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Rabotti

Mann, hatte ich eine Woche hinter mir! Beim Pinkeln wäre ich fast vornüber gekippt. Meine Zunge schmeckte, als hätte ich die halbe Nacht am Abflussrohr eines Brauhauses geleckt. Und wahrscheinlich auch an dem bröckligen Mörtel drum herum – mein Gaumen war trocken wie Tante Friedas Sandkuchen. Nach einem ordentlichen Schwall kaltem Wasser fühlte es sich ein bisschen besser an, aber an dem Geschmack änderte das auch nichts.

Ich beguckte mir ein Weilchen das Gesicht in meinem Spiegel. Wir sahen aus wie ein und derselbe Typ, aber das waren wir auf keinen Fall. Beschlossen wir eben Kumpels zu werden und putzten uns gemeinsam die Zähne.

Was für ’ne beschissene Woche!, knurrte er blubbernd und schüttelte angeekelt den Kopf.

Autsch! Nich’ so heftig!, erwiderte ich mit Schaum vorm Mund. Musste ihm freilich recht geben und versuchte, die letzten Tage zu rekapitulieren. Einfach kapitulieren, ohne Kontra, ohne Re, wär’ auch nich’ schlecht, dachte ich. Einfach wieder in die Kiste hauen, Decke über’n Kopp, Augen und Ohren zu, und warten, bis mehr als nur sechzig Prozent von einem meinen, wieder in die Gänge kommen zu müssen, es wagen zu können, sich der gierig quengelnden Welt da draußen zu stellen.

Wider besseres Wissen – war ja nicht der erste Versuch gewesen –, aber eben auch, weil ich, pleite wie lange nicht mehr, kaum eine Wahl hatte, war ich vorletztes Wochenende mit einer Snare, einem Bündel Knüppel und einem Satz eigener Becken im Gepäck nach Hinderup gereist – nach drei Stunden Zugfahrt Umsteigen in Osnabrück, eine halbe Stunde Bummelzug, in Espelkamp fast eine Stunde Warten auf einen Überlandbus, der mich nach einer weiteren halben Stunde in Brödershof hatte stehen lassen, von wo ich dann aus einer Telefonzelle Bescheid geben konnte, damit mich jemand abholen käme.

Ich war’s ja nun wirklich gewohnt, über Land zu gurken, vor allem in Gefährten, die stinken, schaukeln und nicht gerade flott vorankommen, und auch auf dieser Fahrt hätte man schön seinen alten Ross McDonald lesen und sich mit Lew Archer amüsieren können, zwischendurch vielleicht ein bisschen Leute und Landschaft gucken – immerhin war die Deutsche Märchenstraße nicht weit – oder einfach nur vor sich hin dösen und über das komische Leben meditieren …

Aber apropos Leute und komisches Leben – oder auch umgekehrt – leider stand da auf dem, was in Espelkamp als Marktplatz durchging, an der Bushaltestelle dieser Freak. Rabotti hatte ihm eine fürsorgliche Freundin in fettem Knatschrosa auf eine dunkelblaue Wollmütze gestickt. Karottenhosen an spindeldürren Beinen, aber schwere Malocherstiefel, ungefähr drei T-Shirts übereinander, das oberste eins von, ausgerechnet, Grobschnitt, und eine verwaschen grüne bayrische Trachtenjacke, von oben bis unten vollgepappt mit bunten Buttons à la Ich war bei Pink Pop!, Rock gegen Rechts, Legalize It! und so weiter. Das Beste war noch Atomkraft? Nein danke!, woraus jemand mit lila Filzstift Schwerkraft? Nein danke! gemacht hatte. Zwischen den Stiefeln klemmte eine verschlissene braune Aktentasche.

