Читать книгу: «Die Brücke zur Sonne», страница 3

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Seine Begeisterung hatte einen gehörigen Dämpfer und sein Mut einen gewaltigen Rückschlag erlitten. In weitem Abstand folgte er seiner Familie zurück zum Wagen. Seine zuvor zumindest im Ansatz noch vorhandene Hoffnung, Rachel könnte sich vielleicht mit den Gegebenheiten abfinden, schwand mit jedem seiner Schritte und er ärgerte sich darüber. Die Minute der Wahrheit rückte unaufhaltsam näher und schon jetzt graute ihm vor dem, was ihm in Kürze bevorstand. Wortlos stiegen sie wieder in den schwarzen Jeep.

„Jetzt fahr endlich zu unserem neuen Haus“, kommandierte seine Frau unwirsch. „Du bist vielleicht noch als einziger bei Laune, beim Anblick deiner zur Wirklichkeit gewordenen Kinoträume!“

Mit einem tiefen Seufzer startete Matthew den Motor. Absichtlich langsam fuhr er die Teerstraße weiter hinab zum östlichen Ende Silvertowns. Sie ließen den Ort hinter sich und folgten der einspurigen Landstraße, immer weiter in die endlose Ebene hinaus. Etwa fünf Minuten später bremste Matt unvermittelt ab und bog nach rechts in einen für Unwissende kaum erkennbaren Feldweg ein.

Irritiert starrte Rachel ihn an. „Würdest du vielleicht die Güte besitzen und uns verraten, wohin du uns entführst?“

„Vielleicht bringt er uns in eine Höhle, irgendwo da draußen in der Wildnis!“, unkte Patty von hinten und wurde im selben Moment unsanft zur Seite geschleudert, als der Jeep ein Schlagloch erwischte.

„Nun…der Weg führt zu unserem Haus.“ Wie von einer großen Last befreit, atmete Matt tief durch – es war endlich ausgesprochen.

Der Wagen rumpelte über den regendurchweichten, unebenen Boden, der an einigen Stellen mit rauen Steinen übersät war, wodurch die Radfederung strapaziert und die Insassen gehörig durchgerüttelt wurden.

„Zu unserem Haus?“, wiederholte Rachel mit eigenartigem, ungläubigem Gesichtsausdruck. Sie verstand noch immer nicht recht.

„Es hat früher einem Siedlerehepaar gehört“, erklärte Matthew schnell, um sie nicht weiter zu Wort kommen zu lassen. „Als sie verstarben, kaufte die Stadt das Haus. Nun stand es geschlagene fünfzehn Jahre leer und entsprechend sieht es von außen natürlich aus. Das soll dich aber nicht irritieren! Wir müssen noch ein wenig an Reparaturkosten investieren, aber bis auf das Dach werden sie sich in Grenzen halten. Natürlich habe ich auch die alten Möbel rausgeworfen und neue gekauft. Sie sind auch schon geliefert worden und auf die richtigen Zimmer verteilt. Es wird euch gefallen – bestimmt!“ Ein schlechter Lügner bist du, Doktor van Haren.

„Siedlerehepaar!“, echote Patty empört von der Rücksitzbank. „Das mag ja vielleicht das richtige für Jean sein, aber wie kannst du mir so etwas zumuten?! Ein Haus, in dem womöglich schon die Spinnweben von den Decken fallen oder der Boden durchbricht, wenn ich mich traue, das obere Stockwerk zu betreten! Hoffentlich hat es wenigstens einen Swimmingpool. Bei der Hitze, die hier wohl im Sommer herrscht, ist das ja das Mindeste!“

Matthew musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen. Wenn seine kleine Tochter doch nur eine blasse Ahnung von dem Leben hier draußen, weit weg von jeder größeren Metropole hätte! Aber sie besaß leider ausschließlich Ahnung von den aktuellen Modetrends und den neuesten Meldungen aus den gehobenen Londoner Kreisen – ganz ähnlich seiner Frau. Sie waren sich einfach sehr ähnlich, für seinen Geschmack zu ähnlich.

Der Weg führte über einen Hügel, von dessen Kuppe aus die Sicht weit über das dahinterliegende Land reichte. Außer vereinzelten, kleinen Wäldchen und Sträuchern schien bis zum weit entfernten Horizont nichts mehr zu kommen, nur noch Präriegras.

