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Da isser ja

»Naa, da isser ja!«, grüßte er scheinheilig und schüttelte sich ein paar Schneeflocken von einer sündhaft teuer aussehenden Kalbslederjacke. Aber dann guckte er sich uns kurz genauer an, sah für zwei Gäste erstaunlich viele schmutzige Gläser neben dem Spülbecken stehen und erfasste recht schnell die Lage. Sein professionelles Lächeln ließ ihn ein wenig im Stich, sein Mund schien ein enttäuschtes »Oh« formen zu wollen, und auf seiner Stirn stand Ich hab’ euch gleich gesagt: Nicht diesen versoffenen asozialen Kölner! Sein Abend war wohl auch im Eimer.

War’n wir halt quitt.

Aber so what – er war doch nur der Manager, Baggermanns Mädchen für alles – Tourbegleiter, Ombudsmann, Drogenbeauftragter, Finanzverwalter. Und als einer der ersten in unserem Geschäft von Amateuren und Luftikussen hatte er erkannt, dass es durchaus nicht verkehrt war, sich ein paar kaufmännische und juristische Kenntnisse draufzuschaffen und als Band, die all ihr Material selbst schrieb, einen eigenen Musikverlag zu gründen. Das war ihm als BWL studierendem Spross einer alten Hamburger Kaufmannsdynastie auch nicht sonderlich schwergefallen. Also leitete er seit zwei, drei Jahren die IronmakerPublishing GmbH – alle Ausgaben wurden aus der Baggermann-Kasse gezahlt, und von allen Einnahmen sackte er einundfünfzig Prozent ein, schließlich war er entsprechender Mehrheitsinhaber und Geschäftsführer und hatte »die ganze Arbeit am Hals«. Dieses Arrangement war meinen Kollegen möglicherweise noch gar nicht so richtig aufgegangen, vielleicht war’s ihnen aber auch schnurz – von ihrem Anteil der GEMA-Tantiemen konnte man sich einen ziemlichen Klumpen Afghanen leisten. Dass manche in der Branche Eisenmacher »den Jud’« nannten, fanden sie jedenfalls genau so wenig angebracht wie ich.

Natürlich ließ er sich nur zu einem Sprudel überreden, an dem er spitzmundig nippte, während ich erst mein Bier austrank, dann noch das, was Schneider mir schon angezapft hatte, und meinen Deckel bezahlte. Mit Ach und Krach, aber für’s erste hütete ich mich, Eisenmacher um einen Vorschuss zu bitten – um Kohle würde ich noch früh genug mit ihm feilschen müssen.

Also schleppte ich mein Gepäck raus zu seinem BMW (erst drei Schritte vor dem Kofferraum bot er mir an, mir ein Stück abzunehmen) und ließ mich auf den schnieken Beifahrersitz fallen. Und natürlich musste er sich aufspielen und ausgerechnet Emerson, Lake & Palmer aufdrehen – aber was hatte ich erwartet? – und halsbrecherisch einen Waldweg voll frischem Schnee entlang schlittern – ein leichtsinniges Reh, und ich könnte mich gleich zu Raimund ins Bett legen. Ich überlegte noch, ob ich ihm zum Spaß auf seine schicken Lederarmaturen reihern sollte, aber da rutschten wir schon zwischen zwei riesigen Totempfählen hindurch und kamen drei Zentimeter vor der Heckklappe des Baggermann-Tourbusses zum Stehen. Natürlich ein fetter Mercedes 608, keine zwei Jahre alt. Ein kleines bisschen neidisch dachte ich an unseren Opel Blitz. Der war schon volljährig. Aber dafür stand auf dem auch nicht so was wie Baggermann – FREAKPOWER OVER GERMANY!

Das erste Stück Freakpower, das ich zu spüren bekam, war Elvis – knappe zwei Zentner Neufundländer schmissen mich begeistert in den Schnee, leckten mir durchs Gesicht und niesten mich voll, nachdem sie meine Bier-und-Korn-Fahne in die Nase gekriegt hatten. Immer noch besser als das zweite Stück – in der Haustür tat Sibylle, als würde sie sich freuen, mich wiederzusehen, fiel mir jauchzend um den Hals und rammte mir ihre knochige Hüfte in die Weichteile. Aber auch ihrer langen Nase blieb die Fahne nicht verborgen. Natürlich nicht.

