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KAPITEL 1 DAS GROSSE BALLONRENNEN

»Wenige Ökonomen sahen unsere gegenwärtige Krise kommen, aber das Versagen bei der Vorhersage war das geringste Problem der Zunft. Viel schwerer wog ihre Blindheit für die Möglichkeit, daß es katastrophales Versagen in einer Marktwirtschaft geben kann.«

Paul Krugman (Wirtschaftswissenschaftler)

Die verbreitete Auffassung vom Zustand der Wirtschaft – daß die im Jahr 2008 ausgebrochene Finanzkrise durch faule Hypotheken verursacht wurde und daß letzten Endes, wenn die Scharten ausgewetzt sein werden, das Land wieder weitermachen kann wie vorher – ist auf tragische Weise falsch. In Wirklichkeit ist unsere Lage sehr viel beunruhigender, liegen die Wurzeln unserer Probleme sehr viel tiefer, und eine adäquate Reaktion wird uns viel mehr abverlangen, als nur abzuwarten, bis der Konjunkturzyklus wieder bei »Wachstum« ankommt. Tatsächlich steht unser Wirtschaftssystem vor einer dramatischen und faktisch auf Dauer angelegten Rückführung auf ein viel niedrigeres Funktionsniveau. Unsere gesamte Zivilisation wird »heruntergefahren«.

Warum haben die meisten klugen Köpfe diese Entwicklung verschlafen? Teils weil sie sich auf Wirtschaftsexperten mit Tunnelblick verlassen, der ihnen die Sicht auf die physischen Grenzen des Planeten Erde versperrt – den Kontext, in dem die Volkswirtschaften funktionieren.

In diesem Kapitel werden wir zum einen skizzieren, wie Volkswirtschaften und wirtschaftswissenschaftliche Theorien sich von der Antike bis heute entwickelt haben, zum anderen, wie und warum einige moderne Industriestaaten – allen voran die USA – heute Kasinos ähneln und ein erheblicher Teil der wirtschaftlichen Aktivität die Form spekulativer Wetten auf Anstieg und Fall der Preise einer ganzen Reihe realer oder virtueller Vermögenswerte annimmt. Und wir werden sehen, warum all diese Entwicklungen uns in die Sackgasse geführt haben, in der wir heute stecken.

Um eine möglichst breite Perspektive zu eröffnen, beginnen wir unsere Geschichte ganz am Anfang.

Wirtschaftsgeschichte in zehn Minuten

Mehr als 95 Prozent unserer Geschichte lebten wir Menschen als Jäger und Sammler in Schenkökonomien, wie die Anthropologen sie nennen.1 Die Menschen hatten kein Geld, und zwischen den Angehörigen einer Gruppe gab es weder Tausch noch Handel. Handel fand statt, aber nur zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen.

Es ist nicht schwer zu erkennen, warum Teilen in jeder Gruppe von Jägern und Sammlern die Regel war und Handel auf die Kontakte zu Fremden beschränkt blieb. Die Gruppen waren klein, üblicherweise zwischen 15 und 50 Personen, jeder kannte alle anderen und war von ihnen abhängig. Vertrauen spielte die entscheidende Rolle für das Überleben des Einzelnen, und Konkurrenz hätte das Vertrauen untergraben. Handel ist seinem Wesen nach eine Betätigung, bei der es um Konkurrenz geht: Jeder Händler möchte das beste Geschäft machen, auch auf Kosten der anderen Händler. Für Jäger und Sammler war Kooperation – nicht Konkurrenz – der Weg zum Erfolg, und so wurde angeborenes Konkurrenzstreben (besonders unter den männlichen Gruppenmitgliedern) durch Rituale und Sitten gebremst, während eine ausgeklügelte Struktur, in der jeder Verpflichtungen gegenüber jedem anderen hatte, dazu beitrug, eine generell kooperative Einstellung zu erhalten.