»Ey – ich kenn’ dich irgendwo her, Ollen«, sprach er mich an. Es gibt so Typen, da weißt du gleich, wenn du auch nur »Tach« sagst, hast du sie an der Backe. Also guckte ich bloß und zuckte mit einer Schulter. »Echt, ey! Ich hab’ dich iiir-gend-wo …«

Er zog ein Päckchen Drum aus einer Jackentasche. Diese Typen rauchen immer Drum. »’ne Kippe, Ollen?« Ich holte ein Päckchen von meinem eigenen Vorrat raus, hielt es hoch und schüttelte bedauernd den Kopf. Fehler. »Ey, wow! Is’ dat denn? Türkenkost, ha ha! Kann ich ma’ probier’n, ey?«

Diese Typen wollen immer probieren. Ich öffnete die Packung und hielt sie ihm unter die Nase. Innerlich soufflierte ich ihm seinen nächsten Satz – Oh, is’ ja blonder, nee danke.

»Ach so – is’ so’n Blonder, ey. Nö, lass ma’«, sagte er. Er kramte in seinem zerknüllten Scheiß-Drum herum, und ich kannte auch schon seine nächste Zeile. Kam prompt. »Au! Haste ma’n Paper, ey?«

Diese Typen haben nie genug Blättchen. Drehen sich viermal am Tag dreiblättrige Joints, aber es kommt ihnen im Leben nicht in die bekiffte Birne, dass auf die Art die Blättchen womöglich nicht so lange halten wie der Tabak. Dafür ha’m sie ja immer Typen wie mich. Ich ging ja nicht mal zum Brötchenholen ohne ein zweites Päckchen Tabak und drei Extraheftchen Zigarettenpapier in der Tasche. Und zwei Feuerzeuge natürlich.

»Spießer!«, hatte Kathrinchen mich deswegen mal genannt. »Immer auf Nummer Sicher, wa’?«

»Du weißt nie, wo du landest«, hatte ich ihr erklärt, »und wann du von da wieder zurückkommst.«

»Klar«, schnaubte sie, »Clint Eastwood und du …« Das ließ ich dann einfach mal so stehen.

Für Rabotti hatte ich auch gleich noch mehr Gesprächsstoff – als ich ihm eins von meinen braunen Maisblättchen rauspulte.

»Boah, ey! Geil, Ollen! Haste’n die her?« Ich nickte Richtung Friesenplatz. »Ah«, meinte er.

Also drehten wir uns jeder eine. Kein Feuer oder ein Zippo, wettete ich mit mir selbst. Und wenn Zippo, dann irgendwelche albernen Kunststückchen damit. Verloren. Es waren Streichhölzer. Aber immerhin keine stinknormalen, sondern Kunststückchen-geeignete – seins rieb er lässig an einem besonders großen Button an, mit einem Foto von Jane Fonda als Barbarella drauf. Make Love Not War!, forderte sie mich per Sprechblase auf, das von Henry geerbte Nussknackerkinn grimmig zu einer Art Lächeln verrenkend, ihre Augen so liebevoll wie ein Stück Schmirgelpapier. Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Aber den alten Witz mit dem Kasten Bier auf’m Gesicht hatte ich noch nie so wahnsinnig komisch gefunden. Zugegeben, Jane – immer noch besser als Krieg … Aber mit Jane Asher zum Beispiel würde mir die Friedensbewegung doch ein bisschen mehr Spaß machen. Sorry.

»Irgendwoher kenn’ ich dich, Ollen, weiß ich ganz genau.« Natürlich gab er so schnell nicht auf. Na ja, jetzt rauchten wir schon zusammen, konnte ich auch mit ihm reden.

»Tatsächlich«, sagte ich also und hockte mich auf mein hölzernes Snare-Flightcase mit den typischen Aluleisten und Flügelschrauben. Dachte darüber nach, was aus Jane Asher wohl geworden sein mochte. Guckte auf dem menschenleeren, nassen Platz herum. Zählte sieben Häufchen schmutzig-graue Schneereste. Bewunderte den Dorf-Weihnachtsbaum, ein windschiefes Wrack mit neun elektrischen Kerzen, drei davon kaputt, und einer rot-weißen Stoffgirlande, das zwei Tage nach dem ersten Advent schon aussah, als säßen die Heiligen Drei Könige bereits seit vier Wochen wieder am Strand vom Roten Meer. Und im Stillen verfasste ich einen Leserbrief an den Espelkamper Landboten, ein geharnischtes Protestschreiben gegen Gustav Schnöken & Sohn, die ihre Marktschänke laut Aushang »mittag bis zwei, abend 17 bis 22 Uhr« geöffnet hatten. Jetzt war es viertel vor zwei, und das schiefe schwarze Rollgitter vor der Eingangstür war bereits unten. Falls es heute überhaupt schon mal oben gewesen war. Auf der anderen Seite des Platzes duckte sich eine dunkelrote Backsteinkirche unter dem bleigrauen flachen Himmel, hinter bunten Fensterchen schien Kerzenlicht zu flackern. Da war jetzt, zur Adventszeit, wohl mehr los als bei Gustav. Aber vielleicht war Gustav ja auch gleichzeitig der Pfarrer der Gemeinde – Seelsorger ist Seelsorger.