»Wie deine Fahrt war, brauch’ ich ja wohl nicht zu fragen«, schnupperte sie ostentativ geräuschvoll, »aber jetzt hast du sicher Hunger, oder? Wir wollen gerade essen.« Spitze Betonung auf essen. Klar hatte ich Kohldampf. Und Gentleman, der ich bin, verkniff ich mir, sie auf den Geruch von Schimmel und Haschisch hinzuweisen, der aus ihren Klamotten und ihren roten Locken stieg.

»Ach, komm, Bill – du weißt doch, dass ich weiß, dass ihr immer einen Kasten Bier im Keller habt. Und ich wette, der steht schon wieder so lange da, dass das Verfallsdatum –«

»Leider Pech gehabt, Büb!«, schnurrte sie so triumphierend, dass sie vergaß, sich das verhasste Bill zu verbitten. »Den haben die Jungs gestern Abend leergemacht – du bist schließlich zum Arbeiten hier, oder?«

»Klar. Aber ob das was wird – mit so ’nem trockenen Hals?«

»Lass dich nich’ verarschen, Mann. ’türlich ha’m wir dir ’ne Flasche übrig gelassen.« Paul hielt uns die Küchentür auf, hieb mir in die Lebergegend und klatschte Sibylle auf den mageren Hintern. Zur Strafe nahm sie ihm den halbgerauchten Joint aus dem Mund und stolzierte paffend in die Küche. Hier roch es besser – Knoblauch, Weißwein, Oliven und Kräuter übertönten den Modergeruch, ohne den eine Landwohngemeinschaft nicht auszukommen schien. Und Shit natürlich.

»Aah«, machte ich begeistert, »wieder Boeuf Niçoise – ohne Fleisch, wie?« Solange die Kollegen daheim unter Sibylles Fuchtel standen, waren sie alle Vegetarier. Aber sobald es auf Tour ging, saßen sie in der ersten Raststätte, die auf ihrem Weg lag, und hauten sich Bockwurst, Schnitzel und Gulasch rein. Bis auf Selmer natürlich, den Saxophonisten – der schmierte sich nicht mal Butter aufs Brot, weil man dafür eine Kuh vergewaltigt hatte. Dass irgendwelche Maserati fahrenden Arschlöcher sich den Arsch ab verdienten, indem sie mit Kräutern handelten, die achtjährige Kurdenjungs bei dreißig Grad im Schatten ernten und bei zwölf Grad minus für eine Handvoll Reisnudeln zentnerweise über mörderische Gebirgspfade schmuggeln mussten, schien seinem Gewissen nicht so viel auszumachen – er hatte ein Rohr in der Hand, für das er mindestens fünf Blättchen gebraucht hatte. Und es war offensichtlich nicht sein erstes – seine nur noch halb offenen Augen schwammen in einer rosigen Flüssigkeit, und er grinste, als habe er einen kleinen Mann im Ohr, der ihm einen Ostfriesen-Witz nach dem anderen erzählte.

»Ey, Mann«, brachte er heraus. »Cool, ey. Der – ääh – der Büb, ey.« Der kleine Mann in meinem Ohr bedauerte fast, dass Eisenmacher auf seinem Weg zu Schneiders Dorfkrug kein Reh getroffen hatte.

Do es ene Kääl en mingem Kopp / Määt mich langsam, ävver beklopp’* klimperte Paul auf einer akustischen Zwölfsaitigen, zwar meiner Ankunft zu Ehren, aber durchaus passend, einen von Penner’s Radios vielen heimlichen Hits (eigentlich hatten wir ja nur Hits – und irgendwann würde das auch mal jemand merken …). Die große Überraschung war das Mädel, das neben ihm auf einem der Sofas saß und plötzlich lachend den Text mitsang – in akzentfreiem Kölsch! Die würde ich mir später noch genauer angucken müssen.

Aber erst mal galt es natürlich den Chef zu begrüßen. Der saß am Kopfende eines Esstisches für zwanzig Personen in seinem Thron, einem hohen Eichenlehnstuhl mit wilden Schnitzereien, und blickte abwesend von einem winzigen Steckschach auf, als sei er überrascht, mich zu sehen.

»Hansi!«, lautete meine wohlgesetzte Begrüßungsrede. Es ist zum Kotzen – ich kann arrogante Menschen nicht ausstehen, sie können mich eigentlich nicht im geringsten beeindrucken, und ich durchschaue sie meistens bis zu den Pickeln auf ihrem selbstherrlichen Hintern, aber trotzdem tue ich mich schwer damit, mich nicht von ihnen verunsichern zu lassen. Kommt vielleicht davon, dass man als Arbeiterkind auf eine Herde »richtiger« Gymnasiasten losgelassen wird. Bzw. umgekehrt. Ich wanderte zu ihm hinüber und blieb zur Kompensation einen Meter vor ihm stehen, mit ausgebreiteten Armen, so dass er sich genötigt sehen musste, höflich zu sein, aufzustehen und mir einen Schritt entgegen zu kommen.

