Читать книгу: «Die Brücke zur Sonne», страница 2

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Der Motor heulte auf, als der Taxifahrer aufs Gaspedal trat und mit ihnen die Straße in Richtung Flughafen hinunterbrauste.

Der fast zwanzigstündige Flug, der von zwei Zwischenstopps unterbrochen wurde, machte beiden Mädchen mehr zu schaffen, als Rachel und Matthew erwartet hatten. Sie litten unter andauernder Übelkeit und erbrachen sich solange, bis ihre Mägen völlig entleert waren und sie nur noch die übelriechende Gallenflüssigkeit hervorwürgen konnten.

Patty glaubte, schon tot in Amerika anzukommen, doch zu ihrem Bedauern ging auch der schreckliche Flug irgendwann vorüber und sie lebte immer noch. Wahrscheinlich würde sie das Jahr in diesem Land ebenso hinter sich bringen, selbst wenn sie es verfluchte und hoffte, ihre Eltern bestrafen zu können, indem sie einfach starb, nachts, in ihrem Bett, wenn niemand es mitbekam. An irgendeiner Krankheit, die nicht einmal ihr Vater herausfinden konnte, damit sie einsahen, ihr Herz gebrochen zu haben. Sonst bekam sie auch alles, was sie sich wünschte, ob das nun ein neues Kleid, teurer Schmuck oder edles Parfüm waren – diese Anschaffungen stellten keinerlei Problem dar. Warum blieben sie nur in dieser einen, alles entscheidenden Hinsicht so stur? Weswegen taten sie ihr das an? Sie würde es niemals begreifen können, nie!

Scheinbar endlos zog sich...

Scheinbar endlos zog sich der Highway über die hügelige, abwechselnd mit grünen und braunen Grasbüscheln bewachsene Prärie dahin, trist und eintönig, sich immer wiederholend. Nur hier und dort säumten Sträucher oder kleinere Wälder die breite Asphaltstraße. In der Ferne erhoben sich hellgraue Felsketten wie Wegweiser aus dem Boden, während hinter den wenigen weißen Wolken am hellblauen Himmel die Mittagssonne hervorblinzelte und ihr wärmendes, grelles Licht spendete. Welch ein armseliger Unterschied zur grünen, fruchtbaren Landschaft Südenglands.

Leise eine Melodie pfeifend, lenkte Matthew den schwarzen, viertürigen Jeep die Straße entlang. Er hatte ihn sich gekauft, nachdem sie vor zwei Tagen in Salt Lake City im Bundesstaat Utah angekommen waren, dem Ziel ihres langen Fluges. Zunächst hatten sie sich in der großen Stadt von den Strapazen der Reise – dem ersten Flug für seine Familie überhaupt – erholt, ehe sie gestern weiter bis Shoshone, einer kleinen Stadt im Süden Idahos, gefahren waren. Dort hatten sie eine weitere Nacht verbracht und heute wollten sie die letzte Etappe bis Summersdale schaffen, ihrem neuen Zuhause, jedenfalls für das bevorstehende, nächste Jahr.

Durch das zur Hälfte heruntergekurbelte Fenster dröhnte das monotone, nervtötende Brummen des Motors noch lauter herein, als es ohnehin schon war. Der Jeep hatte bereits einen Besitzerwechsel hinter sich und war nur deshalb so günstig gewesen, weil eine breite, hässliche Beule quer über der Fahrerseite verlief. Matthew konnten derartige Schönheitsfehler nicht aus der Ruhe bringen, er genoss die Fahrt und die endlosen Weiten der vorbeiziehenden Landschaft.

Patty hatte die Beine über die Hälfte der hinteren Sitzbank gelegt und lehnte mit dem Rücken an der Außenverkleidung des Wagens. Er besaß nur vorne Türen, sodass sie nach hinten über die Lehnen der Vordersitze klettern mussten. Allein das wäre schon ein Grund gewesen, gar nicht erst einzusteigen. Sie hielt ihre Augen geschlossen und versuchte, ein wenig zu schlafen, was ihr aber nicht gelang. Immer wieder schreckte sie hoch und stellte zum zigsten Male frustriert fest, dass es kein böser Alptraum war, sondern dass sie wirklich heil und unversehrt, wenn auch geschwächt und elend, in den USA angekommen waren.

