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KAPITEL 2 DAS GERÄUSCH ENTWEICHENDER LUFT

»Wir erleben momentan wirtschaftliche Bedingungen, wie sie nur einmal im Leben vorkommen. Ich sehe das aber nicht als Rezession. Vielmehr reguliert sich die Wirtschaft auf ein niedrigeres Ausgabenniveau von Unternehmen und Privaten ein, was hauptsächlich damit zusammenhängt, daß weniger geliehenes Geld zirkuliert.«

Steven Ballmer (Chef von Microsoft)

Wäre das vorangehende Kapitel Teil eines Romans, wäre ein Leser ziemlich bald zu dem Schluß gelangt, daß die Geschichte wahrscheinlich nicht gut ausgeht. Aber es ist keine Geschichte, sondern die Beschreibung des Systems, in das unser Leben und das Leben all der Menschen, die uns wichtig sind, eingebettet ist. Deshalb fragen wir nicht nur aus schierer Neugier oder akademischem Interesse, welchen Verlauf wirtschaftliche Ereignisse in der Zukunft nehmen werden.

Es ist nicht schwer, viele Meinungsäußerungen zur Frage zu sammeln, wohin die Wirtschaft steuert oder steuern sollte. Einmal gibt es die Ökonomen der Chicagoer Schule, die Schulden und die Einmischung von Regierungen und Zentralbanken für das Problem halten und Sparen für die Lösung. Dann sind da die Keynesianer, für die das Problem darin besteht, daß die Regierung zuwenig gegen die deflationären Tendenzen in der Wirtschaft unternimmt. Außerdem hören wir, die aufgeblähte Kreditaufnahme und die übermäßigen Staatsausgaben bedeuteten, daß wir auf eine Hyperinflation zusteuerten, die den Geldwert vernichten werde, oder wir hören das Gegenteil: Der Staat könne gar nicht genug neues Geld in die Wirtschaft pumpen, um die Zurückhaltung der Geschäftsbanken bei der Kreditvergabe auszugleichen, weshalb eine jahrelange deflationäre Krise unvermeidlich sei. Wie wir sehen werden, ist wahrscheinlich jeder Standpunkt in gewissem Grad richtig. Unser Anliegen in diesem Kapitel ist es nicht, genau vorherzusagen, wie sich die Weltwirtschaft in der nächsten Zukunft verhalten wird – das ist sowieso unmöglich, weil zu viele Variablen mitspielen –, sondern wir wollen einen knappen, trotzdem ziemlich umfassenden, unparteiischen Überblick über die Faktoren und Kräfte geben, die in der globalen Finanzwirtschaft nach 2008 am Werk sind, und dabei wollen wir so viele Standpunkte wie möglich einbeziehen.

Dafür beginnen wir mit einem kurzen Rückblick auf die Krise, die 2007 begonnen hat, und wenden uns dann den theoretischen und praktischen Grenzen der Verschuldung zu. Danach prüfen wir die Rettungs- und Anreizpakete, die die Auswirkungen der Krise lindern sollten. Und schließlich erkunden wir ein paar Szenarien für die kurz- und mittelfristige Zukunft.

Es wird nicht sehr weh tun. Versprochen.

Kartenhäuser

Ganze Seen von Druckertinte wurden vergossen, um die Ereignisse zu schildern, die zu der 2007/2008 ausgebrochenen Finanzkrise führten. Wir werden an dieser Stelle nur noch eine kleine Pfütze hinzufügen. Es herrscht nahezu Einigkeit, daß die Krise sich ungefähr so abspielte:

•Beim Versuch, die Folgen des »Dotcom«-Zusammenbruchs im Jahr 2000 abzumildern, senkte die Federal Reserve drastisch die Zinsen. Auf diese Weise konnten Kreditinstitute im ganzen Land Privatleute und Unternehmen unkompliziert mit Krediten versorgen, die sonst keine Kredite bekommen hätten.

•Das führte zur Immobilienblase, die durch Vergabe an Schuldner mit mangelhafter Kreditwürdigkeit noch verschlimmert wurde.

•Teils infolge der früheren Deregulierung der Finanzbranche vergrößerte sich die Immobilienblase noch weiter durch übermäßige Fremdfinanzierung auf Seiten der Finanzdienstleister. Dies wurde wiederum verschärft durch komplexe Finanzinnovationen (Derivate, forderungsbesicherte Wertpapiere und eine verwirrende Fülle verwandter Finanzinstrumente) – all dies nährte ein System der Schattenbanken, deren latente Probleme dadurch verschleiert wurden, daß die Ratingagenturen Risiken falsch bewerteten.