Heute kennen wir noch Überreste von Schenkökonomien, vor allem in der Familie. Wir führen nicht genau Buch, wieviel wir für unser dreijähriges Kind ausgeben, damit irgendwann später die Rechnung beglichen werden kann; vielmehr stellen wir Essen, ein Zuhause, Bildung und anderes mehr als Geschenke zur Verfügung – aus Liebe. Natürlich bekommen Eltern eine seelische Entschädigung, aber (zumindest gilt das für psychisch gesunde Eltern) es ist kein bewußter Handel, bei dem wir dem Kind sagen »Ich gebe dir zu essen und ein Dach über dem Kopf, wenn du es mir mit Gütern und Dienstleistungen von gleichem oder höherem Wert zurückzahlst«.

Für Menschen in einfachen Gesellschaften war die Gemeinschaft so wichtig wie eine Familie. Schmarotzertum konnte hin und wieder zum Problem werden, und wenn es den Rest der Gruppe belastete, wurde es durch subtile oder auch nicht so subtile soziale Signale bestraft – und letztlich durch Ausgrenzung. Aber abgesehen davon registrierte niemand, wer wem was schuldete; das hätte als sehr schlechtes Benehmen gegolten.

Wir wissen das aus Berichten von Anthropologen aus dem 20. Jahrhundert, die überlebende Gesellschaften von Jägern und Sammlern besucht haben. Oft schilderten sie die erstaunliche Großzügigkeit von Menschen, die begierig schienen, alles zu teilen, was sie hatten, obwohl sie praktisch kaum materielle Dinge besaßen und Hilfsorganisationen sie zu den Ärmsten auf dem Planeten rechneten.2 Manchmal war den Anthropologen diese Großzügigkeit unangenehm, und wenn sie ein besonders gutes Stück Fleisch oder einen sorgfältig handgearbeiteten Korb erhalten hatten, überreichten sie umgehend ein Messer aus industrieller Produktion oder ein Schmuckstück als Gegengeschenk. Sie erwarteten, die Eingeborenen würden sich über solchen Plunder freuen, doch die Beschenkten wirkten eher beleidigt. Was war passiert? Mit ihren Geschenken hatten die Eingeborenen ausgedrückt: »Du bist Teil der Familie, willkommen!« Die umgehende Reaktion mit einem Gegengeschenk erinnerte sehr an Handel – und Handel trieb man nur mit Fremden. Die Reaktion des Anthropologen wurde so verstanden, als hätte er gesagt: »Nein, danke. Ich möchte nicht als Familienangehöriger betrachtet werden, ich will ein Fremder für euch bleiben.«

Nebenbei bemerkt: Dieser kurze Ausflug in die Kulturanthropologie sollte nicht so interpretiert werden, daß das Leben der Jäger und Sammler als Ideal hingestellt wird. Einfachere Gesellschaften wiesen oft ein sehr hohes Maß an zwischenmenschlicher Gewalt auf, was teilweise damit zusammenhing, daß sie weder Polizei noch Gefängnisse kannten. Unfälle kamen häufig vor, und das Leben war kurz. Die Schenkökonomie war mit ihren Vorteilen und Nachteilen einfach eine Strategie, die in einem bestimmten Kontext funktionierte, über viele Jahrtausende hinweg verfeinert durch Versuch und Irrtum.

Und das ist die Wirtschaftsgeschichte komprimiert in einen Satz: In dem Maße, wie die Gesellschaften komplexer, größer, zerstreuter und vielfältiger wurden, verlor die stammesbasierte Schenkökonomie an Bedeutung, und zunehmend dominierte der Handel das Leben der Menschen; inzwischen hat er sich so ausgeweitet, daß er den gesamten Planeten umfaßt. Ist das ein Fortschritt, oder bedeutet es vielmehr moralischen Niedergang? Über diese Frage diskutieren Philosophen seit Jahrhunderten. Ob man es gut findet oder nicht, jedenfalls haben wir das getan.

Als unsere täglichen Interaktionen mit anderen Menschen immer mehr mit Handel zu tun hatten statt mit Schenken, entwickelten wir höfliche Umgangsformen im Alltag und erhielten zugleich eine durch den Austausch vermittelte soziale Distanz aufrecht. Das gilt besonders für große Städte, wo die Anonymität auch durch praktische Formalitäten und psychologische Einflüsse gefördert wird, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, tagtäglich mit einer großen Zahl von fremden Menschen umgehen zu müssen. Im besten Fall kümmern wir uns immer noch umeinander – oft durch Programme der Regierung oder private Wohltätigkeit. In unseren Familien und den Kirchen genießen wir immer noch einige Vorzüge der alten Schenkökonomie, aber immer mehr beherrscht der Markt unser Leben. Unser Endpunkt bei dieser unermüdlichen Ausweitung des Handels ist offenbar eine Welt, in der alles zum Verkauf steht und alle menschlichen Betätigungen durch und durch an ihrem Geldwert gemessen werden.