Seit sie das Flugzeug in London betreten hatten, schwieg Patty beharrlich, gab nur kurze, mürrische Antworten, wenn sie gefragt wurde und weigerte sich, mehr als irgendnötig zu essen. Jetzt war sie beinahe eingenickt. Schwer sank ihr Kopf gegen die Rückenlehne. Das ungewohnte Klima, die anstrengende Reise – oh, wenn sie doch endlich tief und fest schlafen könnte, eine ganze Nacht lang!

Ihre Schwester hingegen war wieder einmal ganz angetan von allem Neuen in ihrem Leben und das nervte Patty am meisten. Wie konnte sie dauernd zum Fenster hinausglotzen, um von Zeit zu Zeit mit einem Ruf der Entzückung auf irgendwelche hässlichen Felsen oder Bäume zu zeigen? Immerhin war Jean jetzt eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin. Patty spürte, wie sie erneut anfing wütend zu werden – nicht nur auf ihre Schwester, auch auf die ganze Situation in der sie feststeckte und aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Sie verspürte großes Verlangen, einfach mit ihrem Fuß auszuholen und Jean damit kräftig zu treten.

Rachel hockte auf dem Beifahrersitz, die Straßenkarte auf dem Schoß und starrte schläfrig zur Frontscheibe hinaus. Es war bereits nach ein Uhr mittags. Seit über vier Stunden rollten sie nun über die penetrant gleich aussehende Ebene hinweg, wo jeder Fels und Hügel, jeder Wald und Strauch sich in gewissen Abständen zu wiederholen schien. Hin und wieder kamen sie an einsamen Tankstellen oder Ortschaften vorüber, die aus einer Handvoll Häuser bestanden. Mehr schien es hier nicht zu geben. Es erschreckte Rachel beinahe etwas, als ihr bewusst wurde, wie einsam und verlassen hier alles war, im Vergleich zu ihrer gewohnten Umgebung. Matthew stimmte ein neues Lied an, was ihm einen gereizten Blick seiner Frau einbrachte.

„Kannst du nicht endlich diesen Singsang einstellen?!“ Rachel richtete sich ächzend auf und streckte ihre Glieder, so gut es in dem engen Wagen möglich war. „Mir tut alles weh von dem elendigen Sitz dieser Schrottkarre!“ Ungehalten krachte ihre Faust gegen die Verkleidung der Beifahrertür. „Wozu musste dieser Fehlkauf überhaupt sein?! Wozu brauchst du ein solches Auto?! Erstens ist es gebraucht und zweitens gefällt es mir nicht. Diese Geländekübel erinnern mich immer an meine schreckliche Tante Minnie aus Irland – sie ist Bäuerin!“

„Du kannst ja aussteigen und zu Fuß gehen oder mit dem Bus nachkommen“, schlug Matthew ungerührt vor. „Außerdem“, seine Gesichtszüge nahmen einen verträumten Ausdruck an, „habe ich mir schon lange vorgestellt, mit meinem eigenen Jeep über einen amerikanischen Highway zu düsen!“

„Und? Erfüllt dieses stinkende Metallgehäuse auf vier Rädern deine Erwartungen?“ Spöttisch runzelte Rachel die Stirn. „Tu’ mir bloß einen Gefallen: Halte dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung! Im Übrigen lässt sich deine plötzliche Leidenschaft für amerikanische Autos wohl auf deine häufigen Kinobesuche in den letzten beiden Jahren zurückführen? Soweit mich die Eintrittskarten, die du regelmäßig im Mülleimer vergraben hast, informiert haben, bist du Westernfilmen ja regelrecht verfallen!“

Eine Sekunde verschlug es Matthew die Sprache. Dass sie so gut über seine, wie er bisher geglaubt hatte, heimlichen Gepflogenheiten Bescheid wusste, hatte er nicht geahnt. Wütend über seine eigene Dummheit, die Eintrittskarten nicht gleich im Kamin verbrannt zu haben, stieß er hervor: „Oh, entschuldige bitte! Ich habe ja völlig vergessen, dass ich am Ende noch dein Geld verschwende! Hättest du eine bessere Idee gehabt, wie wir von Salt Lake City nach Summersdale kommen? Vielleicht im eigenen Privatjet?“

„Ich sage ja nicht, dass wir kein Auto brauchen“, lenkte Rachel ein, „aber wenn, dann doch wohl eines, das wir nach unseren Wünschen beim Händler bestellen! Das fängt schon bei der Farbe an! Schwarz! In dieser staubigen Gegend und bei den von dir erwähnten Durchschnittstemperaturen ist das eine Zumutung! Und gegen ein bisschen mehr Komfort hätte ich auch nichts einzuwenden…für meinen Standard jedenfalls.“ Sie seufzte. „Aber wir können das Ding ja immer noch verkaufen und uns dafür ein geeigneteres zulegen. Ich hätte gerne einen Cadillac. Was hältst du davon? Der sieht sehr schick aus!“

