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Rimini Protokoll: Das Feld in der Ferne

Die Arbeitsweise des ‚Performancelabels‘, so die Selbstbezeichnung von Rimini Protokoll, legt fast paradigmatisch eine ethnologische Wende der Theaterpraxis nahe: Rimini Protokolls Call Cutta kann bereits als kanonisches Beispiel für postdramatisches Theater bezeichnet werden, da es den Zuschauer zum Teilnehmer macht und auf professionelle Darsteller verzichtet. Der ursprüngliche Theater-Zuschauer wird Teilnehmer und selbst Akteur, der eigentlich Unbeteiligte selbst Teil der Performance.1 Das „interkontinentale Theaterstück“ Call Cutta wurde zwischen 2005 und 2012 in mehreren Iterationen aufgeführt. Die erste Variante fand in der titelgebenden Stadt Kalkutta statt; eine zweite wurde in Berlin und weitere, ‚kompaktere‘ Versionen – Call Cutta in a box – in diversen Städten realisiert.

Bei allen Versionen sind die wichtigsten Performer „ausgelagert“. So befinden sie sich – beispielsweise aus mitteleuropäischer Sicht 15.000 km und viereinhalb Stunden Zeitverschiebung östlich – im Infinity Tower, Nordostkalkutta, Indien. Es handelt sich um Angestellte in einem Callcenter. Sie folgen einem vorgegebenen Skript, das nach vielen Seiten offen ist, sie wissen zum Beispiel über Berlin viel, aber ansonsten wenig, obwohl sie den Teilnehmern genaue Anweisungen geben.

Der Anrufer ist Regisseur und der Angerufene der Zuschauer, die Bühne ist das Labyrinth von engen Gassen, Hinterhöfen, Hausdurchgängen und belebten Sträßchen in Hatibagan, Nordkalkutta, jenem ältesten und geschichtsträchtigsten Teil der Stadt. Während der Zuschauer, Knopf im Ohr, durch den Irrgarten geführt wird, auf Skulpturen an den Fassaden schaut, vom Leben längst verblichener Schauspielerinnen erfährt, die just in dem Haus geboren wurden, das er gerade passiert, fühlt er sich vom Strudel von Geschichte und Geschichten erfasst, und die enge, arme, durchaus heitere Nachbarschaft verwandelt sich zu seiner Bühne und er zum Akteur.2

Wie in fast allen ihrer Arbeiten untersuchen Rimini Protokoll in Call Cutta ein im weitesten Sinne soziales Problem, oft in Bezug auf Fragen der Globalisierung, des Neoliberalismus und einer sich verändernden Arbeitswelt. Ob in Kalkutta oder Berlin, die Zuschauer/Akteure/Teilnehmer sind keine Fremden, sondern Einheimische, die ihre eigene Stadt erkunden, obwohl es sein kann, dass der Stadtteil ihm/ihr unbekannt ist. Verknüpft wird diese Tour mit der Erkundung des Callcenter-Betriebs (oder -Business), und vor allem mit dem besonderen Rollenspiel, dem Fingieren von Nähe und Vertraulichkeit, das zum „Aufgabenrepertoire“ der Angestellten gehört.

Die Frage ist, ob und inwiefern von einer ethnologischen oder gar ethnographischen Haltung oder Einstellung gesprochen werden kann? Sind die Zuschauer gleichsam Ethnographen der eigenen Umgebung? Welche Haltung wird von ihm/ihr verlangt? Bei allen kognitiven Dissonanzen, die Aufführungen von Rimini Protokoll gelegentlich auslösen, sind sie edukativ angelegt. Eine Ebene der Projekte scheint stets auf Wissenserwerb ausgerichtet zu sein.