„Wo soll denn hier ein Haus sein?“ Verwirrt blickte Jean sich nach allen Seiten um. „Ich sehe keins!“

„Aber ich…“ Rachels Gesicht hatte sich verfinstert. Ihr zorniger Blick wanderte zuerst zu der runden Ansammlung Sträucher, niedriger Tannen und Gestrüpp, in dessen Mitte die Spitze eines kleinen Windrads herausragte und dann zu ihrem Mann. Vorsichtig legte dieser den zweiten Gang ein und ließ den Jeep den sanften Hügel auf der anderen Seite hinabrollen.

„Ich hätte es wissen müssen!“ Unbeherrscht bearbeitete Rachel die Ablage hinter der Frontscheibe mit den Fäusten. „So eine Entscheidung darf man dich nicht alleine treffen lassen! Es kommt nur Blödsinn dabei heraus! Ich hätte dich gar nicht erst alleine hierher kommen lassen dürfen!“

Der unkenntlich gewordene, von Präriegras überwucherte Pfad bog scharf links ab, wo sich eine schmale Lücke zwischen den Sträuchern auftat.

„Ist das nicht eine unglaubliche Lage?“, rief Matt, sichtlich begeistert und strahlte über das ganze Gesicht. Er stellte den Motor ab. „Das ist es! Was sagt ihr?“

Zunächst geschah überhaupt nichts. Rachel und Patty beäugten wortlos und schockiert zugleich die einfache, kleine Holzhütte zu ihrer Linken und den halbverfallenen, alten Schuppen daneben. Direkt rechts von ihnen stand ein rostiges Eisengestänge, an dessen oberster Spitze ein schmutzig-weiß gestrichenes Windrad befestigt war, dessen Flügel sich quietschend und scheppernd im flauen Spätnachmittagswind drehten. Die Jahre und die Witterung hatten das Holz des Hauses dunkel und spröde werden lassen und es schien, als könnte es seine weit zurückreichenden Erinnerungen mit tiefer, sanfter Stimme erzählen. Das vergilbte Bild einer längst vergangenen Zeit schwebte über seinem steinernen Schornstein und die Spuren seiner früheren Bewohner und Erbauer schienen, wie von Geisterhand, eben erst verwischt worden zu sein.

Der runde, sandbedeckte Platz, der geschützt zwischen den wuchernden Sträuchern und Tannen lag, maß etwa fünfhundert Meter im Durchmesser. Zwischen Haus und Schuppen befand sich ein kleiner, mit Unkraut zersetzter Garten, dessen halbvermoderter und an allen vier Seiten eingefallener Holzzaun darauf wartete, erneuert zu werden. Das über zwei Meter hohe Gestrüpp, das die Grundstücksgrenze markierte, wuchs so dicht und zahlreich, dass von außen niemand hindurchsehen, geschweige denn, an anderer Stelle als der Einfahrt hineingelangen konnte.

Als Matt mit einem Mal die klappernde Autotüre aufdrückte und ausstieg, schrak Rachel aus ihrer Erstarrung hoch. Von einer Sekunde auf die nächste verwandelte sich ihre Sprachlosigkeit in überschäumenden Zorn. Eilig kletterte sie aus dem Jeep und lief ihrem Mann hinterher, der in Richtung Hütte zu verschwinden drohte.

„Von wem hast du dir dieses Ding da andrehen lassen? Siedlerhütte! Dass ich nicht lache! Eine Bruchbude ist das – mehr nicht!“ Sie stieg hinter ihm die beiden Stufen unter die offene, überdachte Veranda hinauf. In der Mitte der Längsseite befand sich die Haustüre, während rechts und links in selbem Abstand je zwei Fenster angebracht waren. Im hellen Sonnenlicht spiegelte sich der graue Staub auf den Scheiben und im völligen Gegensatz dazu stachen die neuen Vorhänge in zartem Gelb dahinter hervor.

„Sieh es dir doch erstmal von innen an“, bat Matt, wobei er versuchte, sachlich zu klingen. Er steckte einen verrosteten Schlüssel in das untauglich aussehende Schloss – die einfache Holztüre schwang, leise in ihren Angeln quietschend, auf.

„Aha!“, machte Rachel. „Einbrecher brauchen also nur anzuklopfen – dann öffnen sich ihnen unsere hier untergebrachten Reichtümer von selbst!“

„Na ja…das...das werde ich reparieren lassen“, stammelte Matt verlegen. Wenn er sich richtig entsinnen konnte, hatte er das Schloss bei seinem Besuch vor einem halben Jahr tatsächlich nicht getestet, sondern die Türe nur jedesmal zugezogen. Wie leichtsinnig er doch bisweilen sein konnte, wenn seine Gedanken wieder völlig woanders umherschwirrten und sich nicht auf das konzentrierten, was er gerade eben tat. Seltsam, dass ihm so etwas nur zu Hause passierte und nie in der Klinik.

