit funkelnden Augen an – und so kam es, dass wir uns an diesem Abend um zweiundzwanzig Uhr alle gegen das Fenster des Salons pressten und das geheimnisvolle Ritual des Hauch-des-Lebens ausspionierten.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 243,91 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
297 стр. 13 иллюстраций
ISBN:
9783957286048
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
160