Meine These lautet, dass bei Call Cutta eine ethnographische Haltung simuliert wird: Der Teilnehmer – von Zuschauer kann hier nur bedingt die Rede sein – wird zum teilnehmenden Beobachter, der mit der fremden Umgebung und der fremden Person am anderen Ende der Leitung interagiert. Natürlich kann nur von einer Simulation die Rede sein, weil teilnehmende Beobachtung als wissenschaftliche Methode eine völlig andere Zeit- und Raumerfahrung voraussetzt, denn Grundvoraussetzung sind meistens mehrere Monate im Feld. Dennoch ist die vom Teilnehmer erwartete Haltung eher mit Wissenserwerb als mit ästhetischer Erfahrung im engeren Sinne verbunden. Ich will nicht behaupten, dass Wissensaneignung im Mittelpunkt steht, aber sie spielt eine ungleich wichtigere Rolle als in einer normalen Stadttheater-Aufführung eines Klassikers. Je nachdem, wo Call Cutta stattfindet – in Kalkutta oder Berlin – werden den Teilnehmern während der Erkundungstour zahlreiche Informationen mitgeteilt. Dies gilt auch für die fingierte intime Beziehung zwischen Hörer und Sprecher, die ebenfalls zur Botschaft der Aufführung gehört. Sie doppelt gleichsam die fingierte Vertraulichkeit, wie sie als Grundvoraussetzung für das Geschäftsmodell Callcenter gilt. In der strukturellen Anlage der Performance, dem Nachspüren eines bestimmten Weges oder Pfades durch die Stadt, lässt sich eine performative Umsetzung des von Marcus formulierten Appells an die ethnographische Forschung im Sinne eines multisituierten Ansatzes wiederfinden: man folgt einer Sache, der Metapher, einer Person usw. Diese ‚Verfolgung‘ manifestiert sich auf zwei Ebenen: Erstens folgen die Teilnehmer dem vorbestimmten Weg, zweitens der Stimme aus Kalkutta. Diese räumliche Dissoziation zwischen Hörer und Sprecher zeichnet die Konfiguration eines globalen Arbeitsmarktes nach. Auch thematisch, im (performativen) Nachvollzug der Arbeitsbedingungen der Callcenter-Arbeiter in Indien, bewegt sich damit die Performance in die Nähe der Ethnologie: Die Arbeitsethnologie, ‚Anthropology of Work‘, bildet eine eigene und gewichtige Subdisziplin und gehört zum klassischen Arbeitsbereich der Kulturanthropologie.3

Das Thema ‚Arbeit‘ wird in einem weiteren in Istanbul realisierten Projekt vertieft, Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls (2010). Es handelt von „Experten des Alltags“, in diesem Fall von Wertstoffsammlern, auch despektierlich „Müllmänner“ genannt, in Istanbul, ihren Routen, ihren Tagesabläufen, ihrem mikroskopischen Blick auf Müll, der mit einem globalen Markt verbunden ist. Gesucht wird nach wertvollen Metallen wie Kupfer, Stahl oder sogar Gold (der Titel verdankt sich dem bekannten Spruch: „Istanbuls Boden ist mit Gold gepflastert“). Die vier ‚Darsteller‘ sammeln Müll in den Straßen Istanbuls. Sie werden zu Protagonisten eines Theaterstücks, indem sie auch von ihrem Leben und ihrer Kultur, ihren Träumen und Albträumen, Hoffnungen und Sehnsüchten erzählen. Auf einer zweiten Kommentarebene agiert ein türkischer Schattenspieler, Hasan Hüseyin Karabag, der ihre Erzählungen mit den Mitteln des karagöz-Theaters ironisch-komisch kommentiert. Im Laufe des Abends wird immer deutlicher, wie sich der Arbeitsalltag der Protagonisten gestaltet: Da ist einerseits der Kleinkrieg mit den Istanbuler Behörden, andererseits die Bedeutung der Weltmarktkurse für Kupfer, Stahl, Gold, Papier, die ihre Arbeit ständig beeinflusst. Thematisiert wird auch die Beziehung von Rimini Protokoll zu den türkischen Wertstoffsammlern als „Experten“, und deren anfängliche Vorurteile, aber auch Ängste, für künstlerische und ethnographische Zwecke ausgenutzt zu werden. Somit wird in diesem Stück zum ersten Mal „die produktionseigene Metaebene ihres Arbeitsprozesses freigelegt“. Die Fragen, die sich während der ‚Probenphase‘ stellten, werden von den Protagonisten auf der Bühne diskutiert: „Was bedeutet es für einen Wertstoffsammler, sein Leben auf Festivalbühnen auszubreiten? Wie greift das Bühnenunternehmen in seine Existenz ein? Und welche Rollen spielen die Klischees, die die beiden aufeinander treffenden Milieus vom jeweils anderen haben?“4