•Ein Nachfrageboom bei Rohstoffen (der die Benzin- und Nahrungsmittelpreise in die Höhe trieb) und vorübergehend steigende Zinsen (vor allem bei Hypotheken mit variablem Zinssatz) untergruben das Vertrauen und die Ausgabenbereitschaft der Konsumenten und beförderten das Platzen der Immobilienblase – und als die Luft erst zu entweichen begann, nahm eine Kettenreaktion von Kreditausfällen und Insolvenzen ihren Lauf.

Jeder einzelne Punkt dieser kurzen Darstellung wird ausführlich erörtert in Büchern wie Die Unfehlbaren von Andrew Ross Sorkin und All the Devils Are Here von Bethany McLean und Joe Nocera oder in dem Dokumentarfilm »Inside Job«.1 Heute ist das eine alte, traurige Geschichte, obwohl vieles davon immer noch umstritten ist (zum Beispiel, ob es an der Deregulierung oder an schlechter Regulierung lag). Und trotzdem wird in vielen Analysen übersehen, daß diese Ereignisse Ausdruck eines tieferen Trends zu einem dramatischen, untragbar hohen Anstieg bei Schulden, Kreditvergabe und Fremdfinanzierung waren. Deshalb ist es wichtig, daß wir die jüngere Vergangenheit etwas detaillierter betrachten, denn nur so erkennen wir, warum aus rein finanzieller Perspektive das Wachstum derzeit stagniert und in absehbarer Zeit nicht wiederaufleben wird.

Die Bühne wird bereitet: 1970 bis 2001

Seit den 1970er Jahren verlangsamte sich das BIP-Wachstum in den westlichen Ländern. Die Vereinigten Staaten waren einmal der größte Ölproduzent der Welt; 1971 erreichte ihre Produktion den Höhepunkt und sank danach allmählich. Sie mußten daraufhin mehr Öl importieren, um den Rückgang auszugleichen, und das riß ein Loch in die Handelsbilanz. Außerdem waren die heimischen Märkte für wichtige Konsumgüter allmählich gesättigt.

Nach 15 Jahrzehnten stetiger Lohnzuwächse stagnierten die Löhne in den Vereinigten Staaten inflationsbereinigt, insbesondere bei den gewerblichen Arbeitnehmern, die 80 Prozent der Erwerbsbevölkerung ausmachen. Ein relativ konstantes Lohnniveau bedeutete, daß die meisten Haushalte es sich nicht leisten konnten, ihre Ausgaben zu steigern (man erinnere sich: eine gesunde Wirtschaft braucht Wachstum), es sei denn, sie sparten weniger und liehen sich mehr. Und genau das taten sie.

Weil auch das Wachstum der Realwirtschaft zum Stillstand gekommen war, schrumpften die Gelegenheiten für profitable Investitionen im gewerblichen Bereich, und so sammelte sich immer mehr Investitionskapital, das nach hohen Renditen verlangte. Reiche Investoren verfielen auf die Lösung, dieses Kapital direkt auf die Finanzmärkte zu leiten.

Die wichtigste Entwicklung im Finanzsektor in den 1970er Jahren war die Zunahme der Verbriefungen: Dabei werden verschiedene Arten von Schuldvereinbarungen (etwa Hypotheken, Autokredite oder Kreditkartenschulden) zusammengefaßt und in Form von Anleihen oder hypothekenbesicherten Wertpapieren (etwa durch Hypothekenanleihen, CMOs) an Investoren verkauft. Das Kapital und die Zinsen auf die dem Wertpapier zugrunde liegenden Schulden wurden regelmäßig an die Investoren ausgezahlt, das Wertpapier selbst konnte weiterverkauft werden. Die Verbriefungen eröffneten einen Weg, wie mehr Investoren mehr Schulden finanzieren konnten. Tatsächlich erlaubten sie, daß die Vermögensansprüche weit über bisher bekannte Niveaus anstiegen. In den Vereinigten Staaten wuchs die Verschuldung schneller als das BIP; das Verhältnis von Verschuldung zu BIP kletterte von 150 Prozent (wo es über viele Jahre bis 1980 gelegen hatte) bis auf seinen gegenwärtigen Stand von 300 Prozent. Die Gesamtverschuldung der Vereinigten Staaten ist seit 1965 in jedem Jahr stärker gestiegen als das BIP.

