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Das Theater des unwissenden Lehrmeisters

Dass Kaldor die Bezeichnung „learning play“ für C’est du Chinois zurückweist und auf dem neutraleren Begriff „theatre performance“ beharrt, bedeutet keineswegs eine Flucht ins Unverbindliche (wie der Ausruf „it’s art!“ des chinesischen Schauspielers suggerieren könnte). Obwohl sie wohl mit Recht ihrem Werk den ausdrücklich politischen und didaktischen Charakter eines ‚Lehrstücks‘ abspricht, hat Kaldor doch eine Dramaturgie entwickelt, die sowohl die (Laien-)Darsteller als auch das Publikum in Situationen einbezieht, die als hermeneutische Experimente und Fallstudien zu betrachten sind. Wie schon oben erwähnt, geht es ihr weniger um objektiven Erkenntnisgewinn, und schon gar nicht um die Vermittlung eines (ihres) Wissens, sondern um die von allen zu teilende Erfahrung, dass Wissen keine Sammlung von Erkenntnissen sei, sondern das Produkt einer bestimmten Konstellation von Positionen, die mit sowohl institutionalisierten als auch völlig historisch-kontingenten Machtverhältnissen und Kontexten zusammenhängen. Ihre Versuche, diese Erfahrung als Künstlerin zu reflektieren bzw. zu teilen und doch wieder für ein praktisches Wissen (oder eine ‚Haltung‘) fruchtbar zu machen, rückt ihre Dramaturgie in die Nähe von Jacques Rancières pädagogisch-philosophischer Allegorie des (historischen) ‚unwissenden Lehrmeisters‘.1 Rancière entfaltet in einem recht komplexen und mehrschichtigen Diskurs die Geschichte des ab 1818 an der Löwener Universität französische Literatur lehrenden Dozenten Jacques Jacotot, der die alte pädagogische Logik der Erklärung von einer anderen, eigentlich erst emanzipatorischen, absetzt.

Die alte Logik, die er als eine Politik der Verdummung bezeichnet, bestünde, so Jacotot (und Rancière), in einer strukturellen und nicht aufzuhebenden Differenz und Inkongruenz zwischen dem Lehrer als einer institutionell gesetzten, bestätigten Instanz des Wissens und den unwissenden Studierenden; deren Unwissen wird durch einen Abstand vom Wissen des Lehrers getrennt, den sie schon aus strukturellen Gründen nie einholen können, weil der Lehrmeister kraft seiner Position die Grenzziehung zwischen Wissen und Nicht-Wissen, den Abstand also zwischen ihm und den Lernenden, zu bewahren hat, um Letztere immer einen Schritt weitermachen zu lassen, entsprechend einem von ihm, dem Lehrer, festgelegten (oder vermittelten) Verfahren und im Hinblick auf ein von ihm festgelegtes (oder vermitteltes) Ziel. Nicht nur weiß der Lehrmeister grundsätzlich mehr als die Schüler, er weiß auch um deren Nicht-Wissen und lenkt den Prozess, der zu dessen (freilich nicht endender) Aufhebung führen soll. Die von Jacotot durchgeführte Reform versucht diese verdummende und Ungleichheit fortsetzende pädagogische Dramaturgie umzuwerfen