„Oh, mein Gott!“ Patty und Jean waren einige Meter neben dem Wagen stehengeblieben, um sich nach allen Seiten umzuschauen.

„Glaubst du, es gibt hier giftige Schlangen oder so etwas?“, fragte Jean, während ihr Blick an dem Windrad hängenblieb, das sie irgendwie faszinierte.

„Pff!“, stieß ihre kleine Schwester hervor. Sie war damit beschäftigt, ihr schickes, rot-geblümtes Kleid vom Staub der Fahrt zu befreien. „Und selbst, wenn! Du wirst dich doch sicherlich bald den Eingeborenen angeschlossen haben und dann weißt du dich zu wehren!“

Jean schnappte beleidigt nach Luft und setzte zu einer Erwiderung an, doch ihre Schwester tippelte bereits auf Zehenspitzen über den Hof, in Richtung des alten Hauses, in dem ihre Eltern verschwunden waren. Eigentlich war es auch gleichgültig, ob sie etwas erwiderte – Patty hielt sich ohnehin für den Nabel der Welt und keine Aussage ihrer Schwester für beachtenswert. Jean seufzte trübsinnig. Wie das wohl werden sollte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, hier draußen, im Nichts, nur umgeben von Natur und völlig ohne den gewohnten Tumult des Großstadtlebens?

Das Erdgeschoß bestand aus drei Räumen: Dem Wohnzimmer, einem kleinen Schlafzimmer daneben und im hinteren Teil die Küche. Rechterhand, vor dem großen, steinernen Kamin, führte eine schmale, zwei Mal im rechten Winkel abknickende Treppe ins Obergeschoß hinauf.

„Die Möbel sind ganz neu“, erklärte Matthew noch einmal, nur um irgendetwas zu sagen und um seiner Frau zumindest einen positiven Punkt nennen zu können. „Und ich habe extra eine Innenarchitektin engagiert, die alles neu streichen hat lassen in den Farben, die im Moment gefragt sind und so weiter und so weiter. Natürlich ist jetzt alles nach den paar Monaten ein wenig eingestaubt…“ Sein Zeigefinger glitt über die Platte des Esstischs unter den Fenstern neben der Hautür und hinterließ einen schmalen Streifen in der dicken Schmutzschicht.

„Du wolltest sagen“, vollendete Rachel herausfordernd, „dass ich das schon alles sauber machen werde!“ Ihr Unmut flammte erneut auf. „Matthew Cleavon van Haren!“ Sie sprach ihn immer nur dann mit vollem Namen an, wenn sie ihren Zorn kaum noch beherrschen konnte. „Du erwartest von mir – von mir! – dass ich nicht nur hier wohnen soll, hier, in dieser ekelerregenden, widerlichen Bruchbude, in der ich nicht weiß, wo überall die Parasiten und Flöhe zu finden sind! Nein! Du gehst auch noch, wie selbstverständlich, davon aus, dass ich die Hausfrau für dich spielen werde!“ Wütend schlug sie mit der Faust auf die Lehne des dunkelroten Ledersofas, das vor dem Kamin stand. „Mein ganzes Leben lang hat niemand etwas Derartiges von mir verlangt und ich werde hier und heute mit Sicherheit nicht damit anfangen! Ich bestehe darauf, dass wir diesen grauenhaften Ort auf der Stelle verlassen! In Summersdale gibt es ganz sicher ein entsprechendes Haus, das meinem Status gerecht wird!“ Sie wirbelte auf dem Absatz herum und wollte zur offenstehenden Haustüre hinausstürmen. Stattdessen rannte sie jedoch mit Patty zusammen, die dort stehengeblieben war.

„Komm!“ Unsanft packte sie ihre Tochter am Arm. „Wir fahren!“

„Wohin denn jetzt schon wieder?“ Entnervt wanderte Pattys Blick von Rachel zu ihrem Vater und wieder zurück. Sie kannte die regelmäßigen Streitereien zwischen ihren Eltern nur zu gut und meistens fielen sie ihr schon gar nicht mehr groß auf.