Ebenfalls seit den 1970er Jahren argumentierten Ökonomen und politisch Verantwortliche, um die hauptsächlich durch hohe Ölpreise verursachte hartnäckige »Stagflation« zu beenden, seien Steuererleichterungen für Reiche nötig: Wenn sie mehr Geld auf ihren Bankkonten hätten, würden sie das Kapital so investieren, daß letztlich alle davon profitieren könnten.2 Zugleich beschlossen die Politiker, daß es an der Zeit war, den Finanzsektor von verschiedenen Beschränkungen der New-Deal-Ära zu befreien und ihm zu ermöglichen, noch mehr innovative Investitionsgelegenheiten zu schaffen.

Einige Kommentatoren behaupten, der Community Reinvestment Act von 1977 (seither neunmal aktualisiert) – damit sollten Geschäftsbanken und Sparkassen ermutigt werden, die Kreditvergabe nicht auf wohlhabende Viertel zu beschränken, sondern auch Menschen in einfachen und mittleren Wohngegenden Kredite zu gewähren – habe zur Entstehung der Immobilienblase von 2000 bis 2006 beigetragen. Das wurde vehement bestritten. Doch die Privatisierung des Hypothekenfinanzierers Fannie Mae 1970 und die gleichzeitige Gründung des Pendants Freddie Mac auf Veranlassung des Kongresses hatten natürlich viel später Auswirkungen, als 2007 der Immobilienmarkt zusammenbrach.3 Aber wir wollen nicht vorgreifen.

Der Prozeß der Deregulierung und der Veränderungen bei den Regulierungen ging das nächste Vierteljahrhundert weiter. Dazu gehörte auch der Commodity Futures Modernization Act, formuliert vom republikanischen Senator Phil Gramm, unterzeichnet vom demokratischen Präsidenten Bill Clinton im Jahr 2000, der den Handel mit Paketen aus zweifelhaften Hypothekendarlehen legalisierte.

Parallel zu den regulatorischen Vorgaben veränderte sich die Unternehmenskultur: Die Führungskräfte achteten mehr auf Vorteile für das Management als auf Vorteile für die Anteilseigner, genehmigten sich spektakuläre Bonuszahlungen und legten deutlich mehr Wert auf steigende Aktienkurse als auf Dividenden. Wirtschaftsprüfer, Aufsichtsräte und Analysten von der Wall Street unterstützten diese Tendenzen in der festen Überzeugung, Kurssteigerungen und sonstige Renditen würden sie rechtfertigen.4

Waren in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Einkommen in Amerika einigermaßen gleichmäßig verteilt gewesen, stellte sich nun die Ungleichverteilung der 1920er Jahre, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, wieder her. Das hing teilweise mit Veränderungen bei der Steuergesetzgebung unter der Regierung Reagan zusammen, die die Steuern für die reichsten Amerikaner senkte. 1970 verdienten die Chefs der 100 größten Unternehmen 45mal soviel wie der durchschnittliche Arbeitnehmer, 2008 war es mehr als 1000mal soviel.

Grafik 12. US-BIP, 1900–2010. Die Grafik zeigt die Entwicklung des nominalen Bruttoinlandsprodukts. 1929 stürzte es als Folge des Börsenkrachs ab, die Erholung dauerte fast 40 Jahre. Ab 1975 sehen wir einen steilen Anstieg des US-BIP bis zur ersten Finanzkrise 2008, wo die Kurve eine Delle zeigt.

Quelle: Für 1900–1928 Louis Johnston und Samuel H. Williamson, »What Was the US GDP Then?« MeasuringWorth, 2010. Für 1929–2010 US Bureau of Economic Analysis.

Grafik 13. Gesamtverschuldung der USA als Prozentsatz des BIP, 1945–2010. Die Prozentsätze beruhen auf den nominalen Werten von Schulden und BIP in jedem Jahr. Die öffentlichen Schulden (Kommunen, Bundesstaaten und Bund) bleiben als Prozentsatz des BIP ziemlich konstant. Die größten Zuwächse seit 1945 gibt es bei den Privathaushalten und im Finanzsektor. Seit Ende der 1980er Jahre häufen die Finanzinstitute immer höhere Schulden auf, ihren Peak erreichen sie unmittelbar vor dem Crash von 2008.