Küche könnte im Fall Hinderup ein etwas irreführender Begriff sein. Die Kirche von Espelkamp war nicht viel kleiner als Baggermanns Gemeinschaftszimmer, und bei einer anständigen Fete würden hier mindestens achtzig Leute Platz finden, ohne sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Vom Kühlschrank zum Herd konnte man Rollschuh fahren, zu einer Klettertour auf ihren Küchenschrank nahm man besser eine Leuchtpistole mit, und zwischen den mächtigen Esstisch und den Billardtisch im hinteren Teil hätten bequem noch ein paar Kicker und ein Hundezwinger gepasst.

Was red’ ich da – neuerdings stand da zumindest ein Kicker, und Elvis lag daneben auf seinem eigenen Sofa, einem riesigen schmuddeligen Ungetüm aus zerfetztem violetten Leder. Missmutig und krachend kaute er an einem halben Birnbaum – auch ihm blieb nichts anderes übrig, als zu Hause Vegetarier zu sein. Von einem Köter, besonders dieses Formats, natürlich ein bisschen viel verlangt, weswegen er sich gelegentlich mal eine Nacht in die Wälder der Gegend verdrückte. Und wenn er dann zufrieden grinsend heimkehrte, war, was manchmal noch von seinen Lefzen tropfte, gewiss kein Johannisbeersaft.

»Der Büb«, konstatierte Hansi lässig, aber korrekt. »Kommt mal wieder was Leben in die Kräuterbude, wie?« Er klopfte mir ein paarmal auf den Rücken und befummelte meine Rechte. Ich fühlte mich wie Hänsel, aber ich war wohl immer noch nicht fett genug, denn die Knusperhexe ließ von mir ab und setzte sich wieder an sein Schachbrett.

»Springer auf f9«, sagte ich. Verdutzt guckte er auf seiner Partie herum, bis er den blöden Witz schnallte und säuerlich grinste. Selmer wollte sich hingegen nicht mehr einkriegen vor Lachen.

»Springer auf f9!«, jaulte er. »Läufer auf fis-Moll 7!!«

»Schockemöhle auf Alarich«, ergänzte Paul grinsend.

»Wilson Pickett auf Lester Young!!!«, kreischte Selmer. Kiffer.

»Essen is’ fertig, Kinners!«, klatschte Sibylle in die Hände. »Sagt jemand dem Schrat Bescheid?«

»Nit nodig«, brummte es von der offenen Küchentür her. Weit offen, denn der Schrat war so breit wie groß, und er war ziemlich groß. Ein Bär von einem Kerl, mit wilden schwarzen Locken und einem noch wilderen schwarzen Bart, dem die lila Latzhose, die er trug, ähnlich gut stand wie mir das Gelbe Trikot. Wir führten ein kleines Wiedersehenstänzchen auf.

»Mann, hab’ ik auf dir chewartet!«, holländerte er strahlend, angelte zwei Pullen Bier aus seinen Hosentaschen und knackte zwischen seinen Pferdezähnen die Kronkorken ab. »Endlik einen, mit dem ik mal wieder ein’n zischen kann! Wat, Billa?« Sibylle sagte nichts, aber ihr Gesicht sprach Bände. Ihre ganze schöne Hausmütterchen-Autorität drohte flöten zu gehen. »Die Mary Ann aber ließ ihn nicht los«, sang der Schrat. »Wat, Büb, oude klootzak

Damit war ich sein Freund geworden, als wir uns vor ein paar Jahren kennenlernten, auf irgendeinem Festival irgendwo in Ingendingenhingen (ob Rabotti auch da gewesen war, damals?). Als ich ihn das erste Mal sah, war mir spontan das alte Freddy-Quinn-Lied in den Kopf gekommen, und ich hatte es ihm gleich vorgesungen. Und an mehreren Theken noch mehrmals vorsingen müssen, er hatte es nämlich nicht gekannt und war völlig begeistert – ein eigenes Lied! Für ihn, der doch bloß Roadie bei einer Krautrock-Kapelle war! So groß wie ein Baum und stark wie ein Bär / So fuhr er das erste Mal über’s Meer … Und Big Bill Broonzy wälzte sich in seinem Grab herum.

