Читать книгу: «Wind über der Prärie», страница 9

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Die Town of Kansas war laut, schmutzig und seine Hauptstraße mit Saloons und Freudenhäusern gesäumt, die Luise die Schamesröte ins Gesicht trieben und Friedrich blankes Entsetzen verspüren ließen.

„Lasst uns für diese armen Sünder beten“, sagte er, als sie schließlich den General Store erreichten und faltete die Hände. „Mit der Bitte, dass ihr unchristliches Verhalten ihnen verziehen wird.“

Hugh schluckte, erwiderte nichts und kletterte eilig vom Kutschbock. Er wollte jetzt nicht beten und schon gar nicht für diese Mädchen und nicht für die Männer, die ihnen Geld dafür bezahlten, damit sie sich an ihnen vergehen durften, denn er war nicht besser, nicht einen Deut besser als sie. Sein Vater hätte auch ihn in sein Gebet einschließen müssen, in seine Bitte um die armen Sünder. Hugh war froh, dass er auf der anderen Seite des Wagens stand und Friedrich nicht mehr anschauen musste. Schnell einkaufen, einpacken und dann nichts wie weiter, dachte er. So schnell wie möglich fort von hier!

Je weiter ihr Weg sie Richtung Süden führte, desto sandiger und trockener schien der Boden zu werden. Immer mehr Felsen tauchten auf und viele kleine Wälder durchzogen das weite, hügelige Land. In einigen Tälern wuchs üppiges, grünes Gras, an dem sich die Tiere erfreuten und dann gab es Gebiete, in denen die Prärien braun und ausgetrocknet waren. Der Weg war schwierig für die Wagen und die Zugtiere. Sie mussten vorsichtig fahren und hin und wieder ging eine Achse zu Bruch, dann war der Trail für diesen Tag beendet. Charlie schimpfte und fluchte, wenn etwas derartiges vorfiel und einmal ließ er einen Wagen an Ort und Stelle zurück und nahm nur die beiden Pferde mit, um Zeit zu sparen.

„Ein eigenartiges Land ist das“, bemerkte Julie an einem Abend Ende Juni, als sie ihr Lager mitten in der Prärie, weit entfernt von den nächsten Wäldern und Felsen aufgeschlagen hatten. Die meisten Siedler hatten sich längst zur Ruhe begeben und eine angenehme, fast friedlich scheinende Ruhe lag über dem Platz. Die ersten beiden Wachen hatten begonnen, ihre Runden um die Wagen zu drehen, jeder ein Gewehr geschultert und einige der Lagerfeuer begannen langsam und knisternd herunterzubrennen.

„Fremd“, erwiderte Hardy Retzner leise und starrte in seinen leeren Zinnbecher. „Fremd und so unendlich weit. Der Himmel scheint hier nirgendwo aufzuhören, nicht einmal am Horizont.“

„Ja“, flüsterte Julie und starrte hinauf zu den Sternen. Ihr fröstelte, denn die Temperaturen fielen auch jetzt in der Nacht noch recht tief. „Ich möchte wissen, wann wir endlich dieses Flusstal erreichen, wo das Fort steht.“

„Ich weiß es nicht, Julie-Mädchen“, gab Hardy Retzner offen zu. Er stellte seine Tasse beiseite. „Lassen Sie uns schlafen gehen. Es ist spät und ich bin sicher, dass unser verehrter Führer morgen wieder eine lange, mörderische Strecke für uns aussucht.“

Julie blickte auf ihre Stiefel. „Wenn wir angekommen sind, brauche ich neue Sohlen.“

Der junge Österreicher schmunzelte. „Damit wird es nicht getan sein. Da brauchen Sie ganz neue Stiefel!“

Er wollte aufstehen und sich unter den Wagen zu Friedrich und Hugh legen, denn im Inneren schliefen die Frauen und Nikolaus. Er verabscheute den Platz auf der harten, feuchten Erde, doch es gab keine Alternative, weder für ihn, noch für Hugh oder Friedrich. Da vernahm er eilige Schritte, die sich ihnen näherten.

„Oh, da kommt Mr. Stromson!“, sagte Julie erstaunt.