Matthew schaffte es gerade noch, ein Grinsen zu unterdrücken und erwiderte stattdessen überschnell: „Aber selbstverständlich!“

In diesem Augenblick erklang von hinten eine zornige Stimme: „Ach, das sind doch jetzt sowieso nur sinnlose Diskussionen, die zu nichts führen! Bis wir da sind, entscheidet ihr euch doch noch zehnmal um! Hauptsache, wir kommen endlich an!“

Stöhnend und mit missmutig verzogener Miene räkelte Patty sich auf dem Rücksitz, wobei sie ihrer Schwester einen unsanften Tritt gegen den Schenkel versetzte. Bisweilen musste man eben gewisse Verlangen auch ausleben, nachdem sie dieses nun lange genug unterdrückt hatte.

Jean schreckte aus ihrem Schlaf hoch. „Sind wir schon da?“

„Nein, schlaf weiter“, blaffte Patty sie an. „Bei der Karre geht’s nicht so schnell!“

„Erzähl uns doch mal, wie die Stadt aussieht“, bat Jean ihren Vater munter, ohne ihre Schwester zu beachten. Sie kannte diese Launen schon und machte sich nichts daraus. „Wie groß ist sie? Gibt es dort Museen, wo ich hingehen kann? Und haben sie eine Bibliothek? Das ist das allerwichtigste!“ Sie beugte sich nach vorn.

„Was ist los? Ich dachte, du wolltest schlafen?“, bemerkte Rachel unwirsch. „Für deinen kulturellen Wissensdurst hast du noch früh genug Zeit!“

„Ich will viel lieber wissen, ob es dort gute Modegeschäfte gibt!“, mischte Patty sich nun in das Gespräch ein. „Alles andere ist doch sowieso vollkommen gleichgültig!“

„Sie hat nicht ganz unrecht“, wandte Rachel sich an ihren Mann. „Erzähl uns doch ein wenig etwas! Besonders ausführlich hast du uns bislang ja nicht teilhaben lassen, außer, dass die Stadt Summersdale heißt und du dort in der Klinik arbeiten wirst.“

„Ja…also…“ Sichtlich in Verlegenheit gebracht, rang Matthew um die passenden Worte. „Die Klinik“, begann er nach kurzer Überlegung hastig, „ist natürlich nicht mit unserer in London zu vergleichen! Sie hat eine wesentlich überschaubarere Größe, ist aber trotzdem sehr modern ausgestattet und…“

„Matt!“, unterbrach Rachel ihn. „Die Klinik kann von mir aus lila mit froschgrünen Fenstern sein! Wie ist die Stadt? Ist sie klein oder groß? Ein Provinznest oder wird einem auch etwas geboten? Und ich schließe mich voll unserer Tochter an: Gibt es vernünftige Geschäfte? Ich kann nicht ein ganzes Jahr lang in denselben Kleidern herumlaufen!“

Plötzlich zornig schlug Matthew mit der flachen Hand auf das Lenkrad. „Himmel nochmal! Falls es dir entgangen ist, hatte ich während meines Besuchs nur drei Tage Zeit! Ich bin überhaupt nicht dazu gekommen, mich derartig unwichtigen Dingen zu widmen! Am ersten Tag habe ich mir die Klinik angesehen und die anderen beide Tage war ich damit beschäftigt, eine Bleibe für uns zu finden!“ Spöttelnd fügte er hinzu: „Schließlich bin ich als dein Mann gewöhnt, dass du in keinem Motel absteigst!“

Kopfschüttelnd überging Rachel den letzten Satz. „Schön, dann erzähl uns eben von dem Haus, das du uns organisiert hast. Schließlich wollen wir wissen, wo wir ein Jahr lang wohnen werden.“

„Das hat die letzten sechs Monate auch niemanden interessiert“, rutschte es ihrem Mann heraus. „Außerdem wird eure Geduld noch lange genug ausreichen.“

Patty seufzte genervt. „Gut. Was ist mit der Schule, in die ich gehen soll? Gibt es wenigstens dazu eine genauere Erläuterung? Ich hoffe bloß, sie hat einen ähnlichen Standard zu bieten, wie das Mädcheninternat in London!“

Ihr Vater stieß ein missfälliges Grunzen aus. „Das hier ist keine Gegend, in der die High Society absteigt! Die Schule hat einen sehr ordentlichen Eindruck auf mich gemacht mit netten Lehrern. Mit zweien und dem Direktor habe ich bereits gesprochen.“

„Das freut mich für dich.“ Düster starrte Patty zum Seitenfenster hinaus. Es wurde nicht besser, im Gegenteil. Ihr Leben war zerstört, sie musste in einem Provinznest eine Schule besuchen, vermutlich noch zwischen einfältigen Landkindern und Dummköpfen. Bei der erstbesten Gelegenheit würde sie ausreißen und nach London zurückfliegen, das schwor sie sich!