Arm in Arm walzten wir eine halbe Runde um den Tisch.

»He, koptein«, dröhnte mir der Schrat ins Ohr, »has’ du schon Mischa kenne’chelernt, mein Meisje?« So viel zu »später genauer angucken« – rundum appetitliche, schwarzlockige Einssechzig sprangen in seinen Arm, reichten mir ein schwitziges Händchen und versuchten, mir die Finger zu zerquetschen.

»Tach, Herr Klütsch, isch ben et Mischa, us Lungke. Alles en Dortmund?«* Sie nahm dem Schrat seine Pulle aus der Hand und holte aus. Na, war das auch erledigt – um vorlaute Frauen mit schwitzigen Händen mach’ ich eh lieber einen Bogen.

»Teller!«, machte Sibylle Boden wett. »Besteck! Brot!«

»Willkommen in Hinderup«, grinste Paul. Ich ließ das kölsche Mädchen unsere Flaschen aneinander knallen und mir erst mal das Bier in den Hals laufen. Trocken, wie der schon wieder war.

»Isch kenn’ disch!«, verkündete Mischa dann auch noch. »Isch hab’ disch mal mit dem Kathrinschen zusammen jeseh’n – auf’m Mädschenklo im Session!« Ihr Kichern verriet, dass das nicht beim Lippenstift-Nachziehen gewesen war.

»Tja, die Welt is’ klein«, brachte ich hervor.

»Un’ – wie jeht et der? Seid ihr noch zusammen?«

»Nö«, sagte ich, machte die Pulle alle und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie weh das »Nö« tat.

»Komm, Herr Baggermann, sei unser Gast und segne, was du uns eingedudelt hast«, mussten wir dann am Tisch beten, während alle sich an den Händen gefasst hielten. Aber wenigstens spendierte uns Herr Baggermann Rotwein zum Essen.

7


... and life is not a song ...

Du bist selber schuld!«, schimpfte sie. Ihre Stimme klang zittrig, brüchig, als leide sie innerlich doch ein bisschen mit ihm – aber natürlich würde sie nicht eingreifen, natürlich würde sie ihn nicht retten. Das hatte sie einmal versucht, als er im Winter auf der im Hof gestreuten Asche knien musste, weil er mit Streichhölzern gespielt und ein Loch in die Tischdecke gebrannt hatte. Der Alte hatte sie geohrfeigt, grob an den Haaren herumgezerrt und sie ebenfalls dort knien lassen, zwei Stunden lang, frierend, mit schmerzenden Kniescheiben, schluchzend. Nein, sie würde ihm nicht helfen. Nicht helfen können.

Noch ein Löffel voll. Rhabarbergemüse mit Kartoffelbrei. Kalt – der Rest seines Abendessens. Von gestern. Da war der Junge nach mehreren Schlägen in den Nacken, nachdem ihm der Alte zweimal das Gesicht in den halb geleerten Teller gedrückt hatte, ins Bett geschickt worden, mit dem bekannten, gefürchteten Versprechen. Die halbe Nacht hatte er würgend wachgelegen, lautlos unter seiner Decke geweint, ein Erdbeben, einen Blitzeinschlag, eine Panzerarmee herbei gebetet.

Und selbstverständlich hatte der Alte es sich nicht nehmen lassen, ihn schon vor dem Morgengrauen aus dem Bett zu zerren, in die noch kalte Küche, während sie den Herd in Gang brachte. Hatte den Teller aus der Vorratskammer geholt, zum Glück nicht bemerkt, dass sie ein unauffälliges Häppchen davon schon hatte verschwinden lassen, die eklige rosarote Pampe auf den Küchentisch geknallt und ihn auf den Stuhl davor gedrückt.

»Und das isst du jetzt!« Und als Prophylaxe gleich zwei schmerzhafte Kopfnüsse dazu.

Drei Löffel hatte der Junge geschafft, den widerlichen Brei gekaut, fast eine halbe Stunde immer wieder und wieder im Mund umher gewälzt, bis er sich überwinden konnte, ein kleines Bisschen davon hinunterzuschlucken; klar wusste er, dass das Zeug nur immer ekliger wurde, je länger er das Schlucken hinauszögerte – aber die Angst, dass es sich wieder selbständig machte, seine Speiseröhre sich weigerte, es weiterzubefördern, sein Magen sich weigerte, es anzunehmen, war zu groß. Und dann war es ihm doch hochgekommen. So gerade noch schaffte er es, den Kopf zur Seite zu drehen. Schon einmal, im letzten Herbst – Breitlauch mit Graupen – war es ihm passiert, dass er, sich übergebend, den Teller getroffen hatte, und er hatte alles zusammen aufessen müssen – das schlimmste Frühstück seines Lebens.