Greetje und Torbjörn Stromson waren ein junges Ehepaar aus Norwegen, beide Anfang zwanzig und hochmotiviert, was ihre Zukunft anbetraf. Sie stammten aus ärmlichen Verhältnissen und wollten diesen entfliehen. So hatten sie sich ein wenig Geld gespart, um mit dem Schiff nach Amerika auswandern zu können. Julie kannte die beiden recht gut, denn sie hatten sich dem Treck schon in New York, zusammen mit ihnen angeschlossen und außerdem hatte Friedrich ihnen das Geld für die Rate an ihren Führer geliehen, weil sie es nicht hatten bezahlen können.

„Doktor?“, fragte der junge Mann mit den Sommersprossen und den sehr blonden Haaren.

„Was gibt es?“ Alarmiert sprang Hardy auf die Beine. Niemand fragte umsonst nach ihm.

„Könnten Sie vielleicht einmal nach meiner Frau sehen?“, raunte Torbjörn leise, um keinen der anderen zu wecken. „Sie hat starke Schmerzen und ich weiß auch nicht...“

„Ich komme!“, fiel Hardy ihm eilig ins Wort und trat an den Wagen, um lautlos seine Instrumententasche herauszuholen. „Wo ist sie?“

„Dort hinten! Ich zeige es Ihnen!“ Besorgt rannte der junge Ehemann ihnen voraus. Ganz von selbst schloss sich Julie ihnen an, denn sie war es gewohnt, dem Österreicher immer eine Hilfe zu sein. So oft hatte er sie in der Vergangenheit schon gebraucht und vielleicht musste sie ihm auch diesmal zur Hand gehen.

Geertje lag im Inneren ihres kleinen Planwagens und wand sich vor Schmerzen. Torbjörn schob den Leinenstoff beiseite und wollte hineinklettern, doch der Arzt hielt ihn zurück.

„Lassen Sie mich und Julie nach ihr sehen! Warten Sie hier!“

Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes verriet, dass er der Aufforderung nur ungern nachkam, doch er wagte nicht, zu widersprechen und ließ Doktor Retzner und das Mädchen gewähren. Hastig kniete Hardy sich neben die junge, blonde Frau.

„Zünden Sie eine Lampe an“, bat er Julie, die nach einem kurzen Rundumblick nur eine einzige entdecken konnte. Ihr Schein verbreitete nur schwaches Licht, doch es reichte aus, um den Ernst der Lage erkennen zu lassen.

Vorsichtig legte Doktor Retzner der jungen Norwegerin seine Hand auf die schweißbedeckte Stirn. Danach tastete er ihren Bauch ab und seufzte.

„Haben Sie gewusst, dass Sie guter Hoffnung sind?“, fragte er sehr leise, sodass Torbjörn es draußen nicht verstehen konnte.

Geertje nickte heftig. Sie schluchzte leise auf. „Ich...ich glaube schon, aber ich war mir nicht sicher.“

„Sind Sie heute gestürzt? Oder haben Sie irgendwelche schweren Gegenstände hochgehoben?“, fragte Hardy leise, sie sehr genau beobachtend.

Wieder schluchzte die junge Frau auf, diesmal unbeherrschter. „Ich...bin...vom Wagen gefallen, vorhin, als...als wir hier angekommen sind, aber...es war nicht schlimm! Wirklich nicht!“

Hardy nickte. Ein schmerzlicher Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Er gab Julie einen Wink.

„Sie müssen ihr so viel Whiskey einflößen, wie Sie nur fertigbringen! Verstanden?“ Er sprach nun Deutsch mit ihr, um sicherzugehen, dass niemand sonst sie verstehen konnte. Er griff in seine Tasche und brachte eine Flasche zum Vorschein.

Julie nickte nervös. Sie wollte wissen, was mit Geertje los war und wagte doch nicht, danach zu fragen, denn schon beugte Doktor Retzner sich nach draußen und befahl Torbjörn mit leiser Stimme: „Nehmen Sie einen der Männer mit, die Wache stehen und holen Sie einen Topf mit frischem Wasser! Den stellen Sie auf eines der Feuer, bis es sprudelnd kocht! Ich brauche frisches, kochendes Wasser, klar?“

„Ja...ja...“, stammelte der bemitleidenswerte, ahnungslose Ehemann und rannte davon, in die dunkle Nacht hinaus.

„Und jetzt?“, wollte Julie wissen. Sie gab Geertje einen Zinnbecher nach dem anderen zu trinken. Die junge Frau schüttelte sich.