»Ich wette, du bist Musiker, ey«, näherte mein neuer Kumpel sich dem Jackpot. Ich starrte auf die Kiste unter mir, den runden Koffer neben mir, mit meinen Becken drin und all den Aufklebern auf dem verschrammten Deckel – Guru Guru, Checkpoint Charlie, Eiliff und Embryo. Penner’s Radio

»Nah dran.« Den Witz hatte er auch schon mal gehört. Er warf seine langen, verfilzten blonden Locken aus dem Gesicht und wieherte.

»Schlagzeuger! Jau, Mann!« Er blies beide Backen auf, schob die Lippen vor und trommelte beidarmig in der Luft herum. »Dudu duduff duduff duffuff …« Irgendwas zwischen You Really Got Me und ’nem kleinen Jungen mit ’ner Märklin-Eisenbahn. Aus seiner Kippe sprühten Funken und aus seinem Mund Speichelbläschen zwischen einem Schwall Atemwölkchen. Jau, Mann.

Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Und Durst. Vor allem Durst. Oder wie Opa Klütsch immer zu sagen pflegte: Mir es et esu kalt, datt isch vür louter Hunger nimmieh weiß, wat für ’nen Doosch isch han – esu mööd ben isch* … Und der nächste Bus kam laut Fahrplan, soweit man das zwischen all dem Geli liebt Jens-Gekrakel lesen konnte, um halb drei. Rock’n’Roll, I gave you all the best years of my life*, knödelte Kevin Johnson in meinem Hinterkopf.

Um es kurz zu fassen: Er ging mir auf die Nerven, bis ich aussteigen musste. Nee, nicht Kevin. Da wusste ich aber dann auch, dass er zwar Klaus-Peter hieß, aber von allen nur Rabotti genannt wurde, weil er seit drei Jahren in zwei Jobs malochte – morgens um sechs ging er bis vier Trecker und Rasenmäher reparieren, und abends von sechs bis halb zehn stand er an einem elektrischen Hobel und verwandelte Schalbretter in Nut-und-Feder, ein Baumaterial für Innenausstattungen, von dem der deutsche Eigenheimbewohner und Gartenlaubenbesitzer nie genug kriegen kann. Ich hatte einen ganzen Packen Fotos von seinen vier Freundinnen gesehen, wusste, dass er sich mit achtzehn beim Bund eine Vorhautverengung mit einer Rasierklinge selbst operiert hatte (»Riesensauerei, Ollen – würd’ ich so nich’ noch ma’ machen, ey! Aber sechs Wochen danach! Mann! Ich bin Freitagabend nach Bremen in’n Puff un’ erst Sonntagabend wieder raus, ey!«). Ich hatte erfahren, dass er kiffte, seit er dreizehn war, dass es mit einer eigenen Band nie geklappt hatte (»Scheiße, Ollen, ich bin so musikalisch wie’n Sack doude Katzen, ey!«) und dass er, schon interessanter, neun Schwestern hatte, die älteste elf Jahre älter als er und die jüngste eins (»Un’ alle noch dünner als ich, Ollen!«). Und er war schon so mager, dass man ihm nicht zutrauen mochte, ein Loch in eine nasse Tapete zu hauen. Das täuschte allerdings – meinen Beckenkoffer hob er mit zwei Fingern in den Bus, als sei’s bloß die Bild-Zeitung.