Die Menschheit hat unübersehbar viel von dieser wirtschaftlichen Entwicklung profitiert: Die Schenkökonomie funktionierte nur richtig, solange wir in kleinen Gruppen lebten und praktisch keinen nennenswerten Besitz hatten. Für die Abkehr von der Schenkökonomie erhielten wir im Gegenzug Häuser, Städte, Autos, iPhones und all das andere. Trotzdem war der Abschied von der Gemeinschaft, die wie eine Familie war, schmerzlich, und im Laufe der Geschichte hat es unterschiedliche Versuche gegeben, wieder dorthin zurückzukehren. Der Kommunismus war ein solcher Versuch. Doch wenn man auf der Ebene des Nationalstaats eine Schenkökonomie etablieren möchte, bringt das alle möglichen Probleme mit sich, unter anderem das Problem, wie man Initiative belohnt und Faulheit bestraft nach Regeln, die alle akzeptabel finden, und wie man Korruption bei denjenigen verhindert, deren Aufgabe es ist, den Reichtum einzusammeln, zu zählen und neu zu verteilen.

Aber kehren wir zurück zu unserem Gang durch die Wirtschaftsgeschichte. Auf dem Weg von der Schenkökonomie zum Handel gab es mehrere wichtige Marksteine; der wichtigste war zweifellos die Erfindung des Geldes. Das Geld vereinfachte den Handel. Die Menschen erfanden es, weil sie ein Tauschmittel brauchten, mit dem der Handel einfacher, leichter und flexibler wurde. Sobald das Geld in Gebrauch war, konnten die Tauschvorgänge sich ausweiten und alle Aspekte des Lebens durchdringen, was bis dahin nicht möglich gewesen war. Gleichzeitig diente das Geld auch noch anderen Funktionen – vor allem wurde es Wertmaßstab und Wertaufbewahrungsmittel.

Heute ist Geld für uns selbstverständlich. Aber bis vor noch nicht langer Zeit war es eine Kuriosität, etwas, was nur Händler täglich benutzten. Einige komplexe Gesellschaften wie auch die Inka-Zivilisation kamen fast gänzlich ohne Geld aus. Selbst in den Vereinigten Staaten verwendeten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts manche bäuerliche Familien Geld nur bei ihren gelegentlichen Ausflügen in die Stadt, wenn sie Nägel, Stiefel, Glas oder andere Dinge kauften, die sie nicht daheim auf ihrer Farm anbauen oder herstellen konnten.

Der Historiker Fernand Braudel schildert in seinem wunderbaren Buch Die Geschichte der Zivilisation. 15. bis 18. Jahrhundert, wie die Geldwirtschaft langsam in das Leben der Bauern im Mittelalter vordrang. Und was brachte sie den Menschen Neues? »[D]ie plötzlichen Preisschwankungen bei den Grundnahrungsmitteln, die unverständlichen Beziehungen, die der Mensch nicht mehr durchschaut, in denen er sich, seine Gewohnheiten und seine alten Werte nicht mehr wiederfindet. Seine Arbeit wird eine Ware, der Mensch selbst eine ›Sache‹.«3

Frühes Geld bestand aus allem möglichen, von Muschelschalen bis Vieh. Allmählich bildeten sich Gold- und Silbermünzen als die praktischsten allgemein akzeptierten Zahlungsmittel, Wertaufbewahrungsmittel und als Wertmaßstab heraus.