„Ist das eine eklige Medizin!“

„Mehr!“, sagte Doktor Retzner nur, während er bereits seinen Instrumentenkoffer öffnete. „Ich wünschte, ich hätte etwas Äther bei mir, aber daran habe ich nicht gedacht, muss ich zu meiner Schande gestehen. Ich bin mir sicher, Doktor Stankovski hätte mir welchen mitgegeben.“

Der Alkohol zeigte bereits nach wenigen Bechern seine Wirkung, denn Geertje trank sonst nie und sie sank in einen weggetretenen Dämmerzustand.

„Was fehlt ihr denn?“, fragte Julie schließlich, als sie sicher war, dass Geertje nicht mehr bewusst wahrnahm, was sie sprachen und drückte den Pfropfen zurück auf die Flasche.

„Sie wird das Kind verlieren“, erwiderte Hardy ernst und schob den Rock mitsamt den Unterröcken nach oben. „Wir müssen es holen.“

Julie schluckte. „Es...holen?“

Sie war nur zweimal bisher bei einer Geburt dabei gewesen. Das erste Mal bei der Frau des Bürgermeisters. Bei dieser war es so schnell gegangen, dass sie das Kind bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer, auf der Treppe bekommen hatte und das zweite Mal bei einer Farmersfrau. Auch bei ihr hatte es keine drei Stunden gedauert, ehe ihr zwölftes Kind das Licht der Welt erblickt hatte. Keine der beiden Frauen hatten geschwitzt oder sich vor Schmerzen gewunden wie Geertje hier und Julie fragte sich, was der Unterschied war, denn immerhin waren die beiden Säuglinge der anderen Frauen bereits voll ausgebildet gewesen und viel größer als Geertjes Kind im Augenblick noch sein musste. Unter ihren Röcken zeichnete sich nur ein winziges Bäuchlein ab.

Ein mulmiges Gefühl überkam Julie, denn sie spürte, dass dies hier etwas anderes, etwas Bedrohliches war. Sie beobachtete Hardy Retzner dabei, wie er Geertje an ihrer intimsten Stelle untersuchte, die sonst nur ihr Ehemann zu sehen bekam und sie fragte sich, wie Torbjörn wohl darauf reagieren würde, wenn er das sehen könnte.

Schließlich richtete Hardy Retzner sich auf. Er seufzte tief, als er die nächste Wehe durch den Körper der jungen Frau gehen sah und hörte, wie sie leise aufstöhnte.

„Vielleicht haben wir Glück und ihr Körper stößt den Fötus alleine aus. Wir müssen abwarten.“

Von draußen erklangen Schritte und er beeilte sich, den Topf mit heißem Wasser bereits draußen entgegenzunehmen, sodass Torbjörn nicht ins Innere sehen konnte.

„Was ist mit ihr, Doktor?“, hörte Julie ihn verzweifelt fragen. „Sie schafft es doch, nicht wahr?“

Sie merkte, wie Hardy einen Moment zögerte, ehe er antwortete: „Natürlich wird sie es schaffen! Aber bitte warten Sie draußen, ich rufe Sie dann, wenn wir soweit sind!“

Er stellte den Topf neben sich ab, aus dem das kochende Wasser dampfte und zog den Leinenstoff hinter sich zu, sodass von draußen nicht hereingesehen werden konnte. Dann krempelte er sich die Ärmel seines Hemds hoch.

„Machen Sie das auch!“, befahl er Julie, ehe er nach dem Whiskey griff, mit dem er seine Hände übergoss und die Flasche dann an Julie weiterreichte. „Wir müssen sehr sauber arbeiten, wenn wir sie retten wollen.“

Julie schluckte. Zum ersten Mal spürte sie die enorme Verantwortung, die auf den Schultern eines Arztes lastete und sie merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Ganz ruhig, sagte sie sich, es kann dir nichts passieren! Doch die Angst vor dem Unbekannten blieb.

Geertje stöhnte wieder auf und wand sich unter einer erneuten Wehe.

„Halten Sie sie fest! Sie macht es nur schlimmer“, sagte Hardy, während er aus seinem Instrumentenkoffer die unterschiedlichsten Geräte herausnahm und in das kochende Wasser legte.

Julie fasste die junge Frau, nur ein paar Jahre älter als sie selbst, an den Schultern und drückte sie zu Boden.

„Gut so.“ Hardy schob die Röcke über Geertjes Schenkel nach oben und schob ihre Beine auseinander. Julie schluckte, peinlich berührt. Sie fragte sich, ob es ihr wohl eines Tages auch so ergehen würde, wenn sie ein Kind erwartete und eine seltsame Reaktion der Abwehr gegen dieses Geschehen machte sich in ihr breit. Sie wusste, dass Geertje sich sehr schämen würde, wenn sie wüsste, dass ein fremder Mann – auch, wenn er Arzt war – sie dort untersuchte, wo niemand das Recht dazu hatte.