Jetzt traf ihn eine Ohrfeige, die ihn seitlich vom Stuhl warf, aber bevor er sich unter dem Tisch verkriechen konnte, war die Hand da, packte das Fleisch an seinem Oberarm und riss ihn wieder hoch.

»Gottverdammter –« Draußen röhrte ein Lastwagenmotor, und eine heisere Hupe erklang zweimal.

»Ach, der Wolfi«, rief seine Mutter, bemüht beflissen, einen schrillen Unterton von Verzweiflung in der Stimme, von Hoffnung auf Erlösung. Sie packte die verbeulte Aluminiumdose mit den Butterbroten und die Kanne mit dem Getreidekaffee in die verschlissene braune Aktentasche, drei hartgekochte Eier. »Hier, ich tu’ dir zwei Äpfel dazu!« Der Alte schnaubte verächtlich, ging zum Vorderfenster und öffnete es.

»Ja zaraz wraca!«, schrie er hinaus. »Ich komme gleich!« Kam wieder zurück. »Jetzt mach, Junge, stell dich nicht so an«, tat er freundlich, »Rhabarber ist gesund! Willst doch groß und stark werden, oder? Komm, ein Löffel noch!« Griff sich die kleine Nase und hielt sie zu. Als der Junge, nach Luft schnappend, den Mund öffnete, schob er ihm einen gehäuften Löffel voll hinein. Hielt die Nase weiter fest im Griff, bis alles hinuntergeschluckt war. Ignorierte das Würgen, den Strom von Tränen.

»Na siehste, geht doch!«, sagte er zu beiden, gab dem Jungen noch einen harten Klaps auf den Kopf und der Mutter einen noch härteren auf ihr dürres Hinterteil. Schnappte sich seine Tasche und polterte hinaus.

Schnell griff die Mutter sich den abgestoßenen weißen Emaille-Putzeimer und hielt ihn dem Jungen vor das hochrote Gesicht, nur um die Nase herum noch weiß von den eisernen Fingern, und im hohen Bogen erbrach der sich in den Eimer, ein rot-grüner Schwall von Zerkautem und Galle, während ihm der Schweiß in dicken Tropfen aus der Stirn brach.

Keuchend hielt er inne.

»Groß und stark!«, flüsterte er. »Groß und stark! Wenn ich groß und stark bin, schlag’ ich ihn tot!«

Von draußen hörten sie das Gelächter der beiden Männer, dann knallte eine Wagentür, der Motor brüllte auf, und sein böses Grollen entfernte sich langsam, verlor sich im Grau des beginnenden Tages, im Knistern des Herdes, dem Ticken der großen Uhr auf dem Küchenschrank, dem Kratzen des Löffels, mit dem die Mutter den Rest des Essens in den Eimer schob, ihrem bebenden Atem.

»Dann musst du essen!«, kam es tonlos aus ihrem Mundwinkel, als sie sich wegdrehte und, den Löffel noch in der Hand, ein hastiges Kreuzzeichen über ihrer mageren Brust schlug.

8


Was 'ne Woche

»Ja, allerdings, mein Freund: Was ’ne Woche«, bestätigte ich meinem Spiegelbild noch einmal und bemühte mich, den Rallyestreifen zwischen meinen Koteletten zu rasieren, ohne mich umzubringen. Your face / Is drawing / Crazy patterns / On my mind*, sang Tom Rapp nebenan. »Wenn ich das nächste Mal abhebe und es meldet sich ein Herr Eisenmacher, sag’ ich ‚Falsch verbunden!’ und lege sofort wieder auf. Wie soll ich dich eigentlich nennen?«

»They call me Mister Pitiful«*, sang er. »Aber immerhin tausend Ocken! Plus Fahrgeld – da hast du doch nicht mit gerechnet, oder?« Hatte ich nicht. »Und dein Name auf dem Cover einer Platte, die sich wahrscheinlich deutlich mehr verkaufen wird als alle drei Penner’s Radio-Alben zusammen. Is’ doch auch was, oder?« War auch was. »Und trotz Kiffer-WG jeden Abend gemütlich angeschickert in die Koje. Hättste au’nich’ gedacht, hä?« Hatte ich auch nicht. »Und beinahe nicht mal immer alleine! Hättste damit gerechnet?« Nein, damit hatte ich allerdings überhaupt nicht gerechnet.