Weil dieses Geld leicht zu lagern war, konnten fleißige Menschen erheblichen Reichtum anhäufen. Aber der konzentrierte Reichtum lockte auch Diebe an. Für Händler war Diebstahl ein besonders großes Problem: Daß sie Geld mitnehmen konnten, ermöglichte ihnen, für den Einkauf seltener Gewürze oder Stoffe große Entfernungen zurückzulegen, aber unterwegs lauerten häufig Straßenräuber, bereit, mit vorgehaltenem Messer die Geldbörse zu fordern. Solche Probleme führten zur Erfindung des Bankwesens – Gold- und Silberschmiede, die regelmäßig mit großen Mengen Edelmetallen zu tun hatten (und gewohnt waren, die Edelmetalle in gesicherten, gut bewachten Schatzkammern aufzubewahren), erklärten sich bereit, auch die Münzen anderer Leute zu lagern, und gaben dafür Quittungen aus. Diese Quittungen konnten dann wie Geld behandelt werden, wodurch das Geschäftemachen leichter und sicherer wurde.4

Schließlich erkannten im Mittelalter die Goldschmiede-Bankiers, daß sie die handelbaren Quittungen für mehr Gold ausgeben konnten, als sie in ihren Schatzkammern hatten, ohne daß es jemand merkte. Sie liehen die Quittungen als Darlehen aus und erhoben dafür eine Gebühr in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Kredits.

Zunächst betrachtete die Kirche es als Sünde, aus Krediten Profit zu schlagen – es war Wucher –, aber die Bankiers fanden ein Schlupfloch in der kirchlichen Lehre: Es war erlaubt, die Kosten in Rechnung zu stellen, die bei der Kreditvergabe anfielen. Sie nannte man Zinsen. Allmählich weiteten die Bankiers die Definition von »Zinsen« aus, bis das eingeschlossen war, was früher »Wucher« geheißen hatte.

Die Praxis, Quittungen für Gold auszuleihen, das nicht wirklich existierte, funktionierte gut, solange nicht viele Inhaber solcher Quittungen ihre Scheine auf einmal gegen Gold oder Silber eintauschen wollten. Zum Glück für die Bankiers kam das so selten vor, daß schließlich das Ausstellen von Quittungen über mehr Geld, als an Einlagen vorhanden war, gängige und akzeptierte Praxis wurde; das Verfahren hieß Mindestreserve-Bankwesen.

Die Tatsache, daß immer mehr Geld im Umlauf war, erwies sich in der historischen Phase, als all das passierte, als Vorteil für Händler und Fabrikanten – in einer Zeit, in der unerhörter neuer Reichtum geschaffen wurde, vor allem durch die Eroberung von Kolonien und durch Sklaverei, aber dann auch durch die Ausbeutung der enormen Kraft fossiler Brennstoffe.

Als letztes Hindernis, daß Geld als Schmiermittel für Geschäfte dienen konnte, blieb seine Bindung an Edelmetalle. Solange Scheine gegen Gold und Silber eingelöst werden konnten, stellten die in den Schatzkammern lagernden Mengen an Edelmetallen zumindest eine theoretische Begrenzung für den Prozeß der Geldschöpfung dar. Von Zeit zu Zeit tauchten Papierwährungen auf, die nicht durch Edelmetalle gedeckt waren, wie erstmals in China im 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung; Ende des 20. Jahrhunderts waren sie beinahe weltweit die Regel.

Neben mehr abstrakten Formen von Währungen erlebte das letzte Jahrhundert auch die Entstehung und Verbreitung von immer raffinierteren Anlageinstrumenten. Aktien, Anleihen, Optionen, Futures, Wetten auf steigende und fallende Kurse, Kreditausfallversicherungen und anderes ermöglichen es Investoren, mit der Bewegung von Preisen realer oder virtueller Anlagen und Waren Geld zu verdienen (oder zu verlieren) und ihre Wetten zu versichern – sogar ihre Wetten auf die Wetten anderer Investoren.