„Ich glaube, wir haben Glück“, sagte Hardy in Julies Gedanken hinein. Er atmete leise auf. „Da ist es.“

Julie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wovon der junge Österreicher sprach. Dann lag es vor ihr – winzig, mit einer eigenartigen Kopfform, doch eindeutig ein Mensch, mit noch unausgebildeten Armen und Beinen, der tote Fötus. Übelkeit stieg in ihr hoch und sie musste den Blick davon abwenden. Eilig wickelte Hardy es in ein Stück Stoff, der im Wagen lag, um sich dann zu dem Topf herumzudrehen, aus dem immer noch das Wasser dampfte und es unerträglich heiß werden ließ unter dem Leinenstoff des Wagens. Jedenfalls erschien es Julie so.

„Machen Sie jetzt bitte nicht schlapp!“, raunte Hardy leise, als er im Schein der Lampe ihr weißes Gesicht bemerkte. „Ich brauche Sie hier dringender als jemals zuvor!“

Julie nickte tapfer und zwang sich, ihren Blick auf Geertje zu richten, die bewusstlos vor ihr lag, die Augen geschlossen, jedoch ruhig atmete.

„Ich muss ihren Uterus ausschaben“, erklärte Hardy, als spräche er zu einem unerfahrenen Medizinstudenten, wie er es immer tat, wenn sie dabei war, wenn er arbeitete. „Sonst verblutet sie. Ich hoffe, ich erwische alles.“

Julie wollte schon fragen, wovon er alles erwischen musste, verkniff es sich jedoch im letzten Moment. Sie beobachtete den Arzt dabei, wie er mit einem anderen Instrument eines aus dem kochenden Wasser fischte und es einige Sekunden auskühlen ließ. Dann beugte er sich über Geertje und Julie senkte den Blick. Sie wollte nicht sehen, was weiter geschah. Sie hörte die junge Norwegerin leise stöhnen und drückte sie fester auf den Wagenboden. Dann wiederum hörte sie Doktor Retzner leise fluchen und die ganze Zeit über vernahm sie dieses seltsame Geräusch – manchmal schmatzend, manchmal kratzend. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Minuten oder sogar eine halbe Stunde. Endlich jedoch sagte Hardy. „Gut, Sie können sie loslassen.“

Langsam richtete Julie sich auf. Sie fühlte sich entsetzlich erschöpft und ihre Hände zitterten. Geertje war noch immer ohne Bewusstsein.

„Was ist mit ihr?“

Der junge Arzt rang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln durch.

„Der Whiskey, die Schmerzen...sie wird es schaffen, hoffe ich.“ Er seufzte und machte einen Knoten in einen Lappen, sodass niemand sehen konnte, was darin steckte, doch Blut durchweichte ihn von innen heraus. „Wenn ich nur in sie hineinsehen könnte und wüsste, ob ich wirklich alles herausbekommen habe.“ Er schüttelte kurz den Kopf, dann übergoss es seine Hände erneut mit Whiskey und holte danach seine restlichen Instrumente aus dem Topf, um sie wieder in seiner Tasche zu verstauen. „Sagen zu müssen, ich habe alles getan, was in meiner Macht steht und doch nicht sicher sein zu können, ob sie durchkommt oder nicht – das ist das Schlimmste.“

Sacht legte Julie eine Hand auf die seine. Sie lächelte mitfühlend, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sie fand keine Worte für das, was sie empfand und er verstand sie auch so. Aufmunternd tätschelte er ihren Unterarm.

„Wir müssen Torbjörn Bescheid geben und uns allmählich schlafen legen. Sonst sind wir beide die nächsten Patienten.“

Er richtete Geertjes Unterröcke und deckte sie zu, dann kletterte er aus dem Wagen. Den zugeknoteten Lappen nahm er mit. Julie beeilte sich, ihm zu folgen und nahm seine Tasche an sich.

Torbjörn musste die ganze Zeit über zwischen den Wagen hin und her gelaufen sein, denn er kam von rechter Seite angestürmt, als er Doktor Retzner erblickte. „Endlich! Das hat ja ewig gedauert!“

Die meisten Lagerfeuer waren mittlerweile vollständig heruntergebrannt und Hardy konnte das Gesicht des jungen Norwegers nicht erkennen.

