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Am Tag danach brachen wir auf zum Nil.

Man fuhr uns in zwei der schicken schwarzen Wagen von Aminas Eltern zum Bab-al-Hadid-Bahnhof, wo wir von Lärm, Staub und sengender Sonne empfangen wurden. Kofferträger mit Turban und Dschallabija eilten hin und her, unsere Koffer alarmierend hoch gestapelt (mein Vater und meine Schwestern waren nicht gerade mit leichtem Gepäck unterwegs), während Pik An und Miss Beauvais sie anflehten, vorsichtig zu sein. Ich sah mir die gigantische Steinstatue an, die auf dem Bahnhofsvorplatz stand. Es war ein Wesen mit Löwenpfoten und einem Menschenkopf, eingerahmt von einem enormen Kopfschmuck, das neben einer Frau kauerte, die stolz in die Ferne blickte und einen Arm hob, um das Tuch aus ihrem Gesicht zu heben. Ich fand es wunderschön, wenn auch sehr merkwürdig.

»Nahdet Misr«, sagte Mr El Maghrabi mit einem Wink zur Statue. »Ägyptens Vergangenheit – die Sphinx – und seine Zukunft: seine Frauen. Amoona, Habibti, vergiss nicht, den Mädchen von deiner Geschichte zu erzählen. Sei stolz darauf!«

»Ja, Baba«, sagte Amina, ausnahmsweise mit ernstem Gesicht. »Das werde ich.«

Von Bab al-Hadid aus nahmen wir den Nachtexpress nach Luxor. Als die Sonne unterging, schaute ich aus dem Zugfenster und sah Rechtecke aus saftigem grünen Gras und hohem, spitzem Zuckerrohr, flankiert von Palmen mit dunklen Wedeln und schmalen Wasserläufen, die den Himmel reflektierten. Neben Lehmhäusern standen Kühe und Esel und davor saßen Menschen mit angezogenen Knien und baumelnden Armen, die lachten und sich unterhielten. Der Himmel war rosa, zitronengelb und cremeorange, ruhig, mit nur wenigen Klecksen dunkler Wolken.

Der Zug war nahezu leer. Während wir auf das Abendessen warteten und darauf, dass unsere Schlafwagenabteile bereit gemacht wurden, hatten wir einen ganzen Waggon für uns allein. May baute unter den Sitzen ein Fort und platzte von Zeit zu Zeit hervor, um uns als uraltes Seemonster anzugreifen (Pik An musste überrascht spielen). Rose las Millie aus der zehnten Klasse, mein Vater löste ein Kreuzworträtsel, Miss Beauvais schnarchte und Daisy tigerte ruhelos hin und her. Ich wusste genau, dass sie an unsere letzte gemeinsame Zugreise denken musste und daran, was während dieser Fahrt passiert war.

»Bist du schon aufgeregt?«, fragte Amina leise und sah mich von der Seite an. In Ägypten war ihr Haar sogar noch glänzender und so prächtig wie nie, außerdem trug sie einen unglaublich hinreißenden Reiseanzug und einen kleinen Hut mit Schleier, so wie ihn alle ägyptischen Frauen zu tragen schienen.

»Ja!«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Alles war so fremd und wundervoll. Obwohl ich durch Aminas Augen immer wieder Ausschnitte des wahren Ägyptens sah, eines Landes, in dem sich die Menschen selbstverständlich ebenso um langweilige, gewöhnliche Dinge wie Hausaufgaben und Zugfahrkarten kümmern mussten, war es mir unmöglich, das Gefühl abzuschütteln, in eine Geschichte eingetaucht zu sein, als wäre ich einmal quer durch Zeit und Raum gepurzelt. Ich hatte die ganz seltsame Überzeugung (vielleicht ging mir dabei einmal mehr der Hauch-des-Lebens durch den Kopf), dass ich jeden Moment den jungen König Tutanchamun erblicken könnte, kränklich und doch herrschaftlich, gleich neben mir im Waggon – oder dass sich die Frau, die ich im nächsten Waggon schreien hörte, als die Pharaonin Hatschepsut herausstellen könnte, deren Augen (in meiner Vorstellung so durchdringend und schlau wie die von Amina) mit Kajal dunkel und dick bemalt waren, und mit einem kleinen Holzbart, der mit einer Schnur am Kinn festgebunden war.

