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Die Anknüpfung an die mittelalterliche Mystik ist auch in Bezug auf den Bildungsbegriff bedeutsam. Die deutschen Mystiker übersetzten Teile der Bibel in die deutsche Sprache, damit auch die nicht des Lateins kundigen Nonnen und Laienbrüder Zugang zum «Wort Gottes» erhielten. Diese Übersetzungen boten einige Probleme, wies doch die gelehrte lateinische Sprache einen begrifflichen Differenzierungsgrad auf, den das Deutsche als Alltagssprache nie erreichte. Viele Begriffe mussten deshalb für eine adäquate Bibelübersetzung erst «erfunden» werden.

Eine Möglichkeit war dabei die Eindeutschung vorliegender lateinischer Begriffe, die andere die Neudeutung bzw. Spiritualisierung bestehender Begriffe. Letzteres passierte im Fall von «Bildung». «Bildunga» bezeichnete im Althochdeutschen das schaffende Herstellen von Dingen, speziell von Töpfen. Dieser Begriff wurde dazu auserwählt, das lateinische Wort «imago» aus der Schöpfungsgeschichte zu übersetzen, womit der ursprünglich konkrete Begriff «Bildunga» auch eine transzendente Bedeutung erhielt. Diese transzendente Dimension hat sich bis heute gehalten, wie das Zitat aus der Schöpfungsgeschichte in der Version der Zürcher Bibel (2007) zeigt.

Zitat

Schöpfungsgeschichte

«Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich. Und sie sollen herrschen über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die sich auf der Erde regen. Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.» (Genesis I, 26 – 27)

Der Mensch war aufgefordert, sich seiner Gottesebenbildlichkeit würdig zu erweisen und Gott in seiner eigenen Seele wieder zu finden, da |17◄ ►18| dieser durch den Sündenfall und die sündige Welt verdeckt worden war. Die Bilder der sündigen Welt mussten abgeschüttelt und durch das reine Bild Gottes ersetzt werden.

Die Bedeutung der englischen Philosophie

Eine Hinwendung zum Konzept der inneren Gestaltung und damit ähnlichen Überlegungen, wie sie auch schon im Kontext des Pietismus formuliert worden waren, lassen sich auch bei den Cambridge Platonists finden, einer parallel zum Pietismus entstandenen einflussreichen Richtung der englischen Philosophie des 17. Jahrhunderts. Sie propagierten eine platonisch geprägte Philosophie in Abgrenzung zu einer atheistischen oder mechanistischen Philosophie und boten sich damit als Alternative zu einer naturwissenschaftlich geprägten Aufklärung an. Im Zentrum dieser Gruppe standen Henry More, Ralph Cudworth, Benjamin Whichcote und John Smith, die nicht zufälligerweise alle aus einem puritanisch-calvinistischen Milieu stammten, in welchem die Vorstellung der Prädestination bestimmend war.

Definition

Prädestinationslehre: Mit dem Begriff der Prädestination («Vorherbestimmung») wird ein theologisches Konzept bezeichnet, das davon ausgeht, dass Gott von Anfang an jedes individuelle Schicksal sowie auch das Schicksal der Welt vorherbestimmt hat. Die Prädestinationslehre gründet in den Schriften des Kirchenvaters Augustinus und wurde später vor allem vom Genfer Jean Calvin vertreten. Er bejahte die grundsätzliche Vorherbestimmung des Menschen, womit sowohl Seligkeit als auch Verdammnis von Gott allein abhängig und mit menschlichen Handlungen nicht beeinflussbar sind. Der materielle Wohlstand wurde von den Calvinisten als göttlicher Hinweis auf das jenseitige Schicksal interpretiert. Auf dieser Basis entwickelte Max Weber im frühen 20. Jahrhundert seine Theorie des Zusammenhangs von protestantischer Ethik und Kapitalismus.