„Tut mir leid, schneller ging es nicht.“ Er wartete, bis Julie neben ihm stand, ehe er fortfuhr: „Ihre Frau hat das Kind leider verloren.“

Eine lange Minute herrschte Stille. „Das Kind?“, wiederholte Torbjörn verblüfft. Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung davon gehabt hatte. „Sie...Sie meinen...“

„Ja“, entgegnete Hardy bedacht. „Es liegt noch drinnen, im Wagen. Ich denke, Sie werden es sicherlich morgen früh beerdigen wollen.“

„Hmm“, machte der junge Mann hilflos und biss sich auf die Lippen. „Was...was ist mit Geertje?“

Der junge Arzt musste sich einen Ruck geben. „Das werden die nächsten Stunden zeigen“, gab er ehrlich zu. „Sie wird bald wieder zu sich kommen. Passen Sie genau auf, ob Sie irgendwelche Veränderungen an ihr bemerken. Und sollte sie Blutungen oder Fieber bekommen, holen Sie mich sofort, ganz gleich um welche Uhrzeit, verstanden?“

Torbjörn nickte stumm. „Darf ich jetzt zu ihr?“

„Natürlich. Gute Nacht.

„Gute Nacht, Doktor und vielen Dank.“ Der junge Norweger kletterte in seinen Wagen und ließ Hardy und Julie allein zurück.

„Wie spät es wohl sein mag?“, fragte Julie leise und gähnte.

Hardy lächelte. „Gehen Sie schlafen, Julie-Mädchen. Es ist spät und ich weiß nicht, ob wir nicht in ein paar Stunden wieder gebraucht werden.“ Er deutete auf den seltsam anmutenden Beutel in seiner Hand. „Ich muss das vergraben. Nicht, dass noch Wölfe oder andere Tiere das Blut riechen.“

Er ging davon, um einen Spaten zu holen und ließ Julie allein zurück mit ihrer Verwirrung und den tausend Fragen, die sie beschäftigten.

Der nächste Morgen brach schneller herein als erwartet und weder Hardy, noch Julie fühlten sich ausgesprochen wohl in ihrer Haut. Sie waren müde und erschöpft von den Geschehnissen, über die Friedrich sogleich unterrichtet wurde. Geertje hatte die Nacht gut überstanden. Es waren keine Blutungen aufgetreten und auch kein Fieber und obwohl sie noch sehr schwach und blass war, konnte Hardy doch guten Gewissens behaupten, dass sie es vermutlich schaffen würde.

Zwei Männer halfen Torbjörn beim Ausheben des kleinen Grabes und noch am frühen Vormittag fand die Beerdigung für das kleine Mädchen statt, das nicht einmal ein halbes Jahr alt geworden war und nie das Licht dieser Welt hatte erblicken dürfen. Geertje wollte dabei sein, doch Doktor Retzner erlaubte es nicht.

„Sie müssen eine Woche lang im Wagen liegenbleiben, haben Sie mich verstanden?“

„Aber, Doktor...“, wollte die junge Frau protestieren, doch Hardy ließ sie nicht aussprechen: „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist und wenn Sie jemals Ihre neue Heimat zu sehen bekommen wollen, dann tun Sie, was ich Ihnen sage!“

Seine eindringlichen Worte zeigten Wirkung und Geertje blieb mit Julie im Wagen zurück, wo sie haltlos weinte. Hilflos saß Julie neben ihr und streichelte ihren Rücken, während Geertje von lautem Schluchzen geschüttelt wurde. Sie fühlte tiefes Mitleid mit der jungen Frau, doch konnte sie ihren Kummer nicht wirklich nachvollziehen. Sie erschrak ein wenig über dieser Erkenntnis. Hatte ihr Vater sie nicht Zeit ihres Lebens gelehrt, dass es nichts Wertvolleres gab, als das Leben selbst?

Nein, sie konnte es nicht, denn in ihrer Vorstellung wollte sie nicht zulassen, dass der Tod etwas Endgültiges, etwas alles Beendendes war. Es musste noch mehr geben, was danach kam, ein neues Leben vielleicht oder ein Dasein als Engel – irgendetwas! Julie senkte den Kopf und schloss die Augen. Nein, ihrem Vater durfte sie davon nichts anvertrauen. Es gab überhaupt niemanden, der ihre Überlegungen diesbezüglich hätte begreifen können, niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte und der sie vielleicht verstand.