»Blödmann!«, knurrte ich. That’s how I got my fame, bellte Mr. Pitiful fröhlich …

»Wie, du hast keinen Schlafsack dabei?!«, hatte Sibylle sich gewundert, als der Schrat nach dem Essen wieder hereinkam und mein Gepäck neben einen der drei Kühlschränke pfefferte.

»Wusste nicht, dass ich hier neuerdings einen brauche«, klimperte ich sie an. Sie wurde rot und zerpflückte heftig ein Stück Kerzenwachs. Nicht besonders fair von mir, aber sie ging mir zusehends auf die Nerven, und das schon am ersten Abend. Dass sie gleich versuchte, mir ein Bündel Verhaltensmaßregeln für die Woche aufzudrücken, hätte ich ja noch lustig gefunden, wenn mir auch ihre Behauptung, Raimund sei jeden Morgen um acht mit Elvis eine Runde durch die Botanik gelaufen, schwer danach klang, als wollte sie bloß dafür sorgen, dass ich nicht wieder bis morgens um fünf mit dem Schrat und einem Kasten Bier um den Billardtisch herumhing. Dass ich während meines Aufenthalts einmal mit Kochen und einmal mit Abwaschen dran sei, war für mich sowieso selbstverständlich. Dass sie aber meinte, sich auch einmischen zu müssen, als wir anfingen, über die Stücke zu reden, auf denen ich trommeln sollte, ging mir entschieden zu weit. Darüber würde ich mit Hansi noch genügend Zoff kriegen, dafür brauchte ich die Weisheiten der Band-Mutti wahrhaftig nicht.

»Ich hab’ noch ’ne zweite Steppdecke«, sprang Paul ein.

»Alles klar«, sagte ich.

»Morgen nach dem Frühstück hören wir uns mal an, was wir bis jetzt auf Tape haben«, entschied Hansi, ganz der Kapellmeister, »und dann spielen wir dir mal vor, was an neuem Material da ist.«

»Un’ dann ’ne Jam-Session, ey!«, beteiligte sich Selmer. Super, dachte ich. Session hieß bei Selmer, der wiederum Selmer hieß, weil er nie ein Saxophon einer anderen Marke auch nur anfasste, dass er nach dem vierten Joint sein Echogerät nachjustierte, bis es klang, als hätte man fünf Fichtelgebirge hintereinander gestapelt. Dann trötete er in eins seiner Hörner, ein, zwei, vielleicht sogar drei Töne, lauschte erst mal ein paar Takte versonnen und weggetreten dem Weg der Echos hinterher, und erst, wenn von irgendwo in Freakistan eine Antwort kam und seinem vernebelten Hirn sagte, dass er es ruhig wagen könne, sich zu einem vierten Ton durchzuringen, kam er wieder auf den Teppich und an sein Mikrophon zurück.

Leider war es sein Ehrgeiz dabei auch, das Echogerät auf das Tempo des Stückes einzustellen, das gerade gespielt wurde. Was er allerdings höchst selten schaffte, bevor seine Mitspieler mal wieder einen der bei Jam Sessions üblichen und häufigen Tempowechsel vollzogen hatten.

Also beschränkte sich der kreative Beitrag des Saxophonisten die halbe Zeit auf ein kurzes Tuut, dem vom Bandecho eine lange Reihe schneller und wieder langsamer werdende tutututuutuuuutuuuutuututututs folgten. Versuch mal, zum Takt eines Metronoms einen Tischtennisball auf einen Steinfußboden fallen zu lassen.

Hinzu kam, dass auch Paul, an sich ein netter Mensch und ein klasse Gitarrist, zu später Stunde den Versuchungen des einen oder anderen Hallgeräts nicht widerstehen konnte und zu ein paar von seinen typischen merkwürdigen Akkorden – er spielte umgebaute Gitarren, an denen die tiefe E-Saite unten und die hohe oben lag – anfing, Gesang zu improvisieren. Wie gesagt, ein toller Gitarrenmann, aber sein Gesang klang wie Frl. Menken auf Rohypnol. Und sein Englisch war nicht halb so gut wie Rudi Carrells Deutsch.