„Patty hat recht“, stimmte Matthew mit einer erschöpften Handbewegung zu. „Wir bleiben hier! Ich habe dieses Haus für uns ausgesucht und deshalb werden wir hier auch wohnen! Außerdem meinte die Architektin, dass die Bausubstanz noch sehr gut sei! Also, mach’ dir bitte keine Sorgen bezüglich deiner Sicherheit!“ Er trat mit dem Fuß gegen die alte Holztüre, sodass sie in ihr rostiges Schloss donnerte.

„Vorsicht!“, mahnte Rachel sarkastisch. „Sonst fällt dieses Brett noch im Rahmen auseinander!“

Resigniert ließ Patty sich auf das Sofa vor dem Kamin fallen. Sie verdrehte die Augen.

„Ich will nicht mehr!“ Vielleicht half es, wenn sie nur laut genug jammerte. „Mir tut alles weh von dieser ausgedienten Seifenkiste namens Auto und der schrecklichen Holperei hierher! Ich bin müde und ich habe Kopfschmerzen!“

„In Summersdale gibt es bestimmt ein schönes Hotel, wo du dich erholen kannst“, versicherte Rachel eilig und legte ihrer jüngeren Tochter die Hände auf die Schultern.

„Ich fange schon mal an, die Koffer auszuladen!“, rief Matt, bereits nach draußen laufend, wo er seine zweite Tochter vorfand, die sich auf eine der Stufen vor der Veranda gesetzt hatte und ihn abwartend anschaute. Jean schien wenig Lust zu verspüren, sich in den Familienzwist einzumischen.

Mit einem entrüsteten Aufschrei rannte Rachel ihm hinterdrein. „Die Mühe kannst du dir sparen!“ Sie erwischte gerade noch den Griff ihrer Reisetasche, die Matthew aus dem Kofferraum heben wollte.

„Unser Schlafzimmer befindet sich gleich oben rechts“, erwiderte er, ohne sie anzusehen und entriss ihr die Tasche. „Links ist das Bad und geradeaus noch ein Schlafzimmer. Hier.“ Er drückte seiner Frau den nächsten Koffer in die Hand.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Wütend ließ Rachel die Gepäckstücke auf die Erde fallen.

„Dein Mann“, antwortete Matt mit überlegener Ruhe und sah ihr dabei fest in die zornig blitzenden, grauen Augen.

Niemand zwingt mich, hierzubleiben, auch du nicht!“

„Schön, dann geh!“ Matt deutete auf die Lücke zwischen den Büschen und zur Prärie hinaus. „Wenn du ein gutes Tempo vorlegst, kannst du wieder in Silvertown sein, bevor es dunkel wird.“

Einen Moment herrschte Schweigen und knisternd, wie Strom geladene Luft, hingen die ungehaltenen Emotionen zwischen ihnen. Rachel überlegte fieberhaft.

„Ein Jahr ist doch keine Ewigkeit und wir können auch noch anbauen, wenn dir das alles zu eng ist und von mir aus auch nochmal alles komplett sanieren! Das spielt doch keine Rolle. Geld spielt in unserem Leben doch niemals eine Rolle…“

„In Ordnung“, lenkte Rachel plötzlich ein und lächelte leicht gequält.

Völlig perplex hielt Matthew in seiner Bewegung inne. „Bitte?!“ Er hatte mit einem nie wieder endenden Streit, einem großen Zerwürfnis, womöglich Scheidung gerechnet.

„Ich sagte, für heute bleibe ich! Ich habe keine Lust zu laufen! Schon gar nicht durch diese Gegend, in der ich mich nur verirren kann und wo mich am Ende noch ein Berglöwe zum Abendessen vernascht!“

„Oho!“

„Bilde dir nichts darauf ein!“, erteilte Rachel seiner aufsteigenden Freude einen unsanften Dämpfer. „Ich bleibe nur unter mehreren Bedingungen: Erstens, ich kaufe mir ein eigenes Auto und zweitens: Wir stellen eine Haushälterin ein und zwar morgen! Abgesehen davon werde ich einen Architekten suchen, der aus diesem…diesem Ding da vielleicht etwas zaubern kann!“

„Von mir aus.“ Zufrieden setzte Matthew seine Arbeit, das Gepäck auszuladen, fort. „Aber wirf dein teuer geerbtes Geld nicht unnötig zum Fenster hinaus – für ein Jahr rentiert es sich kaum, wenn du dir einen Swimmingpool bauen lässt!“