Aber wie unser Eiermann immer so schön kontert, wenn ihn jemand wegen seiner drei Bass-Saiten löchert: »Alles im Leben hat mindestens zwei Saiten!« – auch Freund Rabotti hatte sein Gutes. Erstens war ich dank ihm zu beschäftigt, um Zoff mit dem Busfahrer zu kriegen, an dessen Rückspiegel ein kleines Kofferradio hing und die ganze Fahrt volle Kanne Weihnachtslieder in den ansonsten leeren Bus plärrte. Und zweitens stellte sich raus, dass Mister Arbeiterklasse nicht nur kiffte wie ein Weltmeister (»He wätt nich gerook!«, schrie der Busfahrer nach hinten. »Dann mäck dat Fensta op, Sören! Un guck oppe Straat!«, schrie Rabotti ungerührt zurück. Ein milder Stern herniederlacht / Und kerzenhelle strahlt die Nacht, krähte das Radio), nein, mit seiner großen Tasche spielte er tatsächlich noch vorweihnachtliche Bescherung und zauberte sieben Büchsen Bier hervor. Die teilten wir dann gerecht, und als ich kurz vor meiner Haltestelle den letzten Schluck aus meiner fünften schlürfte, wusste ich schließlich auch, dass er am liebsten Perry Rhodan las, dass seine Kölner Lieblingsband die von Balkan-Rock-Axel war, dass er von dreien seiner Schwestern nacheinander recht anschaulich aufgeklärt worden war, mit seinen beiden Jobs bereits über fünfzigtausend Mark zusammengespart hatte, um sich bald nach Neuseeland absetzen zu können, und dass er in den letzten drei Jahren auf insgesamt sechsundvierzig Open-Air-Festivals gewesen war – »Un’ für nich’ ein einziges hab’ ich ’ne Eintrittskarte bezahlt, Ollen, nich’ ein einziges! Un’ immer vorne inne erste Reihe! Vonne erste Scheiß-Kapelle bis zur letzten Zugabe, ey!«

Kein Wunder, dass er mich kannte.

Und eingelullt von Bus, Bier und Blabla hatte ich ihm sogar noch verraten, dass Axel demnächst seinen traditionellen Advents-Auftritt im Session hatte.

5


Brödershof

Es gab wahrhaftig eine Telefonzelle in Brödershof, einem Flecken mit sechs Bauernhöfen, einem Molkereibetrieb, einem Reiterhof und einem Edeka-Laden, der Schneider’s Dorfkrug hieß. Und eben dieser halb gelben, halb rostbraunen Telefonzelle, vollgeklebt mit Plakaten, die mich zum berühmten Holzmindener Glühwei(h)nachtsmarkt einluden – Letztes Jahr mehr als 1000 begeisterte Besucher! Die zweite Überraschung war, dass das Telefon sogar funktionierte, und die dritte, dass Herr Schneider mit Gustav Schnöken & Sohns Arbeitsmoral nichts am Hut hatte. Er begrüßte mich überschwänglich, zapfte mir ein blumiges Pils, sah beifällig, wie das nach meinem ersten Schluck halb alle war, und machte sich gleich an ein frisches. Überraschung Nummer vier.

»Woll der noie Schlachzoigä, woll?«, meinte er mit einem Blick auf mein Gepäck. Ich nickte anerkennend. »Ich wollt’ den Jopp ja woll auch gemäkkt ha’m. Aber Hansi hat gemeint, dat wär’ ja woll doch nich’ ganz dat Richtige für Schneiders Vadder sein Sohn.« Er war an die fünfzig, mindestens, wog um die drei Zentner, mindestens, hatte Arme, dicker als meine Oberschenkel, eine Schnapsnase und ein steifes Bein. Hansi war mein Arbeitgeber für diese Woche, Hansi Hedegger, Bassist und in stillschweigender Übereinkunft Chef der Jazzrock-Kapelle Baggermann.

»Ach«, trug ich meinen Teil zur Unterhaltung bei und trank das zweite Pils. Eiskalt, prickelnd herb – ein Genuss. Schien er auch zu finden – er zapfte gleich drei neue. Bis auf eine ungefähr hundertjährige Gestalt, in einem riesigen schwarzen Ledermantel an einem Ecktisch neben der Lebensmitteltheke verbuddelt, war der Laden leer. Die hatte bis jetzt aber noch keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben – vielleicht war das ja auch nur der Nubbel von Brödershof. Immerhin war in neun Wochen Karneval.