„Ich bin schon gespannt auf die neue Schule!“, rief Jean übermütig und rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz hin und her. „Bestimmt haben ein paar Mädchen hier Pferde und ich kann endlich reiten lernen!“

„Das war ja klar!“ Patty kochte innerlich. „Du kannst ja auch gleich hierbleiben und unter die Kuhhirten gehen, das passt doch zu dir! Du immer mit deinem dämlichen Fimmel für Pferde!“

Ein wenig gekränkt blinzelte Jean ihre kleine Schwester an. „Es muss sich ja nicht jeder so unbeliebt machen wie du, mit deinem eingebildeten Getue!“

„Jetzt hört doch auf, euch zu streiten!“ Matt drückte demonstrativ einige Male auf die Hupe. „Es wird schon für jede von euch hier etwas geben, was euch gefällt!“

„Glaub’ das bloß nicht! Mir genügt schon allein der Gedanke an diese sogenannte Schule, in die ich gehen muss!“, rief Patty trotzig und warf sich gegen die Rückenlehne. „Wahrscheinlich laufen da nur so Trampel und Einfaltspinsel herum wie deine andere Tochter! Das ist ja wohl weit unterhalb meines Niveaus!“

Eine lange Minute herrschte Schweigen im Wagen und nur das unaufhörliche Dröhnen des Motors machte es erträglich. Rachel seufzte und fischte in ihrer Handtasche nach einem Spiegel, um den Sitz ihrer Frisur zu überprüfen.

„Siehst du“, sagte sie verständnislos, während sie an ihrem Pony zupfte, „jetzt sind wir genauso klug wie vorher. Das ist typisch dein Vater – er rückt mit der Wahrheit immer erst heraus, wenn er nicht mehr anders kann!“

Sie ahnte noch nicht, welche Wirkung dieser Satz zum jetzigen Zeitpunkt auf ihren Mann hatte, der beharrlich schweigend, geradezu stoisch seinen neuerworbenen Jeep weiter über den Highway lenkte.

Am frühen Nachmittag entdeckte Rachel zu ihrer Erleichterung das Schild an der Straßenkreuzung, nachdem sie schon geglaubt hatten, daran vorbeigefahren zu sein.

„Da, da steht Summersdale! Seht ihr?“ Ungeduldig deutete sie mit dem Finger darauf. „Gleich sind wir da!“ Lächelnd wandte sie sich zu ihren beiden Töchtern um. „Habt ihr gehört?“

Patty hatte sich wieder auf dem Rücksitz ausgestreckt und gab nur ein kurzes, mürrisches „Lass mich in Ruhe!“ zurück, während Jean den Hals reckte, um möglichst bald schon etwas zu entdecken.

Rachels Laune besserte sich mit jeder Minute. „Wieviele Meilen sind es denn nun noch?“

Matthew bog nach rechts, in die schmälere Asphaltstraße ab, die von da an nicht mehr als Highway gekennzeichnet war, sondern lediglich als Interstate.

„Nun, ich schätze, etwa zehn bis Summersdale“, antwortete er zögernd und starrte mit unbewegter Miene zur Frontscheibe hinaus. Prüfend ruhten Rachels schiefergraue Augen auf ihm. Er spürte es.

„Und weiter?“, hakte sie prompt nach, ein wenig triumphierend, ihn durchschaut zu haben. „Liebling! Vor seiner Frau darf man doch keine Geheimnisse haben!“

„Na…ja…“ Matt versuchte ein verzerrtes Lächeln. „Es ist nichts Dramatisches.“ Irgendwann musste er ja mit der Beichte der Tatsachen anfangen. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. „Es ist bloß…das Haus liegt nicht direkt in Summersdale.“

Verblüfft wiederholte Rachel: „Nicht direkt in Summersdale?“

Mit einem Schlag war Patty wieder hellwach. Sie beugte sich nach vorn. „Heißt das, es gibt dort auch ein Villenviertel?“ Gespannt tippte sie ihrem Vater auf die Schulter. „Sag schon, Paps!“

Matthew sah ein, dass er nun beim besten Willen nicht länger ausweichen konnte – ob ihm vor den Folgen graute, spielte dabei keine Rolle. Er allein hatte sich dafür verantwortlich zu machen. Ein kurzer Seitenblick auf seine Frau genügte, um ihm klar zu machen, dass er ihre Geduld schon überstrapaziert hatte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihm einer ihrer Wutausbrüche erspart blieb.