In der Auseinandersetzung mit ihrem Herkunftsmilieu und vor allem auch in Abgrenzung dazu entwickelten die Cambridge Platonists eine Philosophie, die wesentlich von der Vorstellung der Gewissensfreiheit und der Toleranz geprägt war. Sie vertraten die Überzeugung, dass Gott die Welt vernünftig geordnet habe, womit sich auch Wissenschaft und Religion in Übereinstimmung bringen lassen. Gott handle stets vernünftig,|18◄ ►19| so ihre Überzeugung, also nicht zufällig und willkürlich. Daher könne die Vernunft die Ordnung der Welt erkennen, die Seele zudem durch Selbstbetrachtung Einsicht in die Natur und in göttliche Eigenschaften gewinnen, was auch für die Offenbarung gelte. Glauben und Vernunft ist in ihrer Vorstellung deshalb kein Widerspruch.

Ein besonderes Gewicht erhielt in der Philosophie der Cambridge Platonists die Lehre von der Willensfreiheit, mit der Folge, dass dem Individuum eine große Verantwortung zugesprochen wurde. Nicht mehr Gott, das Schicksal oder eine andere höhere Macht konnte für das eigene Tun und Handeln verantwortlich gemacht werden, sondern der individuelle Mensch sollte in der Verantwortung stehen. Zudem wurde auch die Bedeutung der Erbsünde insgesamt infrage gestellt, da diese nicht mit der Vorstellung einer menschlichen Willensfreiheit kompatibel sei. Gemäß der platonischen und vor allem auch der neuplatonischen Tradition gingen die Vertreter der Cambridge Platonists davon aus, dass der Mensch durch das richtige Verhalten gottähnlich werden könne.

Die Vorstellung, dass Glauben und Vernunft sich nicht zwingend widersprechen müssen, vertrat auch die Naturphilosophie des 16. und 17. Jahrhunderts. Bei ihren Vertretern stand die reale Welt bzw. ihre methodische Erforschung im Zentrum: In der von Gott erschaffenen Natur würden die göttlichen Gesetze sichtbar und könnten so vom menschlichen Verstand erkannt und erforscht werden. Jeder Same oder jeder Keim habe etwa schon von Anfang an die endgültige Gestalt in sich, aber in viel kleinerer und deshalb dem menschlichen Auge nicht erkennbarer Form. Die göttlich vorbestimmte Form musste also nur noch gebildet, das heißt ausgebildet oder entwickelt werden.

Die Formulierung einer Seelenlehre, welche die Selbstbetrachtung betonte, mit deren Hilfe die Welt und die Natur erkannt werden konnten, wurde für die Begründung des deutschen Bildungsbegriffs wichtig. Die Verbreitung dieses Konzepts im deutschsprachigen Raum war eng mit den Übersetzungen der Schriften von Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury verbunden, dem Enkel des First Earl of Shaftesbury, einem einflussreichen englischen Politiker, dessen Leibarzt John Locke gewesen war. Shaftesbury gilt als Vertreter einer Philosophy of Politeness, womit ein Konzept bezeichnet wird, das in der englischen Philosophie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu einem Schlüsselbegriff wurde, da es eine Möglichkeit eröffnete, neue soziale, ökonomische und politische Herausforderungen mit traditionellen Vorstellungen von Tugend zu verbinden. Dies war vor dem Hintergrund der Erfahrungen |19◄ ►20| Englands mit religiösen Konflikten und Bürgerkrieg sowie den daraus folgenden politischen Umwälzungen wichtig geworden.

Die politischen Voraussetzungen der «Politeness». Ein Exkurs

1534 hatte sich der englische König Henry VIII. zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche ernannt, nachdem er sich wegen seiner Heirats- und Machtpolitik mit der katholischen Kirche überworfen hatte. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion war damit zu einer politischen Frage geworden. Das galt nicht nur für die verschiedenen Gruppierungen der Dissenters, womit Glaubensgemeinschaften bezeichnet werden, die sich von der anglikanischen Kirche getrennt hatten, sondern vor allem auch für die Katholiken, da ein Teil des englischen Königshauses katholisch geblieben war und einige offiziell anglikanische Königshausmitglieder zudem zumindest mit dem Übertritt zum Katholizismus liebäugelten.