»Ich kann es nicht erwarten«, sagte Amina. »Ich habe das noch nie gemacht, zumindest keine richtige Kreuzfahrt. Dafür kenne ich all die Geschichten. Das meinte Baba auch, als er sich verabschiedet hat – er will, dass ich dafür sorge, dass ihr die wahren Geschichten zu hören bekommt. Manchmal erzählen sie sie den Leuten aus dem Westen nicht richtig.«

Ich atmete den bloßen, heißen Geruch des Waggons ein, außerdem den Geruch von Schweiß und Aminas Parfüm, das so luftig und hübsch war wie sie.

»Warum haben dich deine Eltern auf die Deepdean geschickt?«, fragte ich. »Hat Miss Beauvais nicht gereicht?«

»Miss Beauvais ist ziemlich nutzlos, wenn man mal ehrlich ist«, erklärte Amina mit einem Blick zu ihrer schlafenden Gouvernante. »Wir behalten sie nur, weil Sachen aus Frankreich gerade in Mode sind. Ich habe Baba gesagt, dass ich von ihr nichts lernen kann, also musste ich zur Schule. Und nachdem ich sämtliche Schulen von Kairo durchgemacht hatte, gab es nicht mehr viele Möglichkeiten. König Farouk war vor dem Tod des alten Königs in England auf der Schule – sie mussten ihn extra nach Kairo einfliegen und zurückholen, weil er den Thron besteigen musste, weißt du? Daher ist das im Moment angesagt. Die Tantchen und meine älteren Schwestern sind Baba so lange auf die Nerven gegangen, bis er Ja gesagt hat. Mama hat sich geärgert, aber sie wusste, wie gern ich hin wollte. Ich mag Abenteuer, weißt du?«

»Meine Mutter wollte auch nicht, dass ich in England zur Schule gehe«, sagte ich leise, damit Rose und May nicht hörten, wie ich Ah Mah erwähnte. »Sie … sie mag nichts, was mit Europa zu tun hat.«

»Warum ist deine Mutter nicht hier?«, fragte Amina und sah mich forschender an denn je.

Ich zuckte mit den Schultern. Es zu erklären, ertrug ich nicht, nicht Amina gegenüber, deren Mutter so stolz auf sie war.

»Aber ich habe darum gebeten«, fuhr ich schnell fort. »Ich wollte England mit eigenen Augen sehen.«

»Hazel Wong!« Amina grinste mich an. »Ich glaube, wir sind uns ein bisschen ähnlich, du und ich.«

»Aber ich bin nicht … ich bin nicht abenteuerlustig, nicht wie du und Daisy«, sagte ich.

»Du gehörst zu den abenteuerlustigsten Menschen, die ich je getroffen habe!«, meinte Amina. »Du bist um die halbe Welt gereist, als du erst ein Shrimp warst, und du hast alle möglichen wilden Sachen erlebt – du bist mit Jungs befreundet. Baba würde mich umbringen, würde ich einen auch nur ansehen …«

»Psst!«, zischte ich eindringlich, als mein Vater sich ausstreckte und die Seite seines Kreuzworträtselbuchs umblätterte. Die Erinnerung hatte bei mir einen unbequemen Schweißausbruch ausgelöst.

»Ich meine ja nur: Lass dir von Daisy nicht einreden, du wärst langweilig. Vielleicht war das mal so, das weiß ich nicht. Aber die Hazel Wong, die ich kenne, ist das genaue Gegenteil. Ich bin froh, dass wir Freunde sind.«

»Wir freuen uns auch, dass wir mit dir befreundet sind«, sagte ich.

»Hmmm«, machte Amina. »Sicher, dass Daisy das so sieht?«

Ich schaute zu Daisy. Sie hatte in ihrem rastlosen Laufen innegehalten und stand nun wie eine Marmorstatue aus einem Museum vor dem Fenster und blickte starr auf die hohen Hügel, die vom Sonnenuntergang rosa angemalt wurden. Aber ich wusste genau, dass sie uns zuhörte.