„Ach, weißt du, Summersdale ist keine allzu schöne Stadt und auch recht laut, aber ein Stück südöstlich davon gibt es eine kleine Ortscha…“ Er schaffte es gerade noch, sich zu korrigieren: „…ein kleines Städtchen namens Silvertown. Dazu gehört unser Haus. Es ist wirklich ganz reizend und hat genau die richtige Größe für uns vier. Als ich es zum ersten Mal gesehen habe wusste ich sofort – das ist es, eine Art Lebenstraum, der in Erfüllung geht!“ Ohne Pause fügte er erklärend hinzu: „Die Entfernung bis Summersdale ist kaum nennenswert und es fährt dreimal am Tag ein Bus für die Schüler.“

„Ein Bus?!“, wiederholte Patty entsetzt. Ihr Leben lang war sie mit keinem Bus gefahren, schon gar nicht zur Schule! Damit ruinierte sie sich ja ihre sämtlichen Kleider!

Matthew tat, als habe er sie nicht gehört. „Ich kann jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit und du, mein Liebling, findest bestimmt auch bald Anschluss und eine nette Beschäftigung.“

„Das heißt“, fasste Rachel schroff zusammen, wobei sie jedes Wort betonte, „du hast für uns ein kleines Kuhdorf irgendwo in dieser staubigen, eintönigen Pampas ausgesucht?!“ Ihre Gesichtszüge unter dem weißen Puder wurden blass.

„So würde ich es nicht direkt nennen!“ Noch stand sie unter Schock, begriff noch nicht das ganze Ausmaß – das war Matthews Chance. „Du kannst dich immer noch aufregen, wenn du es gesehen hast! Aber zuerst will ich euch die Stadt zeigen, einverstanden?“

* * *

Auf der Brüstung, welche die Veranda zum Innenhof abgrenzte, saß ein junges Mädchen mit braunen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und ließ ihre Beine baumeln. Sie biss ein Stück von einem großen, gelben Apfel ab und blinzelte gegen die hochstehende, grelle Nachmittagssonne. Auf den Koppeln grasten einige Pferde und die Stille, die über der Waldschneise lag, erfüllte das Mädchen immer wieder aufs Neue mit Bewunderung für ihr Zuhause. Leise schwang die Haustür hinter ihr auf und gemächliche Schritte traten zu ihr.

„Na?“

Das Mädchen drehte sich lächelnd zu ihrem Vater um. „Was meinst du?“, wollte sie wissen, weiter auf ihrem Apfel kauend. „Wann werden sie da sein?“

Ein Schmunzeln trat auf das Gesicht ihres Vaters. „Irgendwann heute, nehme ich an, aber du musst dich schon noch ein bisschen gedulden!“

„Glaubst du, dass seine Töchter und seine Frau genauso nett sind, wie Doktor van Haren?“

„Oh, ganz bestimmt!“ Ihr Vater tätschelte ihr kurz die Wange. „Was ist? Hast du deine Schularbeiten schon erledigt?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, um die kümmere ich mich später. Ich gehe jetzt Kitty holen und reite ein wenig aus. Vielleicht sind sie ja schon da!“

Mit einem Kopfschütteln strich ihr Vater sich über das eckige, markante Gesicht. „Selbst wenn, dann werden sie erstmal ihre Ruhe wollen und sich ein wenig von der langen Reise erholen! Du wirst sie wohl kaum vor dem Fest kennenlernen und ich im Übrigen auch nicht – falls es dich beruhigt.“

Seine Tochter seufzte und sprang mit einem Satz von der Brüstung. „Vielleicht doch! Sie wollen bestimmt gleich die Pferde sehen!“

Bedenkliche Falten bildeten sich auf der Stirn des Ranchbesitzers. „Nicht jedes Mädchen ist so verrückt nach Pferden wie du, Amy. Und vergiss nicht, dass die beiden aus einer Großstadt kommen, sie haben womöglich noch nie etwas mit Pferden zu tun gehabt.“

„Ach, Blödsinn!“, winkte seine Tochter überzeugt ab. „Jedes Mädchen will reiten! Das weiß ich ganz bestimmt! Und wenn sie erst einmal da sind, dann habe ich endlich Freundinnen, die nicht so weit weg wohnen, wie die anderen Mädchen!“

Ihr Vater schüttelte lächelnd den Kopf und beobachtete seine Tochter, wie sie über den Innenhof zu einer der Koppeln davonrannte.