Allerdings hatte er noch einen guten Grund, auf lange Gitarrensoli zu verzichten, und der hieß Hansi Hedegger. Und so spielte er auch. Häddäggähäddäggäddäggäddä hackte er mit einem riesigen, viel zu harten Plektrum aus Büffelhorn seine Sechzehntel auf den straff gespannten, viel zu dünnen Saiten seines Kramer herum, einer amerikanischen Bassgitarre, die zu allem Überfluss noch einen Hals aus Stahl hatte – kein bisschen naturhölzerne Wärme. Die Höhen und oberen Mitten seines Verstärkers waren bis zum Arsch aufgedreht, sodass sein Geschrabbel klang, als hämmerte jemand mit Moniereisen auf einem Sauerkrautfass herum. Vielleicht hatte das ja diesen englischen Journalisten zu dem Begriff Krautrock inspiriert. Zum Ausgleich, und weil ihm vielleicht in einer Auftrittspause doch noch jemand geflüstert hatte, dass er doch der Bassist sei, drehte Hansi auch noch alles zwischen achtzig und hundertachtzig Hertz bis hinten gegen – wenn er mal gelegentlich einen tiefen Ton ausklingen ließ, hatte man Angst, seinen Schlagzeughocker voll zu spratteln. Kam aber zum Glück selten vor.

Seine berühmten Sechzehntel waren so akkurat wie Millimeterpapier – allerdings erst zerknüllt und dann wieder aus dem Papierkorb gefischt und notdürftig geglättet. Wenn du als Schlagzeuger auch mal probiertest, welche zu spielen, klang das mit seinen zusammen wie eine Häckselmaschine. Raimund schien das nicht weiter zu jucken, aber mir rollte es die Zehennägel auf. Dass Hansi seine Riffs häufig und unmotiviert unisono ins Mikrophon schnatterte, machte die Sache auch nicht gerade besser. Häddäggähäddäggäddäggä …! Worüber wir uns auch prompt immer wieder in die Haare gerieten, erst recht in dieser Woche, wo es um diese wichtigen Aufnahmen ging.

Ihr Publikum liebte es, wenn bei Auftritten die Baggermann-Kompositionen in kilometerlange Improvisationen mündeten. Beziehungsweise ausuferten. Na ja, kein Wunder – ihre Fans waren noch simpler gestrickt als unsere, und man konnte förmlich hören, wie in jedem einzelnen von ihren leeren Schädeln die Tischtennisbälle herumklackerten. Aber bei mir waren Sessions mit den Baggermännern so beliebt wie ein Aushilfsjob bei den Flippers. Fehlte nur noch, dass Paul anfinge, Weine nicht, kleine Eva zu singen.

Völlig ausgeschissen hatte ich bei Hansi am dritten Tag, als ich ihn nach einer heftigen und ermüdend ergebnislosen Diskussion über Präzision und Timing zum Spaß mal ein paar Takte die Sechzehntel eines Drumcomputers mitrattern ließ, sogar noch bei seinem Lieblingstempo. Dasselbe tat ich auf einer anderen Spur, dann ließ ich das Band mit halber Geschwindigkeit wieder ablaufen. Während meine Snare-Schläge zusammen mit denen des Japaners klangen wie Axthiebe in eine Porsche-Tür, war sein Bass so synchron wie ein Trupp Bundeswehrsoldaten auf dem Hauptbahnhof am Freitagabend. Dass Paul sich nicht hatte verkneifen können, bei der Bandgeschwindigkeit klänge der verdammte Kramer endlich mal wie ein richtiger Bass, hob Hansis Stimmung auch nicht gerade.

Na ja, hatte auch sein Gutes – an dem Abend wurden frustriert ein paar Flaschen Rum aufgemacht, und zu der unvermeidlichen pseudo-basisdemokratischen Grundsatzdiskussion gab es Grog bis zum Abwinken.

Das eigentlich voraussehbare Ergebnis des Gesprächs war, dass ich als Mietmucker gefälligst meine eigenen Kanaldeckels-Ansprüche zurückzuschrauben und mich auf den Baggermann-Stil einzustellen hätte. Nach dem siebten oder achten Grog konnte ich das auch locker abnicken.

Weniger voraussehbares Ergebnis des Besäufnisses war, dass Sibylle mich zuuufällig um vier Uhr morgens im Bad traf – genau wie vor zwei Jahren, bei meinem ersten Besuch in Hinderup. Damals waren wir nach einem ausgiebigen Test von ein paar Kisten Rotwein, die Hansi aus Portugal mitgebracht hatte, auch im Halbdunkeln in der Badezimmertür zusammengestoßen, beide schon bettfertig gekleidet, also gerade mal ein T-Shirt an. Und als hätten uns der Portugiese und der Fado, den wir passenderweise dazu gehört hatten, inspiriert, hatten wir plötzlich knutschend auf dem Badewannenrand gesessen. Ein Stündchen später, wir lagen inzwischen quer auf ihrem Bett und versuchten gerade, mich zu einer Zugabe hochzupäppeln, war sie mit einem Mal wieder nüchtern geworden.