»Das solltest du sie selbst fragen«, sagte ich und wurde ein bisschen rot.

»Tja«, Amina warf den Kopf herum und hob die Stimme, damit Daisy sie auch ja verstand, »jedenfalls sollte sie mich leiden können – ich bin genial.«

Das war ein so Daisy-typischer Satz, dass ich laut lachen musste, und auch Amina lachte.

In dem von Kerzen erleuchteten Speisewagen, in dem ich mir wie im Innern eines Sterns vorkam, aßen wir zu Abend. Doch kaum hatten wir Platz genommen, erblickten wir verdutzt einige durchaus bekannte Gesichter: die Männer und Frauen der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft. Die pummelige Theodora Miller putzte gerade einen der Kellner herunter, und mir wurde bewusst, dass es ihre Stimme gewesen war, die ich aus dem anderen Waggon gehört hatte. Irgendwie löste das bei mir ein merkwürdiges Gefühl aus, immerhin hatte ich sie mit Hatschepsut verglichen und für genau die hielt sie sich.

Ich sah zu, wie der Kellner vor Theodoras Zorn zurückwich und prompt gegen ihre knochige Begleiterin stieß, die ihn ebenfalls anschrie. Der Mann wirkte zu Tode erschrocken.

»Sie folgen uns!«, zischte Daisy und pikte mich mit ihrer Salatgabel.

»Hoffentlich nicht!«, sagte ich. »Sie sind furchtbar!«

»Furchtbar faszinierend!« Daisy lauschte so gebannt der Hauch-des-Lebens-Tafel neben uns, dass sie nur auf die Hälfte aller Fragen meines Vaters reagierte.

Ich musste zugeben, dass ich ihre Meinung teilte. Immer wieder schnappte ich Gesprächsfetzen auf, die mich immer neugieriger werden ließen: Reinkarnation, Anhänger, Geld, Pharaonen, und dann …

»Nein, Ida, das kann unmöglich dein Ernst sein!«

»Aber ja doch!«, erwiderte die knochige Frau scharf. »Letzte Woche ist es mir im Traum erschienen. Ich habe darüber nachgegrübelt und die einzige Antwort darauf ist die: Ich bin die Reinkarnation von Hatschepsut.«

»Ida, du kannst nicht Hatschepsut sein!«, sagte eine gut gepolsterte kleine alte Dame, die sehr klein und fast kreisrund war und die Hände gepeinigt vor sich verschränkte. »Es gibt immer nur eine Hatschepsut und –«

»Und das bin ICH«, fiel Theodora Miller ihr ins Wort und richtete sich auf. Die anderen Mitglieder des Hauch-des-Lebens – eine große, schlaksige junge Frau mit Locken, ein dunkelhaariger junger Mann und ein alter, runzliger Herr mit einem überraschend gelben Haarschopf und einem Gehstock – hielten allesamt den Atem an und starrten Theodora und die knochige Ida an. »Ich bin Hatschepsut«, wiederholte Mrs Miller. »Du bist Kleopatra, Ida. Das haben wir längst besprochen.«

»Kleopatra war eine Giftmörderin«, keifte Ida. »Eine Giftmörderin und ein Feigling. Schon lange habe ich das Gefühl, dass ich keinerlei Verbindung zu ihr spüre, dafür habe ich eine absolut innige Verbindung zu Hatschepsut. Ich verstehe sie. Ich spüre sie. Sie ist ICH.«

»ICH BIN SIE!«, fuhr Theodora Miller sie an.

»Oh, bitte streitet nicht!«, sagte die pummelige alte Dame, im selben Moment als die schlaksige junge Frau rief: »Mutter, bitte nicht!«

»Heppy, du SOLLST mich NICHT so nennen!«, keuchte Theodora und wandte sich schwungvoll der jungen Frau zu. »Schon wieder ein Minuspunkt für dich. Das ist heute bereits der vierte! Mit dieser Einstellung wirst du deine Reinkarnation niemals herausfinden. Und Rhiannon, sei still, sonst muss ich noch einmal überdenken, ob du Nofretete bist.«

»Entschuldige, Theodora, meine Liebe«, sagte die pummelige Frau, Rhiannon.