Währenddessen saß Patty noch immer auf dem kalten Ledersofa und starrte regungslos vor sich hin. Ihr war sterbenselend zumute und am liebsten wäre sie auf der Stelle tot umgefallen. Ihr Kopf dröhnte und sie war zu müde, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können. Ihre Augen betrachteten den kleinen Wohnraum. Direkt vor ihr befand sich der in die Wand eingearbeitete, aus groben Steinen errichtete Kamin und darüber hing, an zwei dicken Nägeln, ein verbogenes, untaugliches Winchester-Gewehr. Die dunkle, mit kalter Asche gefüllte Kaminöffnung widerte sie an und sie spürte schreckliches Heimweh in sich aufsteigen. Sie sehnte sich nach ihrem großen, rosa-weiß tapezierten Zimmer mit dem flauschigen Himmelbett und dem angrenzenden, beinahe ebenso großen Bad. Dann gab es da noch den begehbaren Kleiderschrank, der immer gut bestückt war mit neuen, schicken Kleidern der Saison, von denen sie bisweilen auch welche besaß, die sie überhaupt nie trug. Es handelte sich jedoch um ausgefallene, schicke Einzelanfertigungen und nur das zählte. Jetzt hing ein Großteil von ihnen noch immer dort, unberührt und unbenutzt, weil sie nicht alle hatte mitnehmen können. Das mit Efeu eingerankte Schulgebäude erschien vor ihren Augen und sie dachte an die Geburtstagsparty, die sie vor drei Tagen versäumt hatte. Ein Jahr, ein ganzes, langes Jahr musst du es hier aushalten und jetzt auch noch diese Bruchbude! Eine unerträgliche Vorstellung! Lautlos sank Patty in sich zusammen. Sie stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.

Wenn ihr Vater doch wenigstens nicht so stur wäre und sie nach Summersdale, in ein Hotel gehen ließe, bis sie ein vernünftiges und angemessenes Haus gefunden hätten! Hoffentlich fand ihre Mutter einen Ausweg, sie hatte bisher immer einen gewusst. Beim Anblick der ausgetretenen, schiefen Holzbohlen des Fußbodens schauderte Patty. Sie hasste dieses Land und alles, was dazu gehörte, jetzt noch viel mehr als zuvor. Keinen Tag länger als irgendnötig würde sie hier verbringen, das schwor sie sich und wenn es darin endete, dass sie heimlich ausreißen und den nächsten Flieger zurück nach London nehmen musste!

„Ist dir nicht gut?“ Die Hand ihrer Schwester legte sich auf ihre Haare und zerzauste ihre Frisur. Unwirsch stieß Patty sie fort. Sie hörte, wie mit lauten Geräuschen die Koffer auf der Veranda vor dem Eingang abgestellt wurden.

„Alles bestens! Das siehst du doch!“

„Du brauchst es nicht an mir auszulassen! Ich kann auch nichts dafür! Außerdem…“ Jean lächelte. „Ich finde es hier richtig abenteuerlich!“

„Das denke ich mir, dass es dir hier gefällt! Du bist ja auch ein Trampel!“ Patty fuhr vom Sofa hoch. „Eins sag ich dir: Das Schlafzimmer oben nehme ich! Das da hinten kannst du haben – oben können wenigstens keine Wölfe und Bären einsteigen!“

Die Sonne war hinter den Hügeln und der fast dreißig Meilen entfernten, hoch in den Himmel ragenden Felsenwand im Westen untergegangen, während die Dämmerung schnell aus dem feuchten Gras herauf kroch.

Jean van Haren hatte das Deckenlicht in ihrem Schlafzimmer angeknipst. In den vergangenen sechs Stunden war sie damit beschäftigt gewesen, ihre Koffer auszupacken und es sich in dem Schlafzimmer hinter dem Wohnraum etwas gemütlich zu machen. In dem verhältnismäßig winzigen Raum am östlichen Ende der Holzhütte fanden gerade das Bett, ein Kleiderschrank, eine kurze Spiegelkommode, sowie ein Schreibtisch mit Stuhl Platz. Jean verzog das Gesicht, als sie sich prüfend auf das schmale Holzbett mit der erschreckend harten Matratze setzte. Natürlich war es völlig anders als ihr bisheriges Leben. Nichts erfüllte den Standard, den sie alle gewohnt waren, aber Jean störte das nicht im Geringsten. Inmitten dieser Wildnis und Abgeschiedenheit fühlte sie sich wie in einem Abenteuerfilm. Es war herrlich! Hier konnte sie in Ruhe Bücher aus der Bibliothek verschlingen, ohne, dass es jemandem auffallen würde. Sie lächelte und legte sich auf dem Bett zurück.