1559 war der englische König zum Supreme Governor of the Church ernannt worden, womit die Trennung von Rom und die damit verbundene Eigenständigkeit der anglikanischen Kirche zementiert wurden. Die Einführung eines neuen Book of Common Prayer wiederum entzweite die neue Kirche und führte zur Abspaltung der puritanischen Bewegung, die für eine weit reichende Reform der Kirche nach calvinistischen Grundsätzen eintrat. Die Puritaner erhielten in den folgenden Jahren immer größeren Zulauf und forderten neben einer strengen Sittenlehre auch die Trennung der Kirche vom König. Daneben entwickelte sich eine immer stärker werdende antikatholische Bewegung, die durch außenpolitische Ereignisse unterstützt wurde, die immer auch durch eine religiöse Brille interpretiert wurden: 1570 war die englische Königin Elisabeth I. vom Papst exkommuniziert worden, 1588 hatte die spanische, das heißt katholische Armada die englische Flotte angegriffen (diese Seeschlacht allerdings verloren) und 1605 wurde der Gunpowder Plot aufgedeckt, eine katholische Verschwörung gegen den König James I. und das Parlament. All diese Ereignisse schürten Ängste vor einer katholischen Invasion in den 1620er-Jahren. Der Ausbruch der Irischen Rebellion 1641 passte so in ein Selbstbild der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in welcher der «Antipapismus» zu einem wesentlichen Teil der Identität nicht nur auf nationaler, sondern auch auf lokaler Ebene geworden war.

Im Gegensatz dazu stand die Politik der Krone, die sich mit einer politischen Annäherung zuerst an Spanien, später auch an Frankreich |20◄ ►21| deutlich gegen die Erwartungen eines Großteils der Bevölkerung stellte. Die von König Charles I. geplanten kirchlichen Veränderungen wurden denn auch als Versuch interpretiert, die ursprüngliche Kirche wieder zu restaurieren. An der Finanzierung des Feldzuges gegen Schottland kam der versteckte Machtkampf zwischen Krone und Parlament, das sich als Vertretung der Bevölkerung und damit des «Antipapismus» sah, zum Ausbruch. Charles I. brauchte Geld für seine Kriege, das ihm aber nur das Parlament bewilligen konnte. Nachdem ein erster Versuch 1640 gescheitert war (das Parlament verweigerte dem König den Kredit und wurde schon drei Wochen später wieder entlassen), war Charles I. aufgrund seiner Finanznot gezwungen, noch im selben Jahr erneut das Parlament einzuberufen. Diesmal musste er dem Parlament Zugeständnisse machen und einen Teil seiner Souveränität abgeben: Die Bezahlung der Armee war neu eine Aufgabe des Parlaments. Damit konnte sich das Parlament zum ersten Mal in der Geschichte gegen einen Monarchen durchsetzen und seinen politischen Einflussbereich auf Kosten der Monarchie erweitern, womit die organisierte politische Vertretung der Gesellschaft eine bisher nicht gekannte Machtposition erhielt.

Die Streitigkeiten um Macht, Geld und Einfluss zwischen Parlament und König eskalierten in der Folge der Irischen Revolution und endeten mit der Hinrichtung des englischen Königs auf Befehl der führenden Offiziere am 30. Januar 1649: England wurde zur Republik und damit zu einem Modell für eine politische Ordnung, bei dem die Herrschaft auf eine breitere Schicht der Bevölkerung verteilt wurde.