»Es tut mir leid!«, beteuerte die schlaksige Heppy mit Tränen in den Augen. »Ich gebe mir ja Mühe!«

»In jedem Fall bemühst du meine GEDULD!«, donnerte Theodora – dann kippte May aus Versehen ihre Limonade auf meinen Rock, sodass ich den Rest des Gesprächs nicht mitbekam.

Doch die Gruppe blieb mir auch später erhalten, wollte mir die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gehen, sodass meine Träume erfüllt waren von alten Damen mit Kronen und falschen Bärten, die andere zum Tode verurteilten. Als ich am nächsten Morgen erwachte und wir Luxor schon fast erreicht hatten, war ich mehr als erleichtert.

7


In Ägypten geht die Sonne schneidend und heiß auf, daher stand sie bereits am Himmel, als wir den Zug in Luxor verließen, wärmte uns die Schultern und kribbelte in meinem Nacken. Staub lag in der Luft, eine ganze Horde an Kofferträgern und ein entsetzliches Gedränge an Männern, die uns alle möglichen Sachen verkaufen wollten, kamen auf uns zu. Gewebte Schals in bunten Farben, Tassen mit Wasser, Fliegenklatschen, klimpernde Perlenketten, kleine Figuren aus Stein und glatte runde Dinger, die ich erst als gemeißelte Skarabäuskäfer erkannte, als man mir einen davon in die Hand drückte – genau wie diejenigen, die Daisy und ich vor so vielen Monaten im British Museum gesehen hatten. Als ich mich an diesen Fall erinnerte, musste ich an Alexander denken.

»Nein, danke«, gab ich dem Mann stammelnd zur Antwort, der ihn mir gegeben hatte. »Shukran.« Doch offensichtlich war das ein Fehler gewesen, denn er hielt mir mit einem gekränkten Blick die Hände entgegen. »Lady!«, rief er. »Nur fünfzig Piaster – ein sehr guter Preis für Sie. Bitte, Lady!«

Mir erschienen fünfzig Piaster recht teuer, doch er bedrängte mich so sehr, dass ich automatisch nach meiner Geldbörse kramte, bis Amina mich von ihm wegstieß. »Hazel, du musst feilschen!«, zischte sie. »Er hat dir einen schrecklich unverschämten Preis genannt – das Ding ist keine fünf wert. Lass mich mal!« Sie begann sehr laut und theatralisch auf Arabisch zu sprechen, woraufhin der Mann zurückschrie – mit einem tödlich beleidigten Ausdruck im Gesicht.

In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so furchtbar wie eine Touristin gefühlt. »Ist schon gut!«, flüsterte ich Amina zu. »Bitte, ich kann es ihm bezahlen.«

Amina ignorierte mich. Als sie sich schließlich umdrehte, hielt sie zwei Skarabäen in der Hand und wirkte extrem gut gelaunt. »Zwei für dreißig«, sagte sie. »Das sind sie natürlich nicht wert, aber darum geht es gar nicht.«

»Worum geht es dann?«, wollte ich wissen.

»Vor allem ums Streiten«, erklärte Amina. »Außerdem sind dreißig Piaster für uns ein Klacks, aber für ihn eine ganze Menge. Genau genommen haben wir also beide ein gutes Geschäft gemacht. Der andere Käfer ist für Daisy.«

»Oh. Nun, warum nicht?«, meinte Daisy und tat wenig interessiert – allerdings entging mir nicht, dass sie den Käfer behutsam und sicher in ihrer Tasche verstaute.

»Danke«, wandte ich mich an Amina. Ich hielt meinen neuen Skarabäus hoch, der blaugrün wie das Meer leuchtete, und hakte mich bei Daisy unter.