Quelle: The Federal Reserve, US Bureau of Economic Analysis.

Während der Überschuß an Finanzkapital immer weiter wuchs, erfanden die Investmentbanken in den 1990er Jahren eine ganze Reihe neuer Wertpapiere mit hohen Renditen (und hohen Risiken). Bei der Bewertung dieser Produkte verwendeten die Ratingagenturen mathematische Modelle, die, wie wir rückblickend sagen können, deren Risiken massiv unterschätzten. Jahrzehnte zuvor wurden Agenturen, die Anleihen bewerteten, von den Anlegern bezahlt, die unparteiische Informationen über die Kreditwürdigkeit von Wertpapieremittenten und deren Produkten haben wollten. Ab den frühen 1970er Jahren bekamen die »großen drei« Ratingagenturen (Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch) ihr Geld stattdessen von den Wertpapieremittenten. Das veranlaßte sie schließlich, aktiv die Emission von hochriskanten forderungsbesicherten Schuldverschreibungen (CDOs) zu fördern.

Ebenfalls in den 1990er Jahren formulierte die Regierung Clinton »bezahlbares Wohnen« als ein ausdrückliches Ziel ihrer Politik (das bedeutete nicht, daß die Hauspreise sinken sollten; es bedeutete vielmehr, daß es den Amerikanern erleichtert werden sollte, sich zu verschulden), und in den folgenden zehn Jahren stieg der Prozentsatz der Haus- und Wohnungsbesitzer in Amerika um 7,8 Prozent. Damit begann ein anhaltender Aufwärtstrend bei den Immobilienpreisen.

Das Internet, wie wir es heute kennen, stand seit Mitte der 1990er Jahre für Geschäfte zur Verfügung. Innerhalb weniger Jahre trieben Investoren die Preise für Internet-Aktien in die Höhe und erzeugten eine Spekulationsblase. Die Dotcom-Blase platzte im Jahr 2000 (wie bei allen Blasen war es nur eine Frage des »Wann« und nicht des »Ob«), ein Jahr später führten die furchtbaren Anschläge vom 11. September 2001 zu einer viertägigen Schließung der New Yorker Börse und zum größten Tagesverlust in der Geschichte des Dow Jones Industrial Average. Diese Ereignisse zusammen lösten eine massive Rezession aus. In dem Bemühen, deflationäre Tendenzen abzuwehren, senkte die Federal Reserve die Zinsen möglichst tief, um die Kreditaufnahme zu verbilligen.

Druck auf die Zinsen kam auch von dem hohen und wachsenden Handelsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten. Bei der Zahlungsbilanz eines Landes muß unter dem Strich immer eine Null stehen; wenn ein Land ein Leistungsbilanzdefizit ausweist, muß das mit Geld aus Auslandsinvestitionen oder durch das Abschmelzen von Reserven oder durch Kreditaufnahme bei anderen Ländern ausgeglichen werden. Mit anderen Worten: Ein Land, das mehr importiert, als es exportiert, muß sich Geld leihen, um die Importe zu bezahlen. Folglich mußten die amerikanischen Importe durch große und wachsende Mengen von ausländischem Investitionskapitel finanziert werden, das nach Amerika floß. Höhere Anleiherenditen ziehen mehr Investitionskapital an, aber zwischen Anleihekursen und Zinsen besteht eine unauflösliche inverse Beziehung, so daß Handelsbilanzdefizite die Zinsen nach unten treiben.

Ausländische Investoren hatten reichlich Kapital zu verleihen, teils wegen hoher Sparquoten (in China werden bis zu 40 Prozent des Einkommens gespart), teils wegen hoher Ölpreise (»Windfall Profits« für die erdölproduzierenden Länder). Ein riesiger »Geldsee«, der sich zwischen 2000 und 2007 verdoppelt hatte, schwappte über die amerikanischen Finanzmärkte.5 Während ausländische Regierungen risikolose kurzfristige amerikanische Staatsanleihen (Treasury Bonds) kauften und so einigermaßen vor einem Crash geschützt waren, stopften sich andere ausländische Investoren, darunter auch Pensionsfonds, die Taschen mit höherverzinsten hypothekenbesicherten Wertpapieren (mortgagebacked securities, MBS) und CDOs voll. Indirekt hatte das zur Folge, daß die amerikanischen Haushalte bei Ausländern geliehenes Geld dazu verwendeten, ihren Konsum zu finanzieren und die Immobilienpreise in die Höhe zu treiben; gleichzeitig war der Verkauf von hypothekenbesicherten Papieren an Ausländer ein Ausverkauf von heimischen Vermögenswerten.