Sicherlich, auch sie vermisste den Komfort ihrer Villa in London, die Geschäftigkeit der Großstadt und die Selbstverständlichkeiten, die ihnen täglich zugute kamen. Dort hatte jeder von ihnen ein eigenes Badezimmer für sich besessen – hier mussten sie sich nun ein einziges teilen. Das konnte bei ihrer Mutter und ihrer Schwester ja heiter werden, nachdem jede schon allein mindestens eine halbe Stunde am Morgen darin verbrachte!

Vom Wohnraum herüber drangen die streitenden, lauten Stimmen ihrer Eltern durch ihre Zimmertür. Das junge Mädchen seufzte. Der Kampf war noch lange nicht ausgefochten, auch, wenn es zunächst den Anschein erweckt hatte. Rachel wusste jetzt, dass sie ihren eigenen Weg gehen musste, wollte sie das Bild ihrer heilen Welt und gut situierten Familie wahren, in der sie in Wahrheit zwar gar nicht lebten, aber die ihr des Rufes wegen so ungeheuer wichtig war. Vermutlich stritt sie genau deshalb soeben mit Matt und natürlich wegen dieser unzumutbaren Umstände, in die er sie gebracht hatte. Jean konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter länger als notwendig hier in der Hütte verweilen würde. Es passte auch gar nicht zu ihr, sich den Wünschen ihres Mannes unterzuordnen.

Müde fielen Jean ganz von selbst die Augenlider zu und sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht augenblicklich auf der flauschigen, weiß-geblümten Daunendecke einzuschlafen.

Ein eigenartig schepperndes, dröhnendes Poltern hallte mit einem Mal laut und eindringlich durch das Holzhaus. Erschrocken fuhr Jean hoch und es dauerte einige Sekunden, bevor sie erkannte, woher das merkwürdige Geräusch entsprang. Achtlos ließ sie die rosa Seidenbluse, die sie eigentlich zu den anderen Kleidungsstücken in den Schrank hatte hängen wollen, auf den Boden fallen. Mit wenigen Sprüngen erreichte sie die Tür und rannte neugierig in das angrenzende Wohnzimmer, wo die Haustür nun weit offenstand.

„Nett, dass Sie extra bei uns vorbeischauen!“, hörte sie die Stimme ihres Vaters soeben sagen, hörbar erfreut. „Kommen Sie doch herein.“

Jean blieb neben dem Kamin stehen. Im Hauseingang erblickte sie einen großen, kräftigen Mann. Er musste fast zwei Meter messen und sein Bauch besaß einen solch gewaltigen Umfang, dass in Jean sofort der Zweifel aufkam, ob er ohne Probleme durch den Türrahmen passen würde. Der dunkelgraue Anzug und der Binder wollten nicht recht zu seiner Erscheinung passen, was der lange, schwarze, an den Enden gezwirbelte Schnurrbart und die kurzgeschorenen Stoppelhaare nicht verbesserten. Er betrat polternd, in Cowboystiefeln, den Wohnraum und deutete eine galante Verbeugung an.

„Jean!“ Matthew winkte. „Komm einmal her!“

Nach kurzem Zögern folgte das Mädchen der Aufforderung ihres Vaters, den fremden Mann jedoch keine Sekunde aus den Augen lassend. Von Natur aus zurückhaltend, benötigte sie stets allen Mut, um auf fremde Menschen zuzugehen.

Das runde, breite Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, wobei der Bart schwungvoll nach oben kippte. „Ah, der Nachwuchs!“ Erfreut ergriff er ihre dünne Hand, die vollkommen zwischen seinen fleischigen, feuchten Fingern verschwand. „Stevie Bentley, Bürgermeister von Silvertown“, stellte er sich vor. „Im Namen aller Bürger unseres Bezirks heiße ich Sie auf das Herzlichste bei uns willkommen!“

„Vielen Dank!“, strahlte Matthew. „Mit so viel Aufmerksamkeit haben wir gar nicht gerechnet!“

„Sie werden noch mit mehr nicht rechnen“, lachte der Bürgermeister schallend. „Hoffentlich gefällt es Ihnen, sofern Sie überhaupt schon Zeit hatten, sich ein bisschen einzugewöhnen?“

„Oh, es ist großartig!“, versicherte Matt eifrig. „Die Landschaft ist nicht zu vergleichen mit dem, was wir aus London gewohnt sind!“

„Wir sind ja auch eines der meistbesuchten Gebiete Idahos“, erklärte Stevie Bentley mit stolzgeschwellter Brust.