Vielleicht, dachte sie, bin ich ein törichtes, dummes Mädchen, ohne Verstand und Benehmen. Wahrscheinlich bin ich genau das.

Die Tage zogen dahin, ohne, dass jemand es bewusst wahrnahm. Sonnenuntergang und Tagesanbruch schienen sich so schnell abzuwechseln, dass sie darüber aufhörten zu zählen, wieviele seit dem Aufbruch aus St. Louis mittlerweile hinter ihnen lagen. Bei Tage ging es ohne Unterlass durch rauhes, felsiges Land, mit all seinen unergründlichen Weiten und den unbekannten Gefahren, wie giftige Schlangen und Kojoten. Schließlich erreichten sie einen reißenden Fluss, der ungeheure Kräfte besaß und der von einem See zu einem anderen führte, wie Charlie ihnen erklärte. Sie folgten ihm ein gutes Stück in südlicher Richtung, bis in ebeneres Grasland und er sich dort in ein flaches, fast zahmes Wasser verwandelte. An einer besonders ruhigen Stelle konnten Menschen, Tiere und Wagen ungefährdet ans gegenüberliegende Ufer gelangen, wo ihr Treckführer bestimmte, dass das Lager für die kommende Nacht aufgeschlagen wurde. In zwei Tagen, so seine Einschätzung, würden sie Fort Gibson erreicht haben.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Julie, als sie den finsteren Blick Hardy Retzners nach der Verkündung dieser Nachricht bemerkte.

„Nein“, log dieser hastig. „Alles in Ordnung! Alles okay, wie wir jetzt sagen müssen, nicht wahr?“

Es klang ironisch und Julie zog es vor, den Mund zu halten und ihrer Mutter bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen, wie es ihre Pflicht war. Friedrich hatte sich in ein Gespräch mit einem der anderen Siedler vertieft und so blieben Hugh und Hardy alleine am Wagen zurück, um den Maultieren den Schweiß von den Leibern zu waschen, nach ihren Hufen zu sehen und sie an den Fluss zum Tränken zu führen.

Die Striche, mit denen Doktor Retzner dem dunkelbraunen, kräftigen Tier mit dem alten Fetzen Stoff über das Fell fuhr, wurden mit jeder Minute wütender, bis Hugh es schließlich nicht länger aushielt: „Wenn Sie es meiner Schwester schon nicht anvertrauen wollen – das Vieh kann wohl kaum etwas für Ihre Laune!“

Ein wenig beschämt senkte der junge Arzt den Kopf und hielt inne.

„Nein“, murmelte er undeutlich. „Sie haben ganz recht, tut mir leid. Das Tier trifft nun wirklich die wenigste Schuld.“

„Wen dann?“ Hugh wollte nicht aufgeben. Ihn interessierte, was ihren Begleiter so sehr beschäftigte. Ihm war schon seit Tagen die Veränderung an dem Österreicher aufgefallen, die immer deutlicher zum Vorschein kam. Hardy hob die Schultern. Sein Blick hing starr irgendwo an einem unbestimmten Punkt am vom Wolken verhangenen Abendhimmel.

„Ich frage mich, weshalb noch keine Indianer versucht haben, uns aufzuhalten.“

Verständnislos runzelte Hugh die Stirn. „Glauben Sie denn im Ernst, das würden sie tun? Ich meine, was könnten die schon ausrichten?“

Kritisch blickte Hardy ihn an. „Wir sind bloß etwa siebzig Leute, die meisten davon Frauen und Kinder, gegen einen Stamm von Wilden, der womöglich ein paar hundert geübte Krieger zählt und wir befinden uns in einem Gebiet, das nicht uns, sondern denen gehört! Wir haben kein Recht, uns hier breitzumachen, einfach irgendeine Siedlung zu errichten! Das Land gehört nicht uns! Die Regierung hat es den Indianern zugesprochen!“

„Hmm“, machte Hugh nachdenklich. „Aber doch nur vorerst gehört es noch ihnen! Wenn die Verhandlungen durch sind, wird das alles anders! Vater meint, wenn wir uns eine Parzelle abstecken, dann...“