Die türkischen Wertstoffsammler sind, wie bereits sagt, Beispiele für die inzwischen berühmt gewordenen „Experten des Alltags“, die Rimini Protokoll mit Vorliebe auf die Bühne bringen. Dadurch entsprechen sie in einem gewissen Sinne den neuesten ethnologischen Forderungen nach Multivokalität und Selbstartikulation, hier auf dem Gebiet der darstellenden Künste. Ich erinnere noch einmal an Conquergoods Forderung aus den frühen 1990er Jahren: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“ Was Conquergood in Hinblick auf alternative Darstellungsmodalitäten ethnologischer Forschung formulierte, erfährt hier eine schlichte, aber wirkungsvolle Umkehrung: Das Theater wird zum Darstellungsort ethnographischer Fragestellungen gemacht.

Ein zweiter Aspekt, der die Verbindung zwischen Theater, zumindest postdramatischem Theater, und Ethnologie stärkt, ist die Arbeitsweise der Gruppe. Recherche und Vorbereitung ihrer Projekte haben durchaus einen ethnographischen Ansatz. So formuliert ein Mitglied des Kollektivs, Daniel Wetzel, die Motivation ihrer Arbeit sei das Interesse an anderen Kulturen:

One of the things that drives me, or also my colleagues in our theater work, […] is to open up something new – that is, to gain access to a country, a society, to a way of thinking, to a way of living. Firstly, the experience of getting to know something for oneself, and doing so through personally looking, rather than say, via a medium such as the internet; and secondly, the achievement of new perspectives through the input of outsiders who have a certain distance from the people and situation being explored.5

Der Wunsch, sich Zugang zu einer fremden Kultur zu verschaffen, kann vielleicht als Urtrieb aller Ethnologen bezeichnet werden, da ihr Beruf letztlich darauf beruht, diese Motivation in die Tat umzusetzen. Diese ethnographische Forschungsmethode und Betrachtungsweise wird dann in eine theatrale Form übersetzt, die vor allem dazu dient, den Experten des Alltags einen halbwegs sicheren Rahmen zu gewährleisten, in dem die Nicht-Schauspieler agieren können. Dieses Problem stellt sich bei Audiowalks wie Call Cutta etwas anders, weil die ethnographische Fremderfahrung auf den Teilnehmer übertragen wird. Beiden Ansätzen liegt jedoch ein gemeinsamer Wunsch zugrunde, Wissenserwerb und ästhetische Erfahrung in einem neuen Verhältnis auszubalancieren.

Hunger for Trade: Multisituiertes Theater

Das zweite Beispiel, Hunger for Trade, verkörpert noch expliziter das Problem der multi-sitedness, und zwar sowohl aus einer produktions-ästhetischen als auch aus einer organisatorischen Perspektive. Hunger for Trade: Ein internationales Theaterprojekt über den globalen Nahrungsmittelmarkt wurde am Hamburger Schauspielhaus unter der Leitung von Clemens Bechtel zwischen 2013 und 2014 in Zusammenarbeit mit acht weiteren Theatergruppen und Ländern realisiert.1 Ziel des Projekts war es, ein internationales Theaternetzwerk aufzubauen, das die „Möglichkeiten eines globalen, multiperspektivischen und politischen Theaters erprobt.“2 Das Thema war die globale Nahrungsindustrie und deren vielfältige Verflechtungen. Hintergrund und Ausgangspunkt waren folgende Überlegungen: Seit 2002 seien die Preise für Grundnahrungsmittel in Folge von Spekulation, Umnutzung von Agrarflächen für Biosprit-Gewinnung, klimatischen Veränderungen und dem Anstieg der Weltbevölkerung um fast 180 % gestiegen. Versorgungskrisen und teilweise in Gewalt mündende Protestaktionen in Afrika, Asien und Südamerika 2008 seien genau wie die revolutionären Ereignisse in Ägypten 2010/2011 maßgeblich durch die hohen Nahrungsmittelpreise beeinflusst. Darüber hinaus formiere sich der Nahrungsmittelmarkt neu: Während sich für afrikanische Kleinbauern durch die Preissteigerungen teilweise neue Absatzmöglichkeiten ergeben, komme es in anderen Ländern zu einem Ausverkauf von Agrarflächen an multinationale Konzerne. In Asien und Südamerika werden Bauern von den Feldern vertrieben, die sie seit Generationen bewirtschaften, gleichzeitig werden in Europa Landwirte und Agrarfabriken mit EU-Subventionen unterstützt.3