Schattenbanken und Immobilienblase

Um diese Zeit hatte ein weitgehend unreguliertes System von »Schattenbanken«, bestehend aus Hedgefonds, Geldmarktfonds, Investmentbanken, Pensionsfonds und anderen kaum regulierten Instituten eine kritische Größe auf den Kreditmärkten erreicht und stützte das Finanzsystem insgesamt. Aber die Schatten»banken« liehen sich kurzfristig Geld auf liquiden Märkten und kauften damit langfristige, illiquide, riskante Anlagen; dabei profitierten sie von der Differenz zwischen den niedrigeren kurzfristigen Zinssätzen und den höheren langfristigen Zinssätzen. Das bedeutete, daß jede Störung auf den Kreditmärkten zu einem raschen Abbau von Fremdkapital führte, weil sie diese Institute zwang, langfristige Anlagen (wie hypothekenbesicherte Papiere) zu Schleuderpreisen zu verkaufen.

Zwischen 1997 und 2006 erhöhte sich der Preis für ein typisches amerikanisches Wohnhaus um 124 Prozent. Die Hauspreise stiegen sehr viel schneller als die Einkommen. In den 20 Jahren vor 2001 hatte der mittlere Hauspreis das 2,9fache bis 3,1fache des mittleren Haushaltsjahreseinkommens betragen. Dieses Verhältnis kletterte 2004 auf das 4fache und 2006 auf das 4,6fache mit der Folge, daß immer mehr Menschen sich die Häuser nicht mehr leisten konnten, die sie kauften. Weil die Zinsen niedrig waren, schuldeten viele Hausbesitzer ihre Immobilien um oder nahmen eine zweite, durch den Wertzuwachs abgesicherte Hypothek auf und verwendeten das Geld dann für die Anschaffung eines neues Autos oder einen Wohnungsumbau. Viele solche Hypotheken hatten zu Anfang sehr geringe – aber variable – Zinsen, und bald erlebten die Kreditnehmer eine böse Überraschung.

Die Wall Street hatte den »Geldsee« zum amerikanischen Hypothekenmarkt geleitet, dabei fielen entlang der gesamten finanziellen Lieferkette enorme Provisionen an: von den Hypothekenvermittlern, die die Kredite verkauften, über die kleinen Banken, die die Vermittler finanzierten, bis zu den riesigen Investmentbanken, die die Kredite verbrieften, bündelten und an Investoren weltweit verkauften. Dieser Kapitalfluß bescherte auch Millionen Menschen Jobs in der Bau- und Immobilienbranche.

Die Börsenhändler an der Wall Street glaubten bald, sie würden viele Millionen Dollar jährlich als Vergütung verdienen, einfach weil sie auf einen so cleveren Weg verfallen waren, den Umschlag von Schulden in den Schnellgang zu schalten und dabei einen ordentlichen Prozentsatz für sich abzuschöpfen. Schlechtes Verhalten wurde angenehm entlohnt, und so beschlossen beinahe alle an der Wall Street, sich schlecht zu verhalten.

Um das Jahr 2003 war das Angebot von Hypotheken, die nach herkömmlichen Kreditbedingungen vergeben wurden, weitgehend erschöpft. Aber die Nachfrage nach hypothekenbesicherten Schuldverschreibungen hielt an, und so wurden die Standards bei der Hypothekenvergabe gesenkt. So wurden manche Hypotheken mit variablem Zinssatz mit einem Anfangszins von null Prozent oder ohne Anzahlung angeboten oder Schuldnern offeriert, die nicht in der Lage sein würden, sie zurückzuzahlen – oder alles zusammen.

Gebündelt zu Wertpapieren, verkauft an Pensionsfonds und Investmentbanken, abgesichert mit Derivaten, wurden Hypothekenschulden zu dem Stoff, aus dem das amerikanische Finanzsystems bestand und zunehmend auch die Volkswirtschaften vieler anderer Länder. 2005 entfielen 62 Prozent der Erlöse von Geschäftsbanken auf Transaktionen im Zusammenhang mit Hypotheken, 1987 waren es erst 33 Prozent gewesen.