Dann wurde mein Blick von einer Stelle ein Stück weiter entlang des Bahnsteigs angezogen, wo sich das Heer von Händlern nun um die Hauch-des-Lebens-Gesellschaft scharte. Ohne die Hilfe von jemandem wie Amina schlugen sie sich ziemlich schlecht. Die pummelige kleine alte Rhiannon zog den Kopf ein, während die knochige Ida – heute in einem prächtigen hellgrünen Kleid – mit glühenden Blicken ihren Sonnenschirm schwang. »Verschwindet!«, brüllte sie. »Wir wollen nichts! Schert euch fort!«

»Also wirklich!«, schimpfte Amina. »Kein Grund, so unverschämt zu sein. Wenn man nichts kaufen will, ignoriert man sie einfach.«

Ich sah, wie der alte Mann drohend seinen Gehstock mit der goldenen Spitze erhob, wobei sein dazu passendes goldglänzendes Haar in der Sonne schimmerte. Ich hatte Angst, dass er jemanden damit schlagen könnte. Dann durchschnitt eine wütende Stimme den Lärm und die Verkäufer erstarrten.

Es war Theodora Miller – und erneut war überdeutlich, warum gerade sie das Sagen hatte. Sie mochte die Figur eines übermäßig gepolsterten Sofas haben, ähnlich wie Miss Lappet, unser Lateinfräulein auf der Deepdean, doch sie gab sich wie eine Herrscherin. Ihre funkelnden Blicke bohrten sich regelrecht in die Händler.

»GEHT WEITER!«, donnerte sie die Männer an, die augenblicklich zurückwichen und schrecklich verängstigt wirkten. Von jemandem mit ihrer Größe und Statur hatten sie eine solche Stimme eindeutig nicht erwartet. »LOS, SCHLEICHT EUCH! Ihr grässliches Pack! Lasst uns in Ruhe! Wir wollen nichts kaufen und wir lassen uns von euch nicht übers Ohr hauen!«

»Aber Madam!«, setzte einer an. »Die Lady, Ihre Freundin – sie hat noch immer meinen Schal und noch nicht bezahlt.«

»Dann ist das DEINE SCHULD!«, rief Theodora Miller. »Daran hättest du denken sollen, bevor du ihn ihr aufgedrängt hast! Und jetzt troll dich!«

Ich war entsetzt. Das war einfach nicht fair. Wenn man etwas nimmt, muss man dafür bezahlen. Ich sah, wie mein Vater den Kopf schüttelte und Amina die Lippen schürzte.

»Hervorragend gemacht, Theodora«, sagte der alte Mann fröhlich und winkte mit dem Stock. »Gut gesprochen. Darf ich wohl den Schal haben, wenn du ihn nicht brauchst, Ida?«

»Ganz gewiss nicht, Narcissus!«, keifte Ida. »Er gehört mir. Er passt zu meinem Kleid.«

»Nun hört auf, euch zu zanken, ihr beide«, ging Theodora Miller dazwischen. »Ida, besorge uns angemessene Kutschen. NICHT die mit all den lächerlichen Verzierungen darauf – das Geklimpere ertrage ich nicht. Und pass auf, dass die Pferde nicht weiß sind. Weiße Pferde sind grundsätzlich zu unruhig, mit ihnen reist man nur unsanft.« Ida nickte und ging los. Die junge Frau, Heppy, wollte ihr nach, wurde aber von Theodora mit einem mächtigen Schrei aufgehalten.

»Nein, Heppy, du NICHT!«, grollte sie. »Du bleibst bei mir, wo ich dich im Auge behalten kann. Ich TRAUE dir nicht!«

Heppy zuckte zusammen und begann zu zittern, wobei sie an den Locken zupfte, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst hatten – was Theodora umso mehr in Rage zu bringen schien.

»HEPPY! HÖR AUF, auf deinem HAAR herumzukauen! Wie oft MUSS ich es noch in deinem Lebensbuch eintragen, bevor du endlich hörst?! Das sind heute schon zwei Minuspunkte, dabei ist es noch nicht einmal Mittag!«

Heppy zitterte am ganzen Körper und legte die Hände schnell an die Seiten. Ihre Brust hob und senkte sich sichtlich, als sie stammelte: »Es tut mir leid, M– Theodora, ehrlich. Ich habe es nicht einmal bemerkt –«

»Aber ich bemerke es!«, brüllte Theodora. »Ich merke es, Heppy – wie oft muss ich es dir noch sagen? Nun sei ein braves Mädchen und kümmere dich um Miss Bartleby, hörst du?«