Hunger for Trade begegnet der Komplexität des beschriebenen Themas mit einem international angelegten Theaterprojekt. Basierend auf einem parallel durchgeführten und vernetzten Rechercheprozess entwickelten Künstler aus vier Kontinenten an neun verschiedenen Theatern bzw. Standorten inhaltlich und formal eigenständige Dokumentar-Inszenierungen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Themas auseinandersetzen. Zugleich fand ein „Schulterschluss“ zwischen Kunst und Wissenschaft statt, der seinerseits innovative ästhetische Formate zu entwickeln versuchte. Dazu kamen im Projekt verschiedene Strategien zum Tragen: Der öffentliche, künstlerisch-wissenschaftliche Austausch zum Beispiel bei einer internationalen „performativen Konferenz“, die Initiation von neuen Theaterprojekten in neun Ländern mit namhaften Künstlern und deren Vernetzung auf allen Ebenen der Arbeit sowie die nachhaltige und langfristige Verankerung der Thematik durch eine öffentlich nachvollziehbare Recherche, die online durch ein WebDoc dokumentiert wird. WebDoc ist ein Online-Format, das weltweit dem Besucher ermöglicht, dokumentarische Inhalte, z.B. Videos, Texte, Tondokumente oder Bilder, aber auch Diskussionen und Kommentare in leicht zugänglicher Art interaktiv zu erleben.4

Das Projekt gliederte sich in fünf Etappen: eine Auftaktkonferenz im November/Dezember 2013; eine von Januar bis März 2014 andauernde Recherchephase; eine Probenphase (März/April 2014); die ortsverteilten Aufführungen von April bis Juni 2014; und ein „Abschlussmarathon“ im Juni 2014. Die am ursprünglichen Konzeptpapier orientierte Beschreibung des Projekts, das Ende Mai 2014 am Hamburger Schauspielhaus zu einem vorläufigen Abschluss gebracht wurde, macht bereits deutlich, wie sehr die Theaterarbeit nicht nur ethnologische und ethnographische Fragestellungen aufgriff, sondern auch deren Arbeitsmethoden adaptierte. Die sogenannten ‚core themes‘ – Farming, Trading, Eating, Starving, Politics & Markets, Food Arts – ließen sich ohne weiteres in ein ethnologisches Forschungsprogramm integrieren. So befasste sich das Théâtr’Evasion in Ouagadougou, Burkina Faso im Rahmen ihres Stücks Greve de la faim (Hungerstreik) mit dem Konnex von Hunger und Handel. Das Indian Ensemble aus Bangalore behandelte in einem am dortigen Goethe-Institut aufgeführten Stück Thook die Auswirkungen neoliberaler Reformen auf Nahrung in Indien. Eine Besonderheit dieses Theaterprojekts war der hohe Grad der Vernetzung zwischen den jeweiligen Projekten, die ‚Rechercheaufträge‘ an andere Projekte vergeben konnten, um auf der Forschungsebene der internationalen Verflechtung der Lebensmittelindustrie gerecht zu werden.

Die Innovation des Projekts liegt sicherlich im konzeptionellen Zuschnitt. Die ethnologische Reorientierung hin zu multi-sitedness wurde in den Vorbereitungs- und Recherchephasen umgesetzt. Weniger ‚erfolgreich‘, zumindest im Sinne der öffentlichen Resonanz, waren die eigentlichen Aufführungen und vor allem der ‚Abschlussmarathon‘ am 30.05.2014, an dem alle Projekte im Hamburg online in einer Live-Schaltung hätten gezeigt werden sollen. Große technische Probleme führten dazu, dass dieser Teil nur unzureichend realisiert werden konnte. In einer der wenigen Kritiken des Abends heißt es:

Beim Finale am Freitag sollen die unterschiedlichen Produktionsorte miteinander vernetzt werden. Mit Videobeamern und Laptops haben sich die Macher in den Malersaal des Schauspielhauses zurückgezogen. Das Internet soll die weltweit zeitgleichen Abschlussveranstaltungen über Tausende Kilometer verbinden. Doch es entstehen große technische Probleme: Die Datenverbindungen streiken und Gespräche können nicht geführt werden. Steht die Leitung doch, kommt die Gesprächsführung wegen der schlechten Übertragungsqualität oft über ein Grußwort nicht hinaus.5

Nichtsdestotrotz kann als Fazit gezogen werden, dass Hunger for Trade neuartige Kooperations- und Arbeitsprozesse erprobte, die einerseits ethnologische Forschung und theaterkünstlerische Arbeitsmethoden eng aufeinander bezogen und sich andererseits der Herausforderung ortsverteilter Theaterproduktion stellte.

Fazit: zur Konvergenz von Theater und Ethnologie

Ethnologische Weltaneignung im Theater bedeutet eine Verschiebung von der „Verrätselung der Welt durch die Kunst“, um mit Adorno zu sprechen, hin zu einer Enträtselung und Deutung der Welt und ihrer Zusammenhänge. Dies bedeutet auch eine Neuordnung des Theaterrahmens im Sinne Erving Goffmans. Was wir von Theater erwarten, verändert sich offensichtlich. Am Ende des Hahnenkampf-Aufsatzes zitiert Clifford Geertz den Literaturwissenschaftler Northrope Frye: „Niemand ginge in eine Vorstellung von Macbeth, um etwas über die Geschichte Schottlands zu erfahren; man will erfahren, wie sich ein Mann fühlt, der ein Königreich gewonnen, aber seine Seele verloren hat.“ Geertz fährt selber fort:

So schafft [der Hahnenkampf] etwas, das man vielleicht […] ein paradigmatisches menschliches Ereignis nennen könnte, denn es sagt nicht so sehr, was geschieht, sondern eher, was in etwa geschehen würde, wenn das Leben – was ja nicht der Fall ist – Kunst wäre und so uneingeschränkt wie bei Macbeth und David Copperfield von Gefühlen bestimmt sein könnte.1

Bei allen Konditionalsätzen und Theatermetaphern nimmt Geertz doch eine kategoriale Unterscheidung zwischen Theater und Hahnenkampf und somit zwischen Literatur- bzw. Theaterwissenschaft und Ethnologie vor. Heute aber, im Zeitalter des postdramatischen Theaters, ist es nicht mehr so gesichert, ob man in eine Theatervorstellung geht und nichts über die Kultur Westafrikas, die Arbeitsbedingungen der Callcenter-Angestellten in Kalkutta, die Müllarbeiter in Istanbul oder die globalen Verflechtungen des Lebensmittelmarktes erfahren will. Bei den heutigen dichten Aufführungen heißt es: Wissenserwerb wahrscheinlich, aber ästhetische Erfahrung ohne Gewähr.

C’est du Chinois

Theater für Experten des Nicht-Verstehens

Bart Philipsen (Leuven)