„Hoffentlich“, murmelte er leise, zu sich selbst. „Ich wünsche es dir wirklich!“

Er wusste, dass die Abgeschiedenheit und die Entfernung bis zur Stadt nicht einfach für sein einziges Kind waren. Sie lebten hier schon so lange und zu Anfang schien es sie nicht gestört zu haben. Jedoch jetzt, da sie anfing zu wachsen, eine junge Frau zu werden, begann auch die Sehnsucht in ihr zu erwachen, mehr Menschen um sich haben zu haben, Freundinnen, die mit ihr in Zeitschriften blätterten und von Filmstars schwärmten, mit denen sie die Platten der angesagten Bands und Musiker hören konnte. So eine Person gab es hier weit und breit nicht. Die Kinder der umliegenden Ranches waren entweder viel älter oder aber jünger als seine Tochter und wohl auch deshalb war sie so besonders aufgeregt, dass dieser englische Arzt mit dem außergewöhnlichen Namen hier in die Nähe zog – weil er zwei Töchter mitbrachte, von denen die größere genauso alt war wie Amy.

* * *

Silvertown entpuppte sich als kleiner, verschlafener Ort mit knapp dreitausend Einwohnern, für den die Bezeichnung „Städtchen“ schon fast übertrieben schien. Es lag irgendwo inmitten der weiten, blühenden Ebene zwischen Shoshone und Arco im Süden Idahos und erweckte den Anschein, als sei es aus völlig unerfindlichem Grund genau an dieser Stelle aus dem Boden gestampft worden. Sanfte Hügel, die jetzt im Frühjahr mit saftigem Gras bedeckt waren, umgaben es nach allen Seiten und betteten es schützend zwischen ihre Anhöhen. Seine Blütezeit hatte der Ort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt, als riesige Rinderherden daran vorbei, in Richtung der großen Schlachthöfe im Nordwesten getrieben worden waren. Jetzt lebte es hauptsächlich vom Tourismus und den Arbeitsplätzen im knapp zwölf Meilen entfernten Summersdale. Ein glücklicher Zufall, der dem Städtchen sein Überleben gesichert hatte, während andere seiner Art längst in sich zusammenfielen – verlassen und von den meisten Menschen vergessen, bis auch das letzte Haus, das einst mit Mühe und Schweiß errichtet worden war, einstürzte und der Witterung zum Opfer fiel.

Der Straßenzug, der von West nach Ost im südlichsten Teil durch die Stadt führte, war der ganze Stolz Silvertowns und seiner Bürger, denn es handelte sich um die ehemalige, zur Gründerzeit errichtete Hauptstraße. Sie befand sich bis auf ein paar einzelne Gebäude noch in ihrem original historischen Zustand. Sanft schlängelte sich die mit Sand und Rollsplitt aufgefüllte Straße an den im Norden angrenzenden Wohnblocks und Neubaugebieten vorbei, während entgegengesetzt, hinter den letzten beiden Häuserreihen, die Prärie begann.

Gemächlich rollte der schwarze Jeep auf Silvertown zu. Zwischen den ersten Wohnhäusern entlang war die Straße geteert, ehe sie plötzlich scharf nach links abbog. Geradeaus, hinter einigen niedrigen, sichtversperrenden Bäumen begann die historische Altstadt, während der Verkehr gezwungen wurde, diese zu umfahren.

Matthew entdeckte vor dem großen Supermarkt eine freie Parklücke. Er trat aufs Gaspedal, um einem grünen Chevrolet zuvorzukommen, der ebenfalls den Parkplatz anvisierte. Mit offenem Mund verfolgte Rachel die Sandstraße, soweit sie diese hinter dem grünen Geäst der Bäume erkennen konnte.