Das wahrscheinlich berüchtigtste Investitionsmodell wurde von Charles Ponzi ersonnen, einem italienischen Einwanderer in die Vereinigten Staaten, der 1919 damit begann, Anlegern zu versprechen, sie könnten ihr Geld innerhalb von 90 Tagen verdoppeln. Ponzi erzählte seinen Kunden, die Gewinne stammten aus dem billigen Einkauf von internationalen Antwortscheinen in verschiedenen Ländern und ihrem Wiederverkauf zum Nennwert in den Vereinigten Staaten – ein formell legales Verfahren, das infolge von Währungsdifferenzen Gewinne von bis zu 400 Prozent pro Antwortschein bringen könne. Allerdings sagte er seinen Kunden nicht, daß jeder Antwortschein einzeln eingelöst werden mußte, so daß der damit verbundene bürokratische Aufwand erhebliche Kosten verursachte, wenn größere Mengen von Antwortscheinen (die pro Stück nur ein paar Pennies wert waren) gekauft und eingelöst wurden. Tatsächlich bezahlte Ponzi nur seinen frühen Investoren Geld aus den Beträgen, die spätere Investoren einbrachten. Sein Verfahren war ein Weg, Reichtum von vielen zu wenigen umzuverteilen, und dabei schöpfte er für sich selbst großzügige Summen ab, wenn das Geld durch seine Hände ging. Auf dem Höhepunkt seiner Machenschaften strich Ponzi rund 250 000 Dollar pro Tag ein (Millionen in heutigem Geldwert). Tausende verloren ihre Ersparnisse, viele verkauften ihre Häuser oder belasteten sie mit Hypotheken, um investieren zu können.

Einige wenige Kritiker (vorwiegend Anhänger einer mit Gold gedeckten Währung) haben das Mindestreserve-Bankwesen als eine Art Ponzi-System bezeichnet, und es ist tatsächlich etwas daran.5 Solange in einem Land die Realwirtschaft mit Waren und Dienstleistungen wächst, erscheint eine Ausweitung der Geldversorgung gerechtfertigt, ja sogar nötig. Doch Währungseinheiten sind im Kern Ansprüche an Arbeit und natürliche Ressourcen – und wenn die Ansprüche zahlreicher werden (mit dem Wachstum der Geldmenge) und zugleich die Ressourcen abnehmen, werden die verbleibenden Ressourcen schließlich nicht ausreichen, um alle Forderungen aus der vorhandenen Geldmenge zu befriedigen. Die Forderungen werden an Wert verlieren, unter Umständen dramatisch und plötzlich. Wenn das geschieht, werden Papier- und elektronische Währungssysteme, die auf der Geldschöpfung durch das Mindestreserve-Bankwesen beruhen, ähnliche Folgen zeitigen wie ein kollabierendes Ponzi-System: Die große Mehrheit der Beteiligten wird viel oder alles von dem verlieren, was sie zu besitzen glaubte.

1.1WARUM WURDE WUCHER GEÄCHTET?

Tim Parks schreibt in seinem Buch Das Geld der Medici:

»Mit der Erhebung von Zinsen verändert sich das [Funktionieren der Wirtschaft]. Durch die Verzinsung ist Geld nicht einfach nur eine stabile Metallware, auf die man sich als Tauschmittel geeinigt hat. Auf lange Sicht vermehrt es sich, und zwar ohne jede Anstrengung seitens des Verleihers. Jetzt kommen die Dinge in Fluß. Ein Mann kann sich Geld leihen, einen Webstuhl kaufen, die Wolle zu einem hohen Peis verkaufen und seinen Status in der Welt verbessern. Ein anderer Mann kann sich Geld leihen, dem ersten Mann die Wolle abkaufen, sie ins Ausland verschiffen und dort zu einem noch höheren Preis verkaufen. Er steigt gesellschaftlich auf. Oder, wenn er Pech hat oder dumm ist, er ruiniert sich. Unterdessen wird der Bankier, der Geldverleiher, immer reicher. Wir erfahren nicht einmal, wie reich er ist, weil Geld weggesteckt und verborgen werden kann und Gewinne aus finanziellen Transaktionen schwer aufzuspüren sind. Es ist sinnlos, seine Schafe und Kühe zu zählen oder nachzumessen, wieviel Land er besitzt. Wer wird ihn dazu bringen, daß er seinen Zehnten abgibt? Daß er seine Steuern bezahlt? Wer wird ihn ermahnen, auf seine Seele zu achten, wo doch das Leben so gewinnbringend ist? Die Dinge geraten außer Kontrolle.«6