Das Forschungsthema ‚Theater und Ethnologie‘ mag auf den ersten Blick andere Schwerpunkte nahelegen, als den des sprachlich Fremden im geläufigen Sinne. Die Frage der Anderssprachigkeit und die damit zusammenhängenden Verständigungs- und Übertragungsprobleme in internationalen bzw. interkulturellen Theateraufführungen werden in heutigen Produktionen längst mittels eingeblendeten Übertiteln gelöst (oder übersprungen). Die exemplarischen Überschneidungen zwischen ethnologisch-anthropologischen, soziologischen und theaterwissenschaftlichen Interessen situieren sich vor allem seit den grundlegenden Arbeiten von Victor Turner und Richard Schechner in erster Linie im Bereich des kulturell Performativen, wobei sowohl nach der Theatralität und Dramatik bestimmter kultureller Praktiken und Prozesse gefragt als auch auf das Potential zur ästhetischen (und kritischen) Reflexion solcher ‚cultural performances‘ in künstlerischen Praktiken, im Besonderen im Bereich des Theaters, fokussiert wird.1 Das Interesse für ethnologisch-anthropologische Fragestellungen hat in den Theaterpraktiken sowie in der Theaterwissenschaft, vor allem in den USA und Europa, ebenfalls zu einer zunehmenden Aufmerksamkeit für einerseits nicht-europäische Theateraufführungen und Praktiken und andererseits nicht-dramatische und durchaus zeremonielle bzw. kultisch-rituelle Aspekte vormoderner europäischer Aufführungstraditionen geführt. Die Verschiebung des Interesses zum kulturell Fremden sowie zum Rituellen ging und geht nicht selten mit einer Kritik am ‚abendländischen‘ Diskurs-primat einher, einer Infragestellung der westlichen Tradition psychologisch gesteuerten Texttheaters, insbesondere des modernen Dramas (Szondi), dessen Handlung ganz von dialogisierenden Personae, das heißt also: exklusiv durch verkörperte Sprechakte durchgeführt wird.2 Diese Tendenz zu nicht-dramatischen bzw. nicht-diskursiven Theaterpraktiken könnte allerdings auch als Folge des Interesses an fremdsprachigen Theaterformen oder kulturellen Performances betrachtet werden; ist das Verstehen in solchen Fällen doch überwiegend auf eine andere als linguistische, d.h. eher auf eine materielle, sinnliche oder körperliche Zeichensprache angewiesen. Die Kritik am Text- bzw. Diskursprimat der westlichen Theatertradition und die Verlagerung des Fokus auf nicht-semantische, körper- oder dingbetonte Zeichensprachen droht freilich auch eine althergebrachte kolonialistische (ggf. orientalistische oder exotistische) Repräsentationslogik zu bestätigen, auch wenn augenscheinlich nur materielle performative Praktiken betont werden.3 Die einseitige Aufwertung von Musikalität (oder sprachlicher Materialität), Sinnlichkeit und Ritualismus in nicht-europäischen oder nicht-angloamerikanischen Aufführungen, und die spiegelverkehrte Abwertung abendländischer Diskursivität setzen eine durchaus problematische Dichotomisierung fort, die den Fremden nur um den Preis der Sprachlosigkeit bzw. der stummen Körperlichkeit und der grundsätzlichen Unverständlichkeit als den absolut Anderen zu schätzen droht. Dabei verliert man vielleicht aus dem Auge, dass der westlichen Denk- und Wahrnehmungsmustern und diskursiven Modellen öfters zur Last gelegte ‚Logozentrismus‘ in der sich globalisierenden Welt wohl kein exklusiv europäisch-angloamerikanisches ‚Übel‘ mehr ist; überall sind diskursive Mechanismen der Vereinheitlichung, Reduktion, Ein- und Ausschließung sowie der dichotomisierenden Logik wirksam, um kulturelle und linguistische Differenzen entweder zum Zweck weiterer Globalisierung homogenisierenden Strategien zu unterziehen oder (und zugleich) zu bestimmten (sogar marktwirtschaftlichen) Zwecken einer durchaus nationalistischen Identitätspolitik zu unterwerfen. Sprach- und Diskurspolitik und die durch diese eingesetzten performativen Strategien sind wohl wesentliche Instrumente solcher Identität und Homogenität produzierenden Mechanismen, und genuine kulturelle Differenzerfahrungen werden nicht zuletzt solchen Gegenstrategien abgewonnen werden müssen, die eine homogenisierende diskursiv-semantische Logik unterminieren und pervertieren.

Aus diesem Grund wird längst keiner mehr bestreiten, dass Sprachlichkeit als solche – d.h. linguistische Diskursivität – inzwischen einen nicht unbedeutenden Faktor in der Debatte über Theater und Ethnologie, eben auch im oben erwähnten erweiterten Sinne des Interkulturellen, darstellen kann. Das dürfte mit einem verschärften Bewusstsein der in vielen großstädtischen Räumen anwesenden kulturellen Vielfalt oder ‚Multikulturalität‘ zusammenhängen, durch die alte binäre und dichotomische Kategorien und diskursive Strategien des Eigenen und des Fremden schwer unter Druck geraten sind und kulturelle sowie auch sprachliche Hybridität keine Ausnahme mehr bilden. Die Erfahrung kultureller Differenz hat nicht nur zu einer verfeinerten und differenzierteren Semantik von Alterität und Differenz jenseits von und manchmal quer zu den alten Grenzziehungen des Eigenen und des Fremden geführt, sondern die reflektierte Sprachlichkeit der produzierten Repräsentationen kultureller Differenz überschneidet sich auch mit der realen Wahrnehmung einer Multilingualität, die Konzepte wie Muttersprache und Fremdsprache und die in ihnen wirksamen Kräfte der Zuordnung und Zugehörigkeit in Frage stellt.4