Der Anfang der Republik war geprägt durch die Auflösung des Parlaments und den darauf folgenden Aufstieg Oliver Cromwells zum Lord Protector, einem Amt mit monarchischen Zügen. Cromwell herrschte vor allem in Irland mit großer Brutalität; Erfahrungen, die das englisch-irische Zusammenleben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägten. Kurze Zeit nach seinem Tod 1658 wurde die Monarchie wieder eingesetzt und Charles II. zum König gekrönt. Seine Herrschaft war von gegenseitigem Misstrauen zwischen Anhängern der Monarchie und der Republik bestimmt, wobei sich die Differenzen nicht nur auf die Frage nach der legitimen politischen Staatsform beschränkten, sondern immer auch mit konfessionellen Fragen vermischt wurden. Die weit verbreitete Furcht vor der Erstarkung der streng religiösen Protestanten auf der einen und der Katholiken auf der anderen Seite führte dazu, dass die Katholiken von sämtlichen zivilen und militärischen Staatsämtern ausgeschlossen wurden.

Nachdem Charles II. erst kurz vor seinem Tod offiziell zum Katholizismus übergetreten war, setzte sich sein Bruder und Nachfolger James |21◄ ►22| II., ebenfalls katholisch, offensiv für eine weitgehende Toleranz gegenüber dem Katholizismus in England ein. Von dieser Toleranzpolitik profitierten zwar die reformierten Splittergruppen, gleichzeitig verschärfte sich aber der konfessionelle Konflikt sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch auf der politischen Ebene und gipfelte in der Weigerung von sieben Bischöfen, eine im Mai 1688 vom König erlassene Toleranzerklärung offiziell zu verkünden, weil diese nach ihrer Ansicht die Rechte der Anglikanischen Kirche schmälerte. Die Bischöfe wurden daraufhin verhaftet, von der Kirche sowie von der Bevölkerung aber als Märtyrer gefeiert, womit sich die Verhaftung für die königliche Politik als Bumerang erwies. Darüber hinaus wurden sie im anschließenden Prozess auch noch freigesprochen, was die Niederlage des Königs zementierte und die verschiedenen Oppositionsgruppen vereinte. Von da an verlor die Regierung immer mehr die politische Kontrolle über das lokale Geschehen und die Kluft zwischen König und lokalen Machthabern, die auch im Parlament vertreten waren, wurde immer größer.

Mit Wilhelm III. von Oranien-Nassau, dem Schwiegersohn von James II., stand ein potenzieller protestantischer Nachfolger bereit, der nun von der Opposition eingeladen wurde, den als «vakant» bezeichneten Thron einzunehmen, da James II. seine Frau und seinen Sohn aus Sicherheitsgründen nach Frankreich hatte bringen lassen. Damit wurde auch deutlich, dass diese Auseinandersetzungen immer auch eine europäische Dimension hatten, da die Frage nach der Konfession des englischen Königshauses entscheidend für die Machkonstellation in Europa war. Ein katholischer König würde sich «naturgemäß» mit Frankreich und Spanien verbünden, ein protestantischer hingegen mit den deutschen Fürsten. Mit dem zeitweiligen Wechsel der Staatsform zu einer Republik und der Stärkung des Parlaments war zudem die Unantastbarkeit des Königs bzw. der Monarchie gebrochen und eine andere politische Organisationsform, die auch entscheidende Veränderung für die Gesellschaft bedeutete, denkbar geworden. Die Ereignisse in England wurden deshalb auch auf dem Kontinent interessiert beobachtet.

Im Januar 1689 wurde die Krone Wilhelm III. angeboten und dem Parlament wesentliche Machtbefugnisse schriftlich zugesichert. Mit diesem als Glorious Revolution (1688/89) bezeichneten Ereignis hatten sich in England und Schottland die Gegner des Absolutismus durchgesetzt – Frankreich erlebte zeitgleich den Höhepunkt der absolutistischen Herrschaft Louis XIV. – und die blutigen Wirren des Englischen Bürgerkriegs gehörten definitiv der Vergangenheit an. Mit der Verabschiedung der |22◄ ►23| Bill of Rights wurde die Grundlage für das noch heute bestehende parlamentarische System geschaffen, mit dem Parlament als Verkörperung der Staatssouveränität.