»Was …? Mensch, wie kommst du denn …?«, stotterte sie mit großen Augen, erschrocken keuchend.

»Das hast du doch eben offensichtlich gemerkt«, versuchte ich ihre Stimmung zu lockern. »Und von dir weiß ich’s jetzt auch. Sehr angenehm, übrigens«, versuchte ich, ihr das zu beweisen. Aber entsetzt stieß sie meine Hand weg.

»Du musst sofort in dein Zimmer!«, haspelte sie. »Ich habe hier nie …! Nie …!«

»Nie Besuch? Nie Gesellschaft?«, fragte ich ungläubig. Sie guckte weg, wühlte nach ihrem T-Shirt und zog es über. »Ah, ein neuer Fan«, machte ich sie freundlich frotzelnd darauf aufmerksam, dass sie mein Penner’s-T-Shirt erwischt hatte, eins von denen mit den zahnlos lachenden tanzenden Berbern. »Steht dir aber auch gut.« Sie riss es sich so hastig wieder vom Leib, als hinge es voller Spinnen.

»Geh jetzt!«, drängte sie und zog ihr eigenes über.

»Nie?«, beharrte ich. »Mit keinem von deinen Jungs?« Sibylle, die kaltschnäuzige Herrin von Hinderup, errötete tatsächlich.

»Das geht dich nichts an.« Nachdrücklich schob sie mich von ihrem Bett und drückte mir meine Berber in die Hand. Nebenan aus Hansis Zimmerflucht ertönte eine Serie schneller spitzer Schreie. Er hatte sich ein bisschen Fan-Besuch mitgebracht. Sibylle erstarrte, und eine Sekunde lang dachte ich, sie würde mich wieder festhalten wollen. Ihre Augen glitzerten, als wolle sie anfangen zu weinen. Aber vielleicht war’s auch nur das Kerzenlicht.

»Ach so«, sagte ich, stand auf und zog mich an. »Na ja, wenn er so pimpert, wie er Bass spielt, würd’ ich auch nicht mit ihm angeben wollen.« Einen Moment sah es aus, als wolle sie mir eine scheuern, aber dann hauchte sie mir einen Kuss auf die Wange und umfasste kurz mein verschrumpeltes Bübchen.

»Schlaf gut«, flüsterte sie, schob mich von sich, ließ sich wieder auf das Bett fallen und wickelte sich in ein Laken, das Gesicht zur Wand gedreht.

»Du auch«, wünschte ich ihrem Rücken und ging mal nachsehen, ob der Rest des Portugiesen schon dekantiert war. Die restlichen Tage meines Besuches – wir nahmen gerade im Baggermann-Studio für kleine Mark ein paar Penner’s-Demos auf – hatte sie mich kaum noch angesehen und kein einziges Wort mehr mit mir gesprochen.

Weiber.

Und dann diesmal das. Ich komme zwischen zwei Grogs vom Pinkeln zurück und habe meine Hose noch nicht ganz zugeknöpft, da steht sie wieder in der Badezimmertür und lässt mich nicht vorbei. Als ich sie vorsichtig um die Hüften fasse, um sie verlegen grinsend zur Seite zu schieben, wirft sie mir beide Arme um den Hals und ein Bein um den Hintern, schiebt mir ihre scharfe Zunge zwischen die Zähne und spült mir einen Schluck lauwarmen, puren Rum in den Mund. Das Zeug fährt mir in alle Körperenden, als hätte ich an einen elektrischen Weidezaun gepinkelt, und da erst merke ich auch, dass sie wieder nur ein Hemd anhat. Ein verwaschenes Herrenhemd, nicht zugeknöpft. Sie ist noch dünner als vor zwei Jahren; mit ihren Beckenknochen hätte ich mir die Reste des Abendessens aus den Zähnen pulen können. Mit einer Hand öffnet sie meine halb geschlossene Hose wieder und massiert eine beginnende Erektion, so heftig, als wolle sie mich dafür bestrafen, dass ich schon wieder im Stehen gepinkelt hatte.

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9783862871896
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