Als dann die Blase unvermeidlich platzte, wurde aus einer 300-Milliarden-Dollar-Krise infolge fauler Hypothekendarlehen eine Viele-Billionen-Dollar-Katastrophe, die die Finanzsysteme der Vereinigten Staaten und vieler anderer Länder erschütterte.

Zwischen Juli 2004 und Juli 2006 verfolgte die Fed einen Kurs, der die Zinsen für Bankkredite steigen ließ. Infolgedessen erhöhten sich die Zinsen für Hypotheken mit variablen Zinssätzen und Laufzeiten von einem und fünf Jahren, und das trieb die Zahlungsverpflichtungen vieler Schuldner in die Höhe. Weil die Preise von Vermögensanlagen sich generell gegenläufig zu den Zinsen bewegen, wurde es auf einmal riskant, mit Immobilien zu spekulieren. Aus der Blase begann die Luft zu entweichen.

Was aufsteigt …

Anfang 2007 schoß die Zahl der Zwangsversteigerungen von Häusern nach oben, und das Geschäft mit faulen Hypothekenkrediten in den Vereinigten Staaten kollabierte. Mehr als 25 Hypothekenfinanzierer meldeten Konkurs an, gaben hohe Verluste bekannt oder suchten Käufer.

Das Spiel war so lange gutgegangen, wie die zugrunde liegenden Sicherheiten (Häuser) Jahr für Jahr im Wert stiegen. Doch als die Hauspreise ihren Höhepunkt erreicht hatten, kam die umgedrehte Pyramide aus Immobilien, Schulden, CDOs und Derivaten ins Wanken und stürzte schließlich ein.

Eine kurze Zeitspanne zwischen 2006 und Mitte 2008 flohen Investoren weltweit in Future-Kontrakte auf Öl, Metalle und Nahrungsmittel und trieben damit die Rohstoffpreise nach oben. In vielen armen Ländern brachen Hungerrevolten aus, weil sich der Preis für Weizen und Reis verdoppelte oder verdreifachte. Zum Teil beruhte der Boom auf einem fundamentalen wirtschaftlichen Trend: Die Nachfrage nach Rohstoffen stieg – was auch mit dem wirtschaftlichen Wachstum in China, Indien und Brasilien zusammenhing –, und das Angebot konnte nicht mithalten. Doch die Spekulation trieb die Preise schneller in die Höhe, als allein die Knappheit des Angebots es gekonnt hätte. Die steigenden Ölpreise verursachten eine scharfe Rezession in den westlichen Volkswirtschaften, und die sowieso klammen Hausbesitzer mußten nun für jede Tankfüllung ihrer Geländewagen 80 bis 100 Dollar hinblättern. Automobilindustrie, Luftverkehr, Schiffahrt und Speditionen hatten zu kämpfen.

Grafik 14. US-Immobilienpreise. Hauspreis-Index bei konventionellen Hypotheken seit 1970. Die Immobilienpreise stiegen kontinuierlich von 1970 bis zu ihrem Höhepunkt 2007, besonders steil war der Anstieg ab 2000.

Quelle: Freddie Mac.

Von Mitte 2006 bis September 2008 fielen die Hauspreise in Amerika um über 20 Prozent. Vielen, die sich kurz zuvor Geld geliehen hatten, stand das Wasser nun bis zum Hals: Die Häuser waren auf einmal weniger wert, als die Kredite ausmachten. Wer eine Hypothek mit variablem Zinssatz hatte, scheiterte bei dem Versuch, den Kredit umzuschulden, um steigenden Zinsen zu entgehen, weil die Immobilien als Sicherheit nicht mehr ausreichten. Die Zahl der geplatzten Immobilienfinanzierungen schoß in die Höhe. Von 2006 bis 2007 erhöhte sich die Zahl der Zwangsversteigerungen um 79 Prozent (und betraf fast 1,3 Millionen Häuser und Wohnungen). 2008 verschärfte sich die Lage noch mit einem Anstieg um 81 Prozent gegenüber dem Vorjahr und 2,3 Millionen Zwangsversteigerungen. Im August 2008 wurden 9,2 Prozent aller Hypothekendarlehen in den USA entweder nicht mehr bedient oder befanden sich in der Zwangsvollstreckung; im September des Folgejahres war diese Zahl auf sage und schreibe 14,4 Prozent gesprungen.