»Paiste oder Zyldjian?«, bellte mir der Hausherr plötzlich ins Gesicht, seine haarigen Fleischerarme auf das glänzende Zinkblech gestützt, seine Kartoffelnase dicht an meiner. Tausend rote Äderchen leuchteten mich an, aber noch mehr leuchteten seine listigen Augen – Dat hättste nich’ gedacht, mien Jong, datt olle Schneiders Vadder sein Sohn da Ahnung von wech hat, woll?

Tatsächlich hätte ich mich fast verschluckt – kannte der doch tatsächlich die beiden besten Schlagzeugbeckenmarken.

»Weder noch«, brachte ich raus. »Und sowohl als auch.« Da hatte er erst mal was zu schlucken.

»Beide?!?«, fragte er entsetzt. Als hätte Uwe Seeler angekündigt, er ginge jetzt zu St. Pauli. Hinter den Falten auf seiner Stirn sank Hansi ein paar Stufen in seiner Achtung. Ich war sowieso unten durch. Also war’s eh schon wurscht.

»Ich hau auf alles, was Krach macht«, setzte ich einen drauf. Darauf brauchte er einen Klaren. Nahrung für die Äderchen. »Ich bin der Büb«, stellte ich mich vor, »der Kanaldeckel’s Büb aus Köln-Vogelsang.«

»Kanaldeckel«, echote er fassungslos.

»Na ja, ich nehm’ auch Autofelgen.« Hoffentlich kriegt er keinen Herzinfarkt.

Schneiders Vadder sein Sohn doch nicht. Er lachte schallend, machte noch zwei Korn, drückte mir einen in die Hand und stieß mit mir an.

»Autofelgen, Ooas! Nu’ wär’ ich doch beinah drauf reingefallen auf den Spöök.« Ich sagte lieber nix mehr. »Aber schon schad’, das Dingen mit dem Raimund, oder?«

»Na ja, so ganz unschuldig is’ er wohl selber nich’, oder?« Grimmig wiegte er seinen Schädel hin und her, was seinen Hals in mächtige Wellenbewegungen versetzte.

»Tscha! Ich sach ihm doch schon seit Jahren: Lassas nach, Jong! Du wirst dich nomma’s Genick brechen!«

»Da hat er ja diesmal noch ma’ Schwein gehabt, wa’?« Ich auch. Sozusagen. Deswegen war ich hier. Raimund, der eigentliche Schlagzeuger von Baggermann, hatte sich bei einem weiteren unangebrachten Versuch, in Richie Haywards Fußstapfen zu treten, mit seinem Motorrad im wahrsten Wortsinn auf Glatteis begeben und sich beide Beine und einen Arm gebrochen. Blöd für ihn, aber eigentlich nicht weiter schlimm für seine Band – die tourten grundsätzlich nur von April bis November, um den Winter über entweder an der Algarve rumzuhängen oder in ihrem eigenen Studio in Hinderup an neuen Platten zu frickeln. Leider hatten sie dieses Jahr jedoch beschlossen, dass das nächste Album Baggermann den endgültigen Durchbruch bringen sollte, und bei einer neuen Plattenfirma unterschrieben. Nicht zuletzt auch wegen eines schwindelerregenden Vorschusses. Die Firma wiederum war bloß die Hamburger Tochter eines amerikanischen Konzerns, und deren Uhren ticken anders als die bei Omelette, ihrem bisherigen Label, wo Verträge auf Bierdeckel passten und Chef Heiner König seine Frau und seine Mutter neue Platten eintüten und ausliefern ließ.

Dummerweise standen ihre fünf Unterschriften nun also auch auf richtigem Papier, unter einem richtigen Paragraphen, der besagte, dass bei Überschreiten des Abgabetermins eine sechsstellige Konventionalstrafe fällig war. Und der Termin war der 1. Januar nächsten Jahres. Keine vier Wochen, und sie mussten noch fünf Titel aufnehmen – und den ganzen Klumpatsch natürlich noch rechtzeitig abmischen. Stress war angesagt.