Theodora Millers Art änderte sich derart schnell, dass es mich verblüffte – und machte mir deutlich, wie eindringlich ich dieses Schauspiel mitverfolgte. Die Wut in ihren Augen verpuffte und plötzlich wirkte sie wieder nur wie eine dickliche kleine alte Dame. Wäre Heppy nicht gewesen, hätte ich auf die Idee kommen können, dass ich mir diesen Wutausbruch nur eingeredet hatte. Doch die junge Frau stolperte zu der pummeligen kleinen Rhiannon – Miss Bartleby – und bebte dabei vor Aufregung wie eine angeschlagene Harfe. Zitternd bot Heppy ihr ihren Arm an.

Miss Bartleby tätschelte sie zum Trost. »Ist ja alles gut, meine Liebe«, sagte sie. »Du weißt, dass du dir das selbst zuzuschreiben hast. Du darfst Theodora nicht so reizen.«

Ich war schockiert. Soweit ich gesehen hatte, hatte Heppy rein gar nichts getan. Trotzdem stießen Ida und Narcissus zustimmende Laute aus.

Theodora verschwand Richtung Hauptausgang und alle anderen folgten ihr wie bei einer Prozession. Dann verloren sie sich im Gedränge der Menge.

»Diese Scheusale!«, schimpfte Amina. »Ich glaube, jetzt hasse ich sie sogar noch mehr. Was für schreckliche Menschen, so zu tun, als wäre alles Heppys Schuld, was so gar nicht stimmt!«

Durch die Säulen des Bahnhofs gingen wir unter den ausgestreckten Flügeln des gemalten Geiers an der Decke über uns nach draußen und traten in eine schwitzende, schreiende Gruppe Kutscher, die sich alle aus ihren Wagen lehnten, um uns zu sich zu rufen.

»Was für abstoßende Leute. Zum Glück fahren sie in eine völlig andere Richtung als die, in der unser Schiff liegt«, sagte mein Vater. Offensichtlich konnte er den Hauch-des-Lebens ebenso wenig leiden wie wir. »Pik An, beeil dich und hole Rose und May. Lasst uns diese absolut schönen weißen Pferde mitsamt der Kutschen nehmen, die diese törichten Damen verschmäht haben.«

Mein Vater half mir in diejenige, die am nächsten stand. Das raue Leder kratzte unter meinen Händen und das Verdeck wölbte sich über mir wie die Flügel eines Skarabäus. Daisy, Amina und Miss Beauvais zwängten sich neben mich und mit einem klimpernden Ruck fuhren wir los. Die Räder drehten sich, die Hufe des armen dürren Pferds klackten und die Peitsche des Kutschers knallte.

Wir ratterten durch eine lange, breite und staubige Straße, vorbei an eckigen Häusern in hellen Farben, die wie Kiste an Kiste gebaut waren, vorbei an Obsthändlern und Kindern, die neben unserer Kutsche herrannten, vorbei an Automobilen, Karren, hellbraunen dürren Hunden, Gummibäumen und pergamentenen rosa Blumen. Dann bogen wir an einer Moschee ab und – Amina stieß die Luft aus – rechts von uns erhob sich eine gigantische Tempelruine, deren Steine in der Sonne leuchteten.

»Das ist der Tempel von Luxor«, sagte Amina aufgeregt. »Diese Statuen sind von Ramses, dem Zweiten – er war ein schrecklich wichtiger Pharao. Oh, das wollte ich schon immer mal sehen!«

Sie lehnte sich aus der Kutsche, während wir erneut um eine Kurve fuhren, diesmal auf einen weiten Platz, links von uns gesäumt von hübschen Hotels und rechts von uns – diesmal blieb mir vor Staunen der Mund offen stehen – der Nil, der in einem absolut sanften Hellblau glitzerte. Das andere Ufer war lediglich ein Strich, hinter dem Berge lagen, die so weit entfernt und unscharf waren, dass ich sie auf den ersten Blick für Wolken hielt.

Und auf dem Nil schwamm wie ein Schwan unser Schiff.

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9783957286048
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