Das Konzept der «Politeness» als neue soziale Unterscheidung

Die neue politische Ordnung hatte konkrete Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben. Sie ließ bisherige soziale Unterscheidungsmerkmale obsolet werden und erforderte die Schaffung neuer, wofür sich der Begriff der Politeness anbot. Mit diesem Begriff wurden nicht mehr zwingend standes- oder herkunftsabhängige Eigenschaften bezeichnet, die zudem auch nicht mehr dem Schema der konfessionellen Trennung und der damit verbundenen Parteigebundenheit in Tories und Whigs folgte. Mit dem Konzept der Politeness konnte nicht nur zwischen der Elite und der Masse unterschieden werden, sondern es ermöglichte auch eine Differenzierung innerhalb der Elite selber, indem damit das richtige Benehmen und der gute Geschmack bezeichnet wurden. Wichtig an diesem Konzept war die Idee des «Gefallens», weil damit die Hoffnung verbunden war, dadurch nicht nur das Gefühl des Menschen für sich selber verbessern zu können, sondern auch die Art, wie und auf welche Weise soziale Beziehungen zu pflegen seien. Politeness bezeichnet damit eine verbesserte Gesellschaftlichkeit, die ästhetische und ethische Anliegen in eine enge Verbindung brachte.

Damit löste Politeness auch das ältere Konzept des Virtuoso ab, welches im England des 17. Jahrhunderts sehr beliebt gewesen war. Der ursprünglich aus dem Italienischen stammende Begriff bezeichnete die «adeligen Virtuosi», womit Menschen bezeichnet wurden, die sich hauptsächlich für antike Gegenstände, Malerei und naturphilosophische Themen interessierten, wobei in der englischen Ausprägung die beiden ersten Themen zugunsten der Naturwissenschaften marginalisiert wurden. Ein Virtuoso war aber auch jemand, der diese Beschäftigung als Möglichkeit ansah, seine freie Zeit sinnvoll zu nutzen und dabei gleichzeitig zur gesellschaftlichen Unterhaltung beizutragen. Mit der zunehmenden Bedeutung der Industrie, womit nicht nur eine bestimmte Produktionsart, sondern auch eine Geisteshaltung bezeichnet wurde, geriet dieser Lebensstil immer stärker in eine Krise und wurde durch das Konzept der Politeness abgelöst. Dabei wirkte unterstützend, dass das Betätigungsfeld des Virtuoso zunehmend von professionellen Sachverständigen besetzt worden war und deshalb immer weniger Spielraum für Amateure bot.

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Mit dem Konzept der Politeness war eine radikale soziale Revolution verbunden. Es bot eine Alternative zu Tugendvorstellungen des 17. Jahrhunderts an und war eine Möglichkeit, veränderliche und auf Austausch basierende Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen zu bestimmen, während die traditionellen Tugendkonzepte diese Beziehungen eher träge und statisch fassten. Vereinfachend können diese beiden Tugendkonzepte deshalb mit unterschiedlichen sozialen Gruppierungen und Lebensentwürfen innerhalb der Gentry in Verbindung gebracht werden. Mit dem Begriff Gentry wird eine nicht genau abgrenzbare Schicht des englischen gehobenen Bürgertums und des niederen Adels bezeichnet, die nicht dem Klerus oder dem Hochadel, aber auch nicht dem niederen Bürgertum angehört.