Wirtschaftslehre für Eilige

Wir haben soeben einen Überblick über die Geschichte der Wirtschaft gegeben – jener Systeme, durch die Menschen Reichtum schaffen und verteilen. Die Wirtschaftswissenschaft hingegen besteht aus Denkgebäuden, Ideen, Gleichungen und Annahmen, die beschreiben, wie diese Systeme funktionieren oder funktionieren sollten.7

Die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften beginnt viel später. Zwar können als erste Wirtschaftswissenschaftler antike griechische und indische Philosophen gelten, darunter Aristoteles (382–322 v. Chr.); sie schrieben über die »Kunst« des Erwerbs von Reichtum und fragten, ob Besitz am besten in den Händen von Privatleuten oder in den Händen einer Regierung liegen sollte, die im Namen des Volkes handelt. In den nächsten 2000 Jahren ist aber wenig wirklich Substantielles zu diesen Fragestellungen hinzugekommen.

Richtig in Gang kam das Nachdenken über Wirtschaft im 18. Jahrhundert: »Klassische« ökonomische Philosophen wie Adam Smith (1723–1790), Thomas Robert Malthus (1766–1834) und David Ricardo (1772–1823) führten grundlegende Konzepte ein wie Angebot und Nachfrage, Arbeitsteilung und das Gleichgewicht im internationalen Handel. Wie in so vielen Disziplinen standen die frühen Vertreter vor gänzlich unerforschtem Neuland und machten sich daran, ihren Forschungsgegenstand erst einmal zu kartieren. Spätere Forscher konnten die großen Linien dann in immer kleineren Schritten vervollkommnen.

Diese Pioniere begannen damit, die Naturgesetze aufzuklären, nach denen Volkswirtschaften tagtäglich funktionieren. Ihr Bestreben war es, aus der Wirtschaftslehre eine Wissenschaft zu machen, die sich gleichrangig neben den entstehenden Disziplinen Physik und Astronomie behaupten sollte.

Wie alle Denker müssen wir auch die klassischen Wirtschaftstheoretiker im Kontext ihrer Zeit betrachten, um sie richtig zu verstehen. Im 17. und 18. Jahrhundert geriet die europäische Machtstruktur unter Druck: Aus den Kolonien strömte Reichtum nach Europa, Kaufleute und Händler wurden reich, aber fühlten sich durch die überkommenen Privilegien des Adels und der Kirche zunehmend eingeengt. Die Wirtschaftsphilosophen hinterfragten die etablierten Privilegien des Adels, und sie bewunderten die Fähigkeit der Physiker, Biologen und Astronomen, die alten Lehren der Kirche zu widerlegen und durch Beobachtung und Experiment neue universelle »Gesetze« zu formulieren.

Die Physiker schoben biblische und aristotelische Lehrsätze, wie die Welt angeblich funktionierte, beiseite und untersuchten aktiv Naturphänomene wie die Gravitation und den Elektromagnetismus – Grundkräfte der Natur. Die Wirtschaftsphilosophen ihrerseits konnten auf den Preis als Schiedsrichter zwischen Angebot und Nachfrage verweisen, der überall eine viel wirkungsvollere Allokation von Ressourcen bewirkte, als menschliche Verwalter oder Bürokraten es je schafften. Das war doch wirklich ein ebenso universelles und unpersönliches Gesetz wie das der Gravitation! Isaac Newton hatte gezeigt, daß es mit den Bewegungen der Sterne und Planeten mehr auf sich hatte, als im Buch Genesis geschrieben stand; Adam Smith wies nach, daß Grundsätze und Praxis des Handels mehr Potential enthielten, als sich jemals durch die alten, förmlichen Beziehungen zwischen Fürsten und Bauern und zwischen den Angehörigen mittelalterlicher Zünfte hatte verwirklichen lassen.