Aber sie kannten ja mich.

»So’n büschen wundern tu’ ich mich ja schon …«, meinte Schneider. »Nix für ungut – aber dein’ Namen hab’ ich noch nie gehört.«

»Ja, scheinst dich auszukennen, was Schlagzeug angeht, wie?« Sein Stichwort.

»Komm ma’ mit!«, flüsterte er geheimnisvoll. Ich nahm vorsichtshalber noch einen guten Schluck und folgte ihm zu einem dicken rotbraunen Vorhang zwischen Zigarettenautomat und Toilettentür. Mit großer Geste knipste er einen Lichtschalter an und zog den Vorhang auf. »Tädäää!«, schrie er.

Ich war baff. Ein komplettes Schlagzeug-Set auf einem kleinen Podest, schätzungsweise Jahrgang ’55, in einem grauslichen Türkisgrün mit Goldglimmer, fett Premier auf dem vorderen Basstrommelfell, und in rot und golden umrandetem Türkis darunter ein schwungvolles The Blue Beatnicks. Ja, mit ck. Und auf allen auf Hochglanz polierten Becken war der Paiste-Schriftzug mit türkisgrünem Lack nachgezogen. Ein echtes Schmuckstück. Ich wettete mit mir, dass er das Ding Schießbude nennen würde.

»Na, wat sachste, mien Jong?«, strahlte Schneiders Vadder sein Sohn. Ich strahlte zurück.

»Mein lieber Mann. Wo haste gespielt – in Las Vegas?«

»Pah! Las Vegas! Weißte, wo ich an die Schießbude gesessen hab’? Na?« Er zwängte sich an der Kiste vorbei, ließ sich auf ein besonders stabiles Monstrum von Schlagzeughocker plumpsen und griff sich die Stöcke, die fein säuberlich gekreuzt auf der Snare lagen. Weiß, mit Nylonspitzen. Und natürlich mit türkisem Klebeband verziert. Er klickte den Snareteppich hoch und produzierte einen sauberen Zirkuswirbel. »In’n Starclub, Mann! In Hämbuarch in’n Starclub! Neunzehnsechzig! Einunsechzig! Als der Beat losging!« Und prompt legte er einen trocken swingenden Twist hin, der Chubby Checker ein breites Grinsen entlockt hätte. Seine Hi-Hat blieb geschlossen, weil sein steifes Bein ausgestreckt daneben lag. Aber mit dem gesunden rechten spielte er eine ordentliche Bassdrum. Nach acht Takten floss ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht, und seine Zunge streckte sich wild von einem Mundwinkel zum anderen.

»Herrjessas, Himmel, Arsch un’ Klötensuppe!«, tönte es plötzlich aus dem Ledermantel in der anderen Ecke. »Ich denk’, da – nu’ is’ Sören mit sein’ Bus in’n Kruuch gedonnert! Un’ dann is’ auch noch mein Bier alle!« Mit einem gekonnten Wirbel über beide Toms beschloss Schneider seine Darbietung. Ich hatte nur ein bisschen Angst, er würde sich dabei auf die Zunge beißen.

»Kommt sofort, Fritzken, kommt subito!« Mühsam stand er auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wollte die Stöcke schon wieder akkurat an ihren Platz legen, aber dann warf er mir einen schrägen Blick zu. »Willste auch mal, Jong?«, streckte er sie mir generös entgegen. Ich wollte schon dankend abwehren, aber da sah ich die Enttäuschung, die sich in seinem Gesicht ausbreiten wollte. Verlegen grinsend nahm ich die Dinger, als überreichte er mir den Goldenen Schlüssel zur Stadt. Klemmte mich auf seinen Hocker, schraubte die Hi-Hat-Becken auf Abstand. Vorsicht, Büb, sagte ich mir, jetzt hau dem armen Mann nicht sein Schmuckstück in Fetzen! Aber was sollte ich spielen? Ich trommelte ein paar Paradiddle und Sechzehntel-Triolen auf die Snare, um ein Gefühl für die Abstände, die Spannstärke der Felle und die Stöcke zu kriegen, die nicht halb so schwer waren wie meine Kanaldeckels-Knüppel. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Schneider sich auf halbem Weg zu seinem Zapfhahn herumdrehte und mich aufmerksam beobachtete. Na ja, dachte ich, alle alten Schlagzeuger mögen Jazz, bewundern Gene Krupa, Buddy Rich, Art Blakey. Hey – und Joe Morello natürlich! Und schon rollte ich in einen sanften, locker aus dem Handgelenk gespielten Fünf-Viertel-Rhythmus, spielte einen halben Chorus von Brubeck’s Take Five, brummte das Bassriff dazu, kriegte Spaß an der Sache und legte die ersten sechzehn Takte von Morellos Kult-Solo drauf.