Als die Immobilienpreise abstürzten und die Geschäfte mit den faulen Hypotheken platzten, geriet die gesamte Finanzwelt ins Wanken.

Grafik 15. Schulden der US-Privathaushalte. Quote der Zahlungsverpflichtungen und gesamte nominelle Schulden der US-Privathaushalte. Die Quote der Zahlungsverpflichtungen eines Haushalts ist das Verhältnis seiner Zahlungsverpflichtungen (Hypotheken, Konsumentenschulden, Fahrzeugleasingraten, Mietzahlungen für die Wohnung, Wohngebäudeversicherung und Grundsteuer) zum verfügbaren Einkommen. Kurz vor der Finanzkrise gaben die Haushalte fast 19 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Bedienung ihrer Schulden aus. Das Gesamtvolumen der ausstehenden Schulden von Privathaushalten erreichte ebenfalls 2008 kurz vor der Finanzkrise mit 14 Billionen Dollar seinen Höhepunkt. Um einen Eindruck von der Größenordnung zu bekommen: Der Wert der gesamten US-Wirtschaft betrug in dem Jahr 14,3 Billionen Dollar.

Quelle: The Federal Reserve.

Grafik 16. Zwangsversteigerungen in den USA, 1970–2010. Zahl der Zwangsversteigerungen am Ende jedes Quartals. Für 1970–2001 jährliche Durchschnitte, für 2002–2010 vierteljährliche Daten. Die Zahl der Zwangsversteigerungen schoß während der Finanzkrise in die Höhe, von 1,28 Prozent Anfang 2007 auf 4,63 Prozent Anfang 2010, den höchsten Stand in den letzten 40 Jahren.

Quelle: Mortgage Bankers Association, National Delinquency Survey, Foreclosure Inventory at End of Quarter.

Am 15. September 2008 drohte das gesamte Finanzsystem innerhalb der nächsten 48 Stunden zu kollabieren. Die gigantische Investmentbank Lehman Brothers ging bankrott, was eine Schockwelle über die weltweiten Finanzmärkte jagte.6 Rund um den Globus kam die Kreditvergabe zum Erliegen, die US-Regierung verabschiedete ein außerordentliches Bündel von Rettungspaketen für Wall-Street-Banken und Versicherungsunternehmen. Zusammengenommen summierten sich Kredite und Garantien auf atemberaubende 12 Billionen Dollar. Das BIP schrumpfte, und innerhalb weniger Monate gingen 8 Millionen Arbeitsplätze verloren.7

Ein Großteil der übrigen Welt war durch verschachtelte Investitionen, die auf Hypotheken basierten, ebenfalls betroffen. Die Länder der Eurozone und Großbritannien erlebten wirtschaftliche Einbrüche oder eine dramatische Verlangsamung des Wachstums, in einigen Entwicklungsländern gingen die bisher hohen Wachstumsraten signifikant zurück (zum Beispiel fiel das Wirtschaftswachstum in Kambodscha von 10 Prozent im Jahr 2007 auf fast null 2009). Bis März 2009 hatte die arabische Welt infolge der Krise geschätzte 3 Billionen Dollar verloren – teilweise durch den Absturz der Ölpreise.

Und dann stand 2010 Griechenland vor einer Staatsschuldenkrise, die den wirtschaftlichen Zusammenhalt der Europäischen Union bedrohte. Aufeinanderfolgende griechische Regierungen hatten durch die Finanzierung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, für Rentenzahlungen und andere Sozialleistungen hohe Defizite aufgehäuft. Anfang 2010 kam heraus, daß die griechische Regierung Goldman Sachs und anderen Banken seit 2001 Millionen Dollar an Provisionen bezahlt hatte, damit sie Transaktionen durchführten, die die tatsächliche Höhe der Kreditaufnahme verschleierten. Zwischen Januar 2009 und Mai 2010 erhöhte der Staat seine offiziellen Defizitschätzungen auf mehr als das Doppelte, von 6 Prozent auf 13,6 Prozent des BIP – eine der höchsten Defizitquoten weltweit. Die direkten Auswirkungen eines griechischen Staatsbankrotts für die anderen europäischen Volkswirtschaften wären gering gewesen, weil auf Griechenland nur 2,5 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Europas entfallen. Aber womöglich hätten die Investoren das Vertrauen in andere europäische Länder mit hohen Schulden und Haushaltsdefiziten verloren: Irland mit einem Staatsdefizit von 14,3 Prozent des BIP, Großbritannien mit 12,6 Prozent, Spanien mit 11,2 Prozent und Portugal mit 9,4 Prozent waren besonders gefährdet. Und so wurde Griechenland mit Krediten der EU und des IWF gerettet, verbunden mit Auflagen, die Kürzungen bei Sozialleistungen verlangten.