Die klassischen Theoretiker wandten nach und nach mathematische Verfahren an und übernahmen teilweise naturwissenschaftliche Terminologie. Leider gelang es ihnen nicht, in die Wirtschaftswissenschaften auch solche Selbstkorrekturmechanismen zu integrieren, wie sie definitionsgemäß zu den Naturwissenschaften gehören. Die ökonomische Theorie erforderte keine falsifizierbaren Hypothesen und keine wiederholbaren, kontrollierten Experimente (die sich sowieso auf diesem Gebiet nur sehr schwer hätten organisieren lassen). Die Ökonomen fühlten sich zunehmend als Wissenschaftler, während ihre Disziplin ein Teil der Moralphilosophie blieb – und größtenteils bis heute geblieben ist.8

Die Vorstellungen der Wirtschaftsphilosophen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts bildeten den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Liberalismus. Der Begriff liberal verweist in diesem Zusammenhang auf die Überzeugung, wirtschaftlich Verantwortliche sollten die Märkte frei und ungehindert wirken und die Preise festsetzen lassen, ohne Eingriffe von außen; auf diese Weise finde die Allokation von Gütern, Dienstleistungen und Reichtum statt. Daher stammt der Begriff laissez-faire (französisch für »geschehen lassen«, »tun lassen«).

In der Theorie war der Markt eine segensreiche Quasi-Gottheit, die unermüdlich für das Wohl jedes Einzelnen wirkte, indem sie die Gaben der Natur und die Erzeugnisse menschlicher Arbeitskraft so effizient und gerecht wie möglich verteilte. Aber faktisch profitierten nicht alle gleichmäßig oder (nach Ansicht vieler Menschen) gerecht von Kolonialherrschaft und Industrialisierung. Der Markt arbeitete vor allem zum Vorteil derjenigen, für die Geldverdienen das Wichtigste im Leben war (Bankiers, Händler, Industrielle und Investoren) und die zufällig auch noch klug waren und Glück hatten. Er funktionierte auch einigermaßen für alle, die reich geboren worden waren und es schafften, ihr Geburtsrecht nicht zu verspielen. Andere hingegen, denen mehr daran gelegen war, Feldfrüchte zu kultivieren, Kinder zu unterrichten, sich um alte Menschen zu kümmern, oder die durch die Umstände gezwungen waren, die eigene Landwirtschaft oder die Heimarbeit zugunsten von Fabrikarbeit aufzugeben, bekamen allem Anschein nach immer weniger – ganz sicher weniger von der gesamten Wirtschaftsleistung und oft auch weniger im absoluten Sinn. War das gerecht? Nun, das war eine moralische und philosophische Frage. Zur Verteidigung des Marktes sagten viele Ökonomen, es sei tatsächlich fair: Kaufleute und Fabrikbesitzer verdienten mehr Geld, weil sie allgemein die wirtschaftliche Tätigkeit steigerten, wovon auch alle anderen profitieren würden … irgendwann. Klar? Der Markt macht keine Fehler. Manchen klang das ein bißchen wie die Zirkelschlüsse mittelalterlicher Kleriker, wenn sie auf Zweifel an der Unfehlbarkeit der Schrift antworteten. Doch trotz ihrer blinden Flecken erwies sich die klassische Wirtschaftswissenschaft als nützlich, um einen Sinn in den unübersichtlichen Details von Geld und Märkten zu erkennen.

Vor allem hatten diese frühen Philosophen eine Ahnung von den natürlichen Grenzen und rechneten damit, daß das Wirtschaftswachstum irgendwann enden würde. Als die wesentlichen Bestandteile der Wirtschaft betrachteten sie Boden, Arbeitskraft und Kapital. Auf der Erde gab es nur eine bestimmte Menge Boden (mit dem Begriff meinten diese Theoretiker alle natürlichen Ressourcen), und ganz gewiß würde die Expansion der Wirtschaft an einem bestimmten Punkt enden. Malthus und Smith vertraten beide explizit diesen Standpunkt. Ein etwas späterer Wirtschaftsphilosoph, John Stuart Mill (1806–1873), formulierte es so: »Die Volkswirte müssen es stets mehr oder minder deutlich erkannt haben, daß die Zunahme des Nationalvermögens nicht unbegrenzt sei, daß am Ende des sogenannten progressiven Zustandes der stationäre Zustand liege …«9

Doch beginnend mit Adam Smith setzte sich der Gedanke durch, daß eine kontinuierliche »Verbesserung« der Lebenssituation der Menschen möglich sei. Zunächst blieb – vielleicht mit Absicht – vage, was »Verbesserung« (oder »Fortschritt«) bedeutete. Nach und nach wurden »Verbesserung« und »Fortschritt« gleichgesetzt mit »Wachstum« im heutigen ökonomischen Sinn des Wortes – abstrakt ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP), praktisch ein Anstieg des Konsums.