„Was ist denn das? Soll ich etwa im nächsten Hollywoodwestern die Hauptrolle übernehmen?“

Irritiert blickte Jean um sich. „Wieso? Was war denn?“

Patty verdrehte die Augen. „Sperr einfach deine Augen auf, dann musst du nicht dauernd nachfragen!“

„Jetzt seid doch endlich friedlich!“, kommandierte Matthew, allmählich von dem ständigen Gezanke seiner Töchter redlich entnervt und lenkte seinen Wagen geschickt zwischen die beiden anderen Autos. „Kommt mit! So etwas habt ihr mit Sicherheit noch nie gesehen! Ich zeige euch jetzt etwas ganz Besonderes! Ihr werdet begeistert sein!“

Mit unübersehbarer Eile sprang er aus dem Wagen. Rachel warf ihrer jüngeren Tochter einen langen, Böses ahnenden Blick zu, dann folgte sie der Aufforderung ihres Mannes mit Widerwillen.

„Wenn es dein unverzichtbarer Wunsch ist…ich würde mich lieber in unserem neuen Haus zuerst ein wenig frisch machen. Die Fahrt in diesem Blechkasten war schließlich kein reines Vergnügen!“

„Nachher, mein Schatz, nachher“, versprach Matthew schnell und hakte ihren Arm bei sich unter. „Jetzt kommt erst einmal mit!“

Er führte sie über die wenig befahrene Straße, eine schmale Gasse hindurch, in der schreiend und kreischend eine Horde Kinder spielte und dann um das Eck eines hohen, braunen Holzgebäudes. Im nächsten Moment tat sich vor ihnen die leicht kurvige, ruhige Sandstraße auf. Sie erinnerte tatsächlich an einen Film, wie sie ihn alle aus dem Kino kannten.

Die Gebäude waren fast ausschließlich aus Holz errichtet. Dazwischen stachen einzelne, rote Klinkerbauten heraus. Zur linken Seite hinab befanden sich hauptsächlich die Geschäfte mit den typischen, falschen Fronten, auf denen ihre Bestimmung in bunten Farben aufgemalt war. Nach rechts lag dagegen eine Art Wohnviertel mit kleinen, gut hundert Jahre alten Häusern, die erhalten geblieben und liebevoll im alten, traditionellen Stil hergerichtet waren.

Häufig sprossen zwischen dem Sand und Splitt Unkraut und kleine Wildsträucher, die aber niemanden weiter zu stören schienen, sondern sorglos vor sich hin wucherten. Gerade das Grün verlieh der Stadt eine persönliche Note, ja, etwas Wahrhaftiges, das in den reinen Filmstädten mit ihren Außenfassaden fehlte. Nur wenige Bürger kamen um diese Tageszeit auf den breiten Holzbohlen vor den Gebäuden entlang. Diese dienten als eine frühe Form der Gehsteige, um zumindest stellenweise den Morast von den Schuhen fernzuhalten, in den sich der Sand bei Regen verwandelte.

„Jetzt sieht es zwar aus, als sei es bloß eine Straße“, sagte Matthew in die Stille hinein und er konnte seine heimliche Begeisterung nicht länger verbergen, „aber wenn am ersten Mai die Touristensaison beginnt, könnt ihr euch nicht vorstellen, was hier los ist! Dann kommen sogar Stars von Film und Fernsehen hierher! Natürlich nur solche, die in Western mitspielen!“

Rachel schwieg und betrachtete den Straßenzug eingehend von rechts nach links und wieder nach rechts hinab.

„Grausam“, sagte sie auf einmal. „Einfach furchtbar!“ Verächtlich legte sie den Kopf schief. Ein höhnischer Blick traf ihren Mann. „Hoffentlich passen die Leute hier nicht zu der Straße. Ich kann mir nämlich sehr gut vorstellen was passiert, wenn erst einmal diese Art von Touristen Einzug hält, die sich hier wohl fühlen! Dann wimmelt es wahrscheinlich von Möchtegern-Revolverhelden! Seit dieser ganzen Westernmanie kann man ja sogar in London Cowboyhüte kaufen. Matt! Es wird höchste Zeit für dich aufzuwachen – wir leben im Jahr 1965! Wieso befassen sich die Leute heutzutage noch mit Dingen, die längst vorbei sind und auch niemals wiederkommen werden?“ Rachel machte eine gespannte, lauernde Pause, doch ihr Mann schürzte lediglich die Lippen und wandte den Blick von ihr ab. Sie hob die Brauen. „Kommt, lasst uns gehen. Nicht, dass wir noch in Gefahr laufen, versehentlich über den Haufen geschossen zu werden.“