Die mit der Hürde der Fremdsprachen bzw. der Anders- und Vielsprachigkeit verbundenen Schwierigkeiten lassen sich kaum von der Problematik der Übersetzung trennen. So wie ethnologisch-anthropologische Fragestellungen den Kultur- und Geisteswissenschaften neue Impulse gegeben haben und Performativitäts- und Theatralitätskonzepte paradigmatisch für andere kulturelle Forschungsobjekte geworden sind,5 so lässt sich auch der aktuelle Erfolg der Übersetzungswissenschaft in den Geisteswissenschaften verstehen. Nicht nur ist sie seit einiger Zeit als eine akademisch (und theoretisch) salonfähige Forschungsdisziplin sowohl in literaturwissenschaftlichen bzw. theoretischen und hermeneutischen als auch in kulturwissenschaftlichen Debatten, etwa über Prozesse kulturellen Transfers, ausdrücklich anwesend; so ausdrücklich, dass man von einem translational turn6 in den Kulturwissenschaften spricht; die Sensibilität für Sprachdifferenz und Sprachlosigkeit in der Theoriebildung (und selbstverständlich auch der Praxis) der Übersetzungswissenschaft bedeutet auch für die Philologie eine Herausforderung und eine Möglichkeit, sowohl ihren Gegenstand als auch ihren Auftrag grundsätzlich neu zu überdenken. Denn die Einsicht in die unaufhebbare Differenz zwischen der unaufhaltsamen und kaum einzugrenzenden Dynamik des Sprechens und den homogenisierenden Standards der (National-)Sprache(n) (langue), die Einsprachigkeit als kulturpolitisches Projekt fördern und konstituieren, zwingt nicht nur das Geschäft des Übersetzens zu einer grundsätzlichen Reflexion über den Akt des Übersetzens und dessen Koordinaten, Grenzen und Ziele; sie führt auch dazu, dass jede Art von Sprach-Wissenschaft sich mit einem Objekt konfrontiert sieht, das den es konstituierenden Beschreibungs- und Zuweisungsstrategien Widerstand leistet und sich ihnen als festumrissenes Wissensobjekt letztendlich entzieht. Die Infragestellung der dichotomischen Logik des Eigenen und des Fremden, die mittlerweile jeder zeitgenössischen wissenschaftlich fundierten ethnologischen Perspektive zugrunde liegen muss, wird wohl nirgendwo konkreter als in Übersetzungspraktiken, wobei literarische Übersetzungen wegen der erhöhten Sensibilität fürs Sprachliche als exemplarisch gelten können. Aber der wichtigste Ertrag dieser Entwicklung dürfte die Erfahrung jener sich in jeder vermeintlich ‚einsprachigen‘ Sprache (d.h. in jeder sich als eine einheitliche Nationalsprache präsentierenden Sprache) unverfügbar machenden bloßen Sprachlichkeit sein, die sich nicht semantisch auflösen lässt und weder in Übersetzungsprozessen noch in irgendwelchen Erklärungsprozessen innerhalb einer Sprache zu ‚klären‘ ist: die „Fremdsprache des bloßen Sprechens“, so Werner Hamacher in dem Aufsatz „Kontraduktionen“, ist wie die Sprache eines „inneren Ausland[s] […], in dem keine politische und keine nationalsprachliche Autorität gilt“.7 Diese Sprachlichkeit ist kein idiomatischer Kern, sondern eher der niemals zu verrechnende Rest, der übrigbleibt, wenn linguistische und hermeneutische Kategorien und Operationen an ihre Grenzen stoßen – ein Eigentümliches, das paradoxerweise keinem Sprecher und keiner spezifischen Sprache als identifizierbare Eigenschaft oder idiomatische Substanz gehört, da es sich – um Novalis’ berühmtes Diktum zu zitieren – „nur um sich selbst kümmert“ und die Absichten und Strategien des wollenden und (gut) meinenden Subjekts sowie der sprachpolitischen Grenzziehungen unterläuft.8 Es könnte am ehesten noch mit Hilfe von Walter Benjamins Begriff ‚Mitteilbarkeit‘ erhellt werden, mit dem ebenfalls auf ein performatives Mitteilen gezielt wird, das nichts Spezifisches mitteilt oder meint bzw. keinen kommunikativen Inhalt, sondern nur unmittelbar die Sprache als Medium vermittelt (oder dazu einlädt, sie miteinander zu teilen). Die Analogie bringt auch die messianische Tendenz von Benjamins Werk ins Spiel. Deren profanere Bedeutung liegt nicht zuletzt in einem impliziten Versprechen, dass die Bereitschaft, sich dem Anderen zu eröffnen, ohne ihn unbedingt verstehen zu wollen oder von ihm verstanden werden zu wollen – Letzteres wäre noch einmal der gute Wille des Verstehens, der den/die Anderen der Bestimmung einer wollenden Subjektivität unterwirft –, zu einer Begegnung im ‚unmittelbaren‘ Medium der Sprache führen kann.9