„Dann!“, unterbrach Hardy ihn ungehalten. „Dann hat er sich etwas genommen, was ihm nicht zusteht! Er hat gestohlen! Selbst diese ganzen Soldaten in diesem Fort können uns nicht zu dem machen, was wir von jetzt an nie wieder sein werden – nämlich ehrenhafte Bürger dieses Landes! Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, die wir von weit hergekommen sind, um ein besseres Leben zu führen! Ist es das, was wir alle wollten? Uns ein Stück Land rauben von diesem Volk, das lange vor uns hier gewesen ist und das jedes Recht besitzt, diese Ebenen bis aufs letzte Blut zu verteidigen?! Sag schon, ist es das, was wir wollten?!“

Hugh schluckte und senkte den Kopf. Schlagartig begriff er, wovon Hardy Retzner sprach. In dieser Sekunde wurde dem jungen Mann bewusst, dass nicht einmal sein Vater unfehlbar war – und diese Erkenntnis traf ihn hart, härter, als er es im Augenblick ertragen konnte.

„Von dieser Seite habe ich das Ganze noch nie betrachtet.“

„Schau“, sagte der österreichische Arzt, sehr viel sanfter als zuvor. „Wir reden immer nur von ‚diesen Indianern‘, als seien sie ein Stück Vieh. Dabei wissen wir noch nicht einmal, wie sie aussehen! Vielleicht erkennen wir sie noch nicht einmal, wenn sie vor uns stehen, aber wir rauben ihnen ihr Land und erwarten dann noch, freundlich von ihnen empfangen zu werden! Hugh, alle hier scheinen zu denken, dass die Indianer nichts weiter sind, als irgendein dummes Volk von ungesitteten, ungezähmten Wilden! Vielleicht sind sie das bis zu einem bestimmten Grad, ich kann es nicht beurteilen, denn ich kenne sie nicht und ich habe mir bisher offengestanden herzlich wenig Mühe gegeben, mich mit ihrer Kulter auseinanderzusetzen. Ich kann nur von dem erzählen, was ich über ihre Plünderungen und Morde in den Zeitungen gelesen habe und das war alles andere als erbauend. Ich lege jedenfalls bestimmt keinen großen Wert darauf, einem von ihnen gegenüberzustehen, aber wenn wir nicht umkehren, wird sich ein Zusammenstoß kaum noch vermeiden lassen!“

„Vielleicht“, begann Hugh zögernd, „lassen sie uns in Ruhe hier siedeln.“

„Vielleicht“, gab Hardy resigniert zurück und fuhr fort, das Muli trockenzureiben. „Vielleicht werden sie uns vorerst in Frieden lassen, weil ihre Häuptlinge mit Washington verhandeln wollen, aber selbst, wenn das der Grund sein sollte, traue ich diesem Frieden nicht!“

Der merkwürdig fragende Blick von Hubert entging ihm nicht. Er stand noch immer regunglos am selben Fleck, hantierte mit dem Lappen herum, den er noch eine Minute zuvor dazu benutzt hatte, um Otto, das andere Muli, zu putzen. Hardy Retzner runzelte die Stirn, während er in den Himmel hinaufstarrte.

„Ich kann einfach nicht anders. Für mich ist diese ganze Prozedur nicht richtig. Vielleicht kann es nicht aufgehalten werden, vielleicht erkennt Mister Charlie das ganz richtig und eines Tages werden keine Indianer mehr übrig sein – ausgerottet, wie manche Tierart das heute schon ist. Aber hast du dich jemals gefragt, warum es soweit kommt? Wir sind mit ein Grund dafür, nur ein kleiner, aber wir sind einer. Wir drängen uns in dieses Land und womöglich in hundert Jahren oder schon früher wird eine ehrliche, gebildete Generation auf den Bergketten stehen und das Land unter sich betrachten – weit und grün und fruchtbar. Wenn die letzten Spuren ihrer einstigen Bewohner längst mit dem Präriewind davongeweht sind und sie sagen: ‚Schau, das hier waren einst die Jagdgründe des Roten Mannes und sie sind gleichzeitig sein Grab geworden.’ Nun ja, du weißt, ich zweifle ernsthaft, dass dies jemals so passieren wird. Die Menschheit ist zu raffgierig für solcherart Erkenntnisse...“

Ruckartig wandte er sich ab. Er warf den Stofffetzen zornig neben den Wagen und stapfte davon, hinaus in die nächtliche Prärie und in die Dunkelheit. Seine Worte ließen Hugh mit einer Gänsehaut zurück und dem betäubenden Schlag der Feststellung, dass er dumm und ungebildet war und dass es an ihm ganz alleine lag, seinen Horizont zu erweitern. Nie hatte er mehr Ehrfurcht, Respekt und Anerkennung für einen anderen Menschen empfunden als in dieser Sekunde für Hardy Retzner.