„Dann habe ich mich ja richtig entschieden, für meine Frau und unsere beiden Töchter.“ Matt legte seinen Arm demonstrativ um Rachels Taille, die sich ein gezwungenes Lächeln abrang. „Apropos – wo steckt denn der Rest unserer Familie?“

Rachel nutzte die Gelegenheit, sich aus seiner Umarmung zu lösen und eilte zur Treppe. „Patty! Patty! Komm doch mal herunter!“

„Ich kann nicht!“ Die Antwort ertönte aus dem Badezimmer. „Ich mache mir gerade eine Maske!“

Rachel zuckte entschuldigend die Achseln. „Junge Mädchen! Sie hören es!“

Stevie Bentley winkte ab. „Nicht weiter schlimm! Ich lerne sie ja dann bald kennen!“

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Einladend deutete Matt auf die Couchgarnitur.

„Vielen Dank!“ Stevie Bentley lehnte ab. „Ich muss leider gleich weiter. Ich bin eigentlich nur gekommen, um Sie einzuladen!“

„Einladen?“, echote Rachel und es klang beinahe ein wenig entsetzt.

„Ein neuer Bewohner, besser gesagt, eine neue Familie, die sich bei uns niederlässt, braucht selbstverständlich einen entsprechenden Empfang“, klärte Stevie Bentley sie nun mit wichtigem Nicken auf, wobei sein Bart zu Jeans Belustigung im Takt mitwippte.

„Wirklich?“, entfuhr es Rachel gelangweilt.

„Natürlich, natürlich!“, versicherte der Bürgermeister prompt. Er schien den Tonfall ihrer Stimme völlig falsch zu deuten. „Sie müssen schließlich alle wichtigen Leute der Gegend und Ihre neuen Nachbarn kennenlernen! Das Begrüßungsfest für Sie findet morgen Abend ab sieben auf der Arkin Ranch statt!“ Er grinste breit. „Diese Überraschung wollte ich Ihnen unbedingt noch heute überbringen, damit Sie nicht anderweitig etwas planen. Aber kommen Sie schon etwas zeitiger hinüber, dann können wir uns in Ruhe noch ein wenig unterhalten, bevor sie von allen in Beschlag genommen werden!“

Das war eine unerwartete Ankündigung – selbst für Matthew. Er bedankte sich überschwenglich für die Einladung, die er selbstredend mehr als gerne annahm und brachte den Bürgermeister noch hinaus zu seinem Wagen, als dieser sich zum Gehen wandte.

Jean schaute ihnen durch die offene Haustüre nach, als sie ihre Mutter neben sich leise wispern hörte: „Manche Rufe haben ein ungeheuer gewaltiges Echo…“

Rachel warf den Kopf zurück, ihre grauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie murmelte einen unverständlichen Fluch und Jean war ganz froh, es nicht verstanden zu haben. Das war auch nicht nötig. Sie begriff sehr wohl, dass ihre Eltern sich über ihren Aufenthaltsort für das kommende Jahr noch längst nicht einig geworden waren. Es war eine vorübergehende, scheinheilige Kompromissbereitschaft von Seiten ihrer Mutter, um den perfekten Schein zu wahren, mehr nicht.

Die erste Nacht in der Blockhütte wollte nicht vorübergehen – und ohne Schlaf schienen die Minuten noch viel langsamer voranzuschreiten. Patty seufzte und warf zum mindestens fünfzigsten male einen Blick auf den Wecker: Gleich halb zwei Uhr. Die Federn der ungewohnt harten Matratze stachen ihr in den Rücken und durch das einen spaltbreit geöffnete Fenster trug der kalte Nachtwind das monotone Quietschen des sich drehenden Windrades herein.

Womit habe ich das verdient? Warum darf ich nicht zu Hause sein? Eine Träne der Wut und Verzweiflung rann über ihre Wange, in ihr dunkles, zerzaustes Haar. Immerhin lebten sie in einer modernen Zeit, wo auch vierzehnjährige Töchter schon mitreden und selbst Entscheidungen treffen durften! Sie gehörte hier nicht her, wollte auch gar nicht hier sein und sie tat sich selbst entsetzlich leid. Sie bekam immer ihren Willen, immer! Und jetzt musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Niederlage einstecken, die sie absolut nicht akzeptieren konnte.