Ein Schlüssel zu dieser Veränderung war, daß die Ökonomen schrittweise den Boden als einen der theoretisch primären Bestandteile der Wirtschaft aufgaben (zunehmend waren nur Arbeit und Kapital wirklich wichtig, Boden wurde zu einer Unterkategorie von Kapital herabgestuft). Das war eine der Weiterentwicklungen, die aus der klassischen Ökonomie die neoklassische machten; außerdem gehören in diesen Zusammenhang die Theorie der Nutzenmaximierung und die Theorie der rationalen Entscheidungsfindung. Das Umdenken begann im 19. Jahrhundert und erreichte seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert mit der Arbeit von Ökonomen, die Modelle für unvollkommenen Wettbewerb und Theorien für Marktformen und industrielle Organisation erforschten und dabei Instrumente wie die Grenzertragskurve verwendeten. (In der Zeit galt die Ökonomie als die »trostlose Wissenschaft« – teils weil ihre Terminologie, vielleicht absichtlich, immer verwirrender wurde.)10

Unterdessen hatte jedoch der einflußreichste Ökonom des 19. Jahrhundert, ein Philosoph namens Karl Marx, eine metaphorische Bombe in das Fenster des von Adam Smith erbauten Hauses geworfen. In seinem einflußreichsten Buch, Das Kapital, schlug Marx einen Namen für das Wirtschaftssystem vor, das sich seit dem Mittelalter entwickelt hatte: Kapitalismus. Es war ein System, das auf Kapital gründete. Viele Menschen glauben, daß Kapital einfach ein anderes Wort für Geld sei, aber das verfehlt vollkommen den entscheidenden Punkt: Kapital ist Reichtum – Geld, Land, Gebäude, Maschinen –, der für die Produktion von noch mehr Reichtum eingesetzt wird. Wenn Sie Ihr Gehalt für die Miete, Lebensmittel und andere notwendige Dinge verwenden, haben Sie vielleicht gelegentlich Geld übrig, aber Sie haben kein Kapitel. Doch selbst wenn Sie tief in Schulden stecken, haben Sie Kapital, wenn Sie Aktien oder Anleihen besitzen oder einen Computer, mit dem Sie von zu Hause ein Gewerbe betreiben können.

Der Kapitalismus, wie Marx ihn definierte, ist ein System, bei dem sich produktiver Reichtum in privatem Besitz befindet. Im Kommunismus (den Marx als Alternative vorschlug) ist die Gemeinschaft oder der Staat im Namen des Volkes der Besitzer des produktiven Reichtums.

In jedem Fall, so Marx, tendiert das Kapital dazu, zu wachsen. Kapital in privatem Besitz muß wachsen: Weil die Kapitalisten untereinander im Wettbewerb stehen, tendieren diejenigen, die ihr Kapital schneller vermehren, dazu, das Kapital der anderen, die hinterherhinken, aufzusaugen. Insofern hat das System insgesamt einen eingebauten Expansionsdrang. Marx schrieb auch, der Kapitalismus sei seiner Natur nach nicht nachhaltig, denn wenn die Arbeiter durch die Kapitalisten weit genug in Armut getrieben sind, werden sie sich erheben, ihre Herren stürzen und einen kommunistischen Staat errichten (oder schließlich das Arbeiterparadies ohne Staat).

Der rücksichtslose Kapitalismus des 19. Jahrhunderts führte zu Phasen von Konjunktur und Krise und einem großen Ungleichgewicht bei der Verteilung des Reichtums – und deshalb zu viel gesellschaftlicher Unruhe. Mit Blick auf die Krise von 1873, den Crash von 1907 und schließlich die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hatten viele zeitgenössische Gesellschaftskommentatoren den Eindruck, der Kapitalismus sei in der Tat im Scheitern begriffen und soziale Erhebungen, wie von Marx prophezeit, seien unvermeidlich. Die bolschewistische Revolution 1917 schien diese Hoffnungen oder Befürchtungen (je nach Standpunkt des Betrachters) zu bestätigen.

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