Während Patty der Aufforrderung dankbar nachkam, hatte Jean weder Rachel, noch Matthew bei ihrem verhaltenen Zank zugehört. Ihr Herz schlug schneller. Fasziniert betrachtete sie die alten Gebäude und sie spürte, wie die Anziehungskraft, die von ihnen ausging, auch vor ihr nicht Halt machte. Welche Geschichten diese Häuser erzählen könnten! Gleich links, das erste Gebäude neben dem sie standen, war ein Saloon. Als Türen besaß er lediglich zwei halbhohe, typische Schwingklappen, wie sie es aus den Hollywoodfilmen kannte und unter dem Balkon baumelte ein riesiges Holzschild an zwei dicken Eisenketten, das dem Besucher seine Funktion verriet: „Big Bear Saloon“.

Neben dem Eingang, im Schatten, den der überstehende Balkon spendete, lehnten zwei Männer an der braunen Holzwand. Sie waren jung, kaum über zwanzig, und sprachen leise miteinander. Beide trugen Bluejeans und Cowboystiefel und einen dazu passenden Hut mit breiter Krempe und verziertem Band. Der vordere, der ihnen den Rücken zuwandte, zog genüsslich an einer Zigarette, während sein Gesprächspartner die Daumen lässig in den vorderen Gürtelschlaufen seiner Hose eingehängt hatte.

Ohne es zu merken, betrachtete Jean ihn unverhohlen. Er war groß und auffallend schlank und besaß strohblondes, leicht gelocktes Haar. Er sah recht gut aus, wobei seine schmalen, weichen Gesichtszüge an die eines Lausejungen erinnerten. Als er laut auflachte, zeigte er eine Reihe gerader, schneeweißer Zähne und plötzlich bemerkte er Jeans unverhohlen neugierige Blicke. Sein Lachen verwandelte sich zu einem breiten Grinsen und er tippte sich mit zwei Fingern zum Gruß an die Krempe seines Hutes.

Unwillkürlich musste Jean ebenfalls lächeln. Etwas an ihm gefiel ihr. Er erinnerte sie daran, wie sie heimlich mit ihren beiden besten Freundinnen und den Jungs aus der Stadt im Park umhergetobt hatte – bis zu dem Tag, an dem Rachel sie dabei erwischte. Das war nun bestimmt schon drei Jahre her. Seitdem verbrachte sie ihre Freizeit nur noch mit Mädchen gleichen Alters und nur noch mit solchen, die Rachel als angemessen empfand. Mit irgendwelchen Kindern von der Straße hatte sie sich nicht zu umgeben – das war ihr seither strengstens untersagt und die Jungs waren ohnehin merkwürdig geworden. Sie wollten sich wie Rebellen und Helden benehmen und taten die Mädchen als „Kinder“ ab. Jean konnte das nicht verstehen. Was war in sie gefahren? Sie waren ebenso erst sechzehn Jahre alt, doch dieser junge Amerikaner dort, keine zehn Schritte von ihr entfernt, schien anders zu sein, ganz anders. Nur äußerlich hatte er sich zu einem jungen Erwachsenen entwickelt, in seinen blauen Augen dagegen blitzte unverkennbar der Schalk – sie konnte sich seinem übermütigen, gutgelaunten Grinsen und der unschuldigen Ausstrahlung nicht entziehen.

In diesem Augenblick drehte Rachel sich um, da ihr auffiel, dass das vierte Mitglied ihrer Familie den Anschluss verloren hatte. Erschrocken zuckte Jean zusammen. „Wie bitte? Hast du mit mir gesprochen? Ich meine…ich wollte fragen: Was tun wir jetzt?“

Mit einem Wimpernschlag hatte ihre Mutter die Situation erfasst. Missbilligend zogen sich ihre Brauen zusammen. Ein eisiger Blick traf den jungen Mann.

„Dieser Umgang dürfte kaum der richtige für dich sein“, raunte sie scharf. „Und jetzt komm endlich!“

Jean fühlte, wie sie errötete und senkte beschämt den Kopf. Sie wusste, dass ihre Mutter es nicht ausstehen konnte, ja, geradezu hasste, wenn sie sich mit Personen abgab, die ihr nicht gut genug erschienen. Deshalb und nur deshalb hatte sie ihr das Spiel mit den Jungs im Park verboten – keiner von ihnen stammte aus der oberen Gesellschaftsschicht Londons. Verschüchtert, ohne sich noch einmal umzusehen, ließ Jean sich von ihrer Mutter zum Jeep zurück dirigieren, während Matt einige Schritte dahinter folgte.

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9783754170441
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