Grafik 17a. Staatsverschuldung in Prozent des BIP in verschiedenen Ländern. Hohe öffentliche Schulden belasten viele Länder weltweit, nicht nur die Vereinigten Staaten. Zum Beispiel belaufen sich die japanischen Staatsschulden auf fast 200 Prozent des BIP.

Quellen: McKinsey Globale Institute, »Debt and Deleveraging: The Global Credit Bubble and its Economic Consequences«, Januar 2010; The Federal Reserve.

Grafik 17b. Gesamtverschuldung nach Sektoren in Prozent des BIP in verschiedenen Ländern. Auch hier stehen die Vereinigten Staaten mit ihren hohen Schulden nicht allein da. Die Gesamtverschuldung von Japan und Großbritannien liegt jeweils bei rund 450 Prozent ihres BIP.

Quellen: McKinsey Globale Institute, »Debt and Deleveraging: The Global Credit Bubble and its Economic Consequences«, Januar 2010; The Federal Reserve.

Ende November 2010 war klar, daß auch Irland Hilfe brauchte – und es bekam Hilfe, dazu sein eigenes schmerzhaftes Sparpaket und eine Menge politische Unruhe. Aber das warf die unvermeidliche Frage auf: Wer würde der nächste sein? Konnten IWF und EU es sich leisten, notfalls auch Spanien zu retten? Was würde passieren, wenn eine große Volkswirtschaft wie Großbritannien gerettet werden müßte?

Unterdessen hatte sich in China – dessen Wirtschaft weiterhin rasant um 10 Prozent jährlich wuchs und das in den letzten 30 Jahren hohe Außenhandelsüberschüsse verzeichnet hatte – ebenfalls eine enorme Immobilienblase gebildet. Von 2005 bis 2009 verdreifachten sich die durchschnittlichen Immobilienpreise im Land; das Verhältnis von Preisen zu Einkommen und das Verhältnis von Kaufpreisen zu Mieten, aber auch die Zahl leerstehender Wohn- und Geschäftsimmobilien erreichten schwindelnde Höhen.

2.1FEHLER UND VERSÄUMNISSE ALLENTHALBEN

Die von beiden Parteien besetzte Financial Crisis Inquiry Commission (vom Kongreß eingesetzt im Rahmen des Fraud Enforcement and Recovery Act von 2009) legte im Januar 2011 ihren Bericht vor. Zu den vielen Faktoren, die für die Krise verantwortlich waren, zählt sie:

•Die Weigerung des Fed-Vorsitzenden (1987–2006) Alan Greenspan, seine Aufsichtspflichten wahrzunehmen, weil er nicht an sie glaubte. Greenspan ließ die Entstehung der Kreditblase zu, was die Immobilienpreise in gefährliche Höhen trieb, und befürwortete die Deregulierung der Finanzinstitute. Die Kommission bezeichnete dies als »entscheidendes Versagen beim Erfordernis, die Flut der toxischen Hypotheken aufzuhalten«, und »bestes Beispiel« für Versäumnisse der Regierung.

•Greenspans Nachfolger an der Spitze der Fed (2006–heute), Ben Bernanke, sah die Krise nicht voraus.

•Die »inkonsequente Reaktion« der Regierung Bush, die eine Großbank rettete – Bear Stearns –, aber zuließ, daß eine andere – Lehman Brothers – zusammenbrach; dies »vergrößerte die Unsicherheit und Panik an den Finanzmärkten«.

•Das Versagen von Präsident Bushs Finanzminister Henry Paulson jr., der die volle Tragweite des Problems der ausfallgefährdeten Hypotheken nicht erkannte.

•Den entscheidenden Fehler der Regierung Clinton (und ihres Finanzministers Larry Summers), die im Commodity Futures Modernization Act nichtbörsengehandelte Derivate von der Regulierung ausnahm; dies sei »ein wichtiger Wendepunkt auf dem Weg in die Finanzkrise« gewesen.

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