Am nächsten Morgen marschierte Patty übel gelaunt und mit grimmigem Gesicht zum spartanischen Frühstückstisch hinab. Noch immer glaubte sie, das Quietschen des Windrades zu hören und sie konnte nicht genau sagen, welcher Teil ihres Körpers am meisten schmerzte. Zu allem Überdruss schien ihre große Schwester durchaus gute Laune zu haben, denn sie plapperte während des Frühstücks in einem fort und nur sinnloses Zeug. Danach verschwand sie auf eine Erkundungstour in der Wildnis. Patty lehnte es ab, sie zu begleiten. Niemand würde sie zwingen, plötzlich zu Fuß zu gehen und schon gar nicht in diese öde Landschaft hinaus! Was sollte sie dort schon Großartiges finden?

Den Vormittag nutzte sie stattdessen, um ihre restlichen Kleidungsstücke und persönlichen Gegenstände aus den Koffern zu räumen und im Schrank nach besten Möglichkeiten zu verstauen. Danach war ihr langweilig. Was sollte sie unternehmen hier draußen, weit entfernt von jeder menschlich-vernünftigen Zivilisation? Keine Freundinnen, mit denen sie stundenlang telefonieren konnte, keine Einkaufszentren, wo sie mit ihnen herumbummeln konnte und auch kein Café, in dem sie für den Rest des Tages mit ihnen verschwinden und die Leute beobachten konnte. Wenn ihr Zuhause dann doch einmal gar nichts eingefallen war, was sie mit ihrer freien Zeit anstellen konnte, so hatte sie zumindest in eine Ballettstunde gehen können. Zwar fand sie diese Art von Sport nicht gerade vergnüglich, denn es war eine ungeheure Anstrengung, aber ihre Mutter bestand darauf, um „Haltung und Geist zu straffen“. Patty seufzte. Nichts war hier wie Zuhause, gar nichts! Wenigstens besaß diese Bruchbude – unerwarteterweise – elektrischen Strom und damit einen funktionstüchtigen Fernseher, ihr einziger, winziger Trost. Dieser sollte voerst Pattys wichtigste Beschäftigung werden.

Kurz nach halb ein Uhr, nachdem sie nicht zum Mittagessen erschienen war, steckte ihre Mutter den Kopf zur Türe ihres Zimmers herein und verkündete gutgelaunt: „Dein Vater und ich fahren nach Summersdale, zum einkaufen! Jean kommt auch mit. Dann können wir beide uns ein paar neue Kleider für heute Abend besorgen, was meinst du?“

„Was soll es da schon groß an besonderen Geschäften geben? Männerhosen und Leinenkleider im Schnitt eines Mehlsacks oder wie?“ Mürrisch wandte Patty sich ab und beugte sich zum Fenster hinaus, wo die Sonne angenehm warm hereinschien.

„Vielleicht lernst du gleich ein paar Mädchen kennen, die in deine Klassen gehen werden“, versuchte Rachel, sie ohne viel Geduld anzutreiben.

„Ach! Das ist doch nicht die richtige Gesellschaft für mich! Aber nimm ruhig Jean mit! Die passt hervorragend in diesen Haufen!“ Trotzig vergrub Patty das Kinn in ihren Händen. „Lass mich in Ruhe!“

„Na, schön. Wie du willst.“ Achselzuckend schlug Rachel die Türe ins Schloss. Die Schritte ihrer Stöckelschuhe verhallten und gleich darauf hörte Patty den Motor des Jeeps laut aufheulen. Nicht lange und das Geräusch wurde leiser, bis es keine Minute später verstummt war.

Kälte kroch über ihren Rücken herauf und ein Gefühl der Angst überfiel sie. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie jetzt ganz allein hier draußen in dieser Wildnis war, vollkommen allein und auf sich gestellt. Wenn nun ein wildes Tier oder sonst etwas Gefährliches aufkreuzte? Fieberhaft überlegte sie, welches wohl der sicherste Ort in dieser schrecklichen, baufälligen Hütte sein könnte und sie entschied, dass dies die Küche wäre. Wenn sie sich richtig erinnerte, führte eine Hintertür ins Freie, was bedeutete, dass ihr im Notfall zwei Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung standen.

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9783754170441
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