Als ich zwischendurch mal hochblickte, stand der Schießbudenbesitzer mit weit offenem Mund hinter seiner Theke, Unglauben und Bewunderung in den Augen. Aber auch eine gute Portion Neid und Wehmut. Jetzt spiel’ ich doch mindestens zwanzig Jahre länger als dieses langhaarige Früchtchen, konnte ich lesen, aber das werd’ ich mein Lebtag nich’ hinkriegen Schnell wich er meinem Blick aus und beschäftigte sich angelegentlich mit Fritzkens Pils. Scheiße, Büb, ermahnte ich mich, mach hier nicht den Angeber! Flugs verhedderte ich mich bei einem Tomwirbel, schlug auf dem Rückweg gegen die Unterseite des Ride-Beckens und verlor klappernd den rechten Stock.

»Verdammt!«, schrie ich und sprang auf. »Aber eines Tages werd’ ich’s hinkriegen!« Bemüht, seine Erleichterung zu verbergen, wenn auch nicht ganz erfolgreich, griff Schneider zur Kornflasche.

»He, mien Jong, dat war doch schon gar nich’ so verkehrt! Da hat der alte Joe auch lange dran geübt! Dat kommt nich’ von heut’ auf gleich! Schon gar nich’ mit Kanaldeckeln, ho ho!« Er hielt mir einen doppelten Korn entgegen. »Komm, ich geb’ einen aus! Hier, Fritzken, kriss auch ein’n auf den Schreck! Auf die wunnäbare Welt der Musik, Kinners!« Synchron kippten wir uns zu dritt den Schnaps in die zurückgelegten Hälse. Männerrituale. Ich hob erst mal den Stock wieder auf, legte das Paar schön über Kreuz auf die Snare, wie es sich gehörte, schaltete den Snareteppich ab und schraubte die Hi-Hat wieder zusammen. Zog den Vorhang zu und machte das Licht wieder aus. Hübsch ordentlich und bescheiden, der Junge aus Köln.

Dann hockte ich mich wieder an die Theke, wo schon ein frisches Pils auf mich wartete.

»Weißte«, beugte Schneider sich wieder herüber, »eins kann ich dir aus langer Erfahrung sagen: Ein Schlachzoigä, der muss immer üben. Immer üben! Ein Leben lang! Jackie Jefferson – kennst du, oder? Der vom Ellington –, der hat noch mit über siebzig vor jedem Konzert eine halbe Stunde seine Exi-, eh … Exerzitien gemacht! Inner Garderobe!« Ich nickte mehrmals, als sei das sowieso Grundwissen für unsere Branche. Meines Wissens war der alte Jackie zwar mit knapp sechzig an Fettleber gestorben, und schon zehn Jahre vorher hatte er seinen Job verloren, weil seine Kollegen ihn vor jedem Gig erst mal mit kalten Duschen aus dem Koma holen mussten. Aber das Pils war wirklich sehr lecker.

»Inner Garderobe!«, bekräftigte Schneiders Vadder sein Sohn. »Jee-deen Tach! Willste no’ ein’n?« Was ’ne Frage. »Ich will dir mal was erzählen, mien Jong …« Ich rutschte auf meinem Hocker in eine bequeme Stellung, drehte mir eine neue Kippe und schlürfte schon mal ein halbes Bier unter dem Schaum weg.

Leider ging in dem Moment die Tür auf, und Sven Eisenmacher versaute mir einen vielversprechenden Abend.

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