Sie erreichten Fort Gibson zwei Tage später. Es war quadratisch, aus niedrigen Holzhäusern gebaut, umgeben von einer Mauer aus Baumstämmen und wesentlich kleiner, als sie erwartet hatten. Es stand auf einer kleinen Anhöhe zwischen Mischwald und Prärie, drei Meilen flussaufwärts der Stelle, wo der Arkansas, Grand und Verdigris River ineinander übergingen. Ein einziger Weg führte zwischen den Bäumen hindurch und über die Ebene bis zum Fort hinauf. Die beiden Wachtürme waren besetzt und einer der Soldaten schrie herunter, was sie wollten. Charlie hob seinen Arm und rief etwas zurück. Keine fünf Minuten später öffnete sich das Tor und ein großer, schlanker Mann mit dunklem Vollbart trat energischen Schrittes auf sie zu. Ihm folgten vier Soldaten, jeder mit einem Revolver im Holster um die Hüften. Seine Augen glitten abschätzend über die Gruppe von Siedlern hinweg. Dann wandte er sich dem Mann auf dem Rapphengst zu.

„Schon wieder welche? Hab ich dir nicht das letzte Mal schon gesagt, dass...“

„Ja, ja!“, unterbrach Charlie ihn eilig. „Sie kennen meine Ansicht, Captain! Was ist übrigens aus dem vorigen Treck geworden?“

„Oh, die sind auf die andere Seite des Arkansas gewechselt. Ich weiß nicht, was sie inzwischen machen. Habe nichts mehr von ihnen gehört“, lautete die knappe Antwort. Mit drei, vier großen Schritten trat er auf die Siedler zu. „Nun gut, jetzt sind Sie alle einmal hier!“ Er wartete auf eine Reaktion, doch alle schwiegen gespannt und gleichzeitig ein wenig ängstlich, was nun mit ihnen geschehen würde. „Dies hier ist offiziell noch immer Indianerland, auch wenn keiner sagen kann, wie lange noch! Sie haben deshalb kein Recht, sich darauf niederzulassen! Das Heimstättengesetz gilt hier nicht! Sie betreten dieses Land widerrechtlich! Ich hoffe sehr, Sie sind sich dessen bewusst! Das Problem ist, ich habe strikte Order, jeden davonzujagen, der versuchen sollte, hier einzudringen und jede Art von Ansiedlung sofort zu unterbinden!“

„Ach, kommen Sie schon!“, ächzte Charlie, die Augen verdrehend. „Sie wissen, das sind nicht die ersten...“

„Das ist mir vollkommen klar!“, unterbrach der Captain ihn scharf. „Und genau das ist der Punkt! Ich bin mir durchaus der ganzen Entwicklung bewusst, die unter Captain Paynes Leitung stattgefunden hat! Und ich weiß auch, dass niemand abschätzen kann, wieviele solcher Wagentrecks er hierher gebracht hat und ihnen gestattet hat, sich hier niederzulassen. Und ja, es gibt auch Rinderfarmen weiter nördlich, auf dem Gebiet des Indianerterritoriums! Trotzdem gibt es Ihnen nicht das Recht zu bleiben!“

„Genau das, was ich schon die ganze Zeit sage“, raunte Hardy Retzer mit einem Hauch grimmigen Triumphes.

„Ich habe keinen von Ihnen und Ihren Leuten jemals gesehen!“, brüllte der Captain jetzt, ihrem Führer einen finsteren Blick zuwerfend. „Bring sie weg und sieh zu, dass sie sich in der Nähe der Grenze zu Arkansas aufhalten!“

„Jawohl, Sir!“ Charlie grinste zufrieden. „Ich mache, was immer Sie sagen, Captain!“

Das ausbrechende Freudengeschrei wurde durch eine abrupte Armbewegung des Kavalleriemannes im Keim erstickt. „Es kann ständig zu Indianerüberfällen kommen! Bereiten Sie sich lieber darauf vor und suchen Sie sich einen fähigen Mann aus, dem Sie den Sheriffstern ans Hemd pinnen! Diese Wilden haben uns nicht gerade viel Freude bereitet im letzten Jahr! Also, machen Sie sich keine falschen Illusionen!“

„Aber das Land gehört doch der Regierung, oder etwa nicht?“, schallte eine männliche Stimme hinter einem der Wagen hervor.

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9783742769848
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