Während sich die agrarische Oberschicht (Tories) an einem traditionellen Tugendbegriff orientierte, bevorzugte die handelsorientierte Oberschicht (Whigs) ein moderneres Konzept, das zudem mit ihren beruflichen Erfahrungen kompatibel war. Politeness schien eine Möglichkeit zu bieten, den Dualismus zwischen Moral und Fortschritt zu überwinden, indem Fortschritt und Tugend verbunden wurden, was gerade für die Vertreter einer auf Handel und wirtschaftlichem Austausch konzentrierten Bevölkerungsgruppe sehr attraktiv war. Es bot aber auch eine soziale Selektionsfunktion an, die nicht primär Oberschicht von Unterschicht trennte, sondern Möglichkeiten der Unterscheidung innerhalb der Oberschicht eröffnete. Damit zeigen sich Parallelen zur Situation in Deutschland zur Zeit der Herausbildung des Bildungsbegriffs, mit welchem ebenfalls eine Möglichkeit der sozialen Unterscheidung geschaffen wurde (vgl. Kapitel 4).

Die Verbindung von Ethik und Ästhetik

Eine letzte, für die Entwicklung des Bildungsbegriffs wichtige kulturelle Voraussetzung war die Verbindung von Ethik und Ästhetik. Diese wurde nicht nur im Rahmen des Konzepts der Politeness diskutiert, sondern gilt als eine der philosophischen Hauptdebatten des 18. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Frage, ob das Schöne bloß subjektiv und damit einer begrifflichen Bestimmung nicht zugänglich sei oder ob das Schöne in einer ästhetischen Theorie formuliert werden könne. Damit eng verbunden war die Frage, was der Orientierungspunkt für das Schöne sein könne. Die möglichst genaue Abbildung der Wirklichkeit oder die Umsetzung individueller Phantasie? Ist das Ziel der Ästhetik die Abbildung der Vollkommenheit der Natur oder der (künstlerische) Ausdruck der Phantasie?

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Die Beantwortung dieser Frage war Anlass des berühmten «Literaturstreits» zwischen den beiden Zürcher Philologen und Professoren Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger auf der einen Seite sowie dem Hallenser Schriftsteller Johann Christoph Gottsched auf der anderen. Der literaturtheoretische Streit konzentrierte sich auf die Frage nach dem Grad der «Naturähnlichkeit» von Dichtung und hatte sich an der 1732 von Bodmer verfassten Übersetzung von John Miltons Paradise Lost (1667) entzündet, einem epischen Gedicht, das die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies aus puritanischer Sicht beschreibt. « Naturähnlich» hieß in diesem Kontext die möglichst vollständige und realistische Abbildung des Vorbildes, da die Natur als vollkommen angesehen wurde. Die gegenteilige Position vertrat den Standpunkt, dass der schöpferischen Kraft des Autors, also der Phantasie, ein angemessener Platz einzuräumen sei.

In diesem Streit wurde somit eine ähnliche Fragestellung diskutiert, wie sie einige Jahrzehnte zuvor schon die französische Literatur und Kunst beschäftigt hatte, wobei sich die damalige Debatte, die als Querelles des Anciens et des Modernes bekannt geworden ist, explizit an der Frage nach der Vorbildfunktion der Antike entzündet hatte. Die Antike galt bis dahin – nicht nur für die Literatur und Kunst, sondern während vielen Jahrhunderten auch für die Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie – als unübertreffbar und damit als oberste Instanz für Wahrheit. Mit der Vorbildfunktion der Antike war auch die Frage angesprochen, ob es angesichts der vorausgesetzten Vollkommenheit der Antike überhaupt noch möglich sei, Neues zu erschaffen. Während diese Frage für die Naturwissenschaften und die Medizin immer bedeutungsloser wurde, da neue Erkenntnisse die antiken Theorien je länger je deutlicher revidierten, zeigte sich dieses Verhältnis sowohl in der Philosophie als auch in der Ästhetik sehr viel weniger eindeutig.