Sind wir damit vom ursprünglichen Schwerpunkt ‚Theater und Ethnologie‘ ins (zu) weite Feld des Philologischen, Literarischen und (Sprach-)Philosophischen abgedriftet, d.h. in ein Feld, von dem das Theater im zeitgenössischen Sinne, als performative oder aufführungsorientierte künstlerische Praxis, sich vor allem seit der sogenannten postdramatischen Wende hat emanzipieren müssen? Wohl kaum, denn das prekäre Moment des Durchquerens von Sprachlichkeit oder Mitteilbarkeit bzw. ‚Unmittelbarkeit‘ eines Verstehens, das zwar versprochen bleibt, aber keine sichere Auskunft – weder Gelingen noch Scheitern – versprechen kann, betrifft ebenfalls einen wesentlichen Aspekt und eine Möglichkeit des interkulturellen Theaters. Es handelt sich um die Aufgabe, sprachlich bedingte Verstehens- und Verständigungsprozesse samt Missverständnissen durchzuspielen und einen Raum der Begegnung jenseits eines vom ‚guten Willen des Verstehens‘ bestimmten Diskurses zu eröffnen. Der von ethnologischen, anthropologischen und soziologischen Impulsen ausgelöste performative turn in den Kulturwissenschaften und dessen Fruchtbarkeit für theaterwissenschaftliche Theoriebildung und Aufführungsanalyse mögen die sprachphilosophische oder -pragmatische Performativität am Anfang überblendet haben; aktuelle Theatertheorien und Analysemodelle bedienen sich mittlerweile jedoch längst eines hybriden Performativitätskonzepts, in dem sich linguistisch-rhetorische und aufführungsanalytische Ansätze ergänzen.10 Das gilt besonders für solche Performances, in denen die Beziehungen zwischen Sprechakten und deren Verkörperungen hervortreten, Sprechakte also als Handlungen oder Ereignisse oder „unselbstverständliche“ Vorgänge aufgeführt werden, welche die vermeintlich evidente, quasi-natürliche semiotische Beziehung zwischen Sprechendem und Sprache, Körper und Wort in Frage stellen.11 Eine besondere, für das Thema des interkulturellen Theaters als ‚Theater der Anderen‘ sehr relevante Zuspitzung dieser Sprach-Ereignishaftigkeit liegt dann vor, wenn die Fremd- oder Anderssprachigkeit selber reflektiert, die mit ihr verbundene Problematik der Sprach- und/als Kulturzugehörigkeit thematisiert und die Kommunikations- und Verständigungsproblematik mit dem Publikum geteilt und als Moment der Aufführung mitinszeniert wird. Die Inszenierung des Sich-Verständigens als eines performativen Ereignisses ist nur die theatralisierte Vorführung bzw. performance von auch im Realen sich in bestimmten dramatisch-theatralischen Rahmen und nach einschlägigen (Spiel-)Regeln vollziehenden Sprechakten. Sie ermöglicht es allerdings, einen ‚schrägen‘ Blick auf die Performativität des täglichen Verstehens zu werfen und dessen Nicht-Evidenz zu reflektieren.

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9783823300120
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