Im Literaturstreit des 18. Jahrhunderts konnten sich die beiden Zürcher durchsetzen und wurden zu den Wegbereitern des Geniekults und der deutschen Romantik, weil sie der Phantasie in der Ästhetik eine bedeutende Rolle zusprachen. Das schöpferische Element wurde immer mehr zu einem entscheidenden Kriterium der Kunst. Es setzte sich eine ästhetische Theorie durch, die das Schöne nicht in einer reinen Abbildung der Wirklichkeit verkörpert sah, sondern in der Umsetzung von künstlerischen Vorstellungen. Trotzdem orientierte sie sich immer noch an der antiken platonischen Tradition, die von einer Übereinstimmung des Schönen und des Guten ausging. Das hatte zur Folge, dass die Fähigkeit, das Schöne zu erkennen, was Aufgabe des Geschmacks war, entwickelt|25◄ ►26| oder «gebildet» werden musste. Der Geschmack war dabei nicht unvernünftig, da man davon ausging, dass sich im Geschmack die Seele zeige, die als Teil des Verstands angesehen wurde.

Definition

Das Schöne und das Gute bei Platon: Die Vorstellung, dass das Schöne gleichzeitig auch das Gute sei, dass also Ästhetik und Ethik übereinstimmen, stammt aus der Ideenlehre des antiken griechischen Philosophen Platon, der diese aber nie als Gesamtkonzept formuliert hat. Trotzdem ist sie in der Geschichte der Philosophie äußerst wirkungsmächtig geworden. Ideen sind bei Platon keine Einfälle oder Gedanken, sondern der Ursprung alles Denkbarem und damit des Seins, das, mit der Idee des Guten als oberstem Prinzip, zudem hierarchisch geordnet ist. Alles dem Menschen Erkennbare wiederum ist nur ein Abbild der eigentlichen Idee und kann deshalb nur unvollständig und verzerrt erkannt werden. Verhältnismäßig ausführlich wird die Ideenlehre in der Politeia ausgeführt, einer Abhandlung über die gerechte Staatsordnung. Die Idee des Guten wird dabei als oberstes Leitprinzip verstanden, an welchem sich ein Staatswesen zu orientieren hat. Diesem Prinzip folgend, muss die Idee des Schönen mit der Idee des Guten übereinstimmen.

Die Aufgabe der Geschmacksbildung wurde nun den literarisch-ästhetischen Erfahrungen übertragen, wodurch Literatur – und dadurch auch die Schriftsteller und Autoren – eine ganz neue Funktion erhielt. Nicht zufällig entstand in dieser Zeit in England die Literatur des Sentiment, die im deutschsprachigen Raum ihre Entsprechung in der Tradition der Empfindsamkeit hatte. Aus dieser wiederum entwickelte sich der Sturm und Drang, der seinerseits einer der literarischen Träger der Bildungstheorie wurde (vgl. Kapitel 2). Die Literatur sollte mit Beispielen und der Erzählung von Ereignissen den Leser dazu motivieren, Gutes zu tun. Ein ästhetisches Vorbild wurde demnach dasjenige Kunstwerk, das fähig war, diese Handlung im Betrachter hervorzurufen. Damit wurde nicht nur eine moralisch gute Handlung vollbracht, sondern es wurde gleichzeitig auch die eigene Seele gebildet, womit eine Annäherung an die eigene Vollkommenheit, die sich in Schönheit ausdrückt, möglich wurde.

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Literatur

Bollenbeck, Georg (1996): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters (1994). Frankfurt am Main: Suhrkamp

Cassirer, Ernst (2007): Die Philosophie der Aufklärung (1932). Hamburg: Meiner

Klein, Lawrence E. (2002): Politeness and the Interpretation of the Eighteenth Century. In: The Historical Journal, Vol. 45, No. 4, S. 869 – 898

Osterwalder, Fritz (1999): Pädagogik im Umfeld moderner Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert. In: Jürgen Oelkers & Daniel Tröhler (Hg.): Die Leidenschaft der Aufklärung. Studien über Zusammenhänge von bürgerlicher Gesellschaft und Bildung. Weinheim & Basel: Beltz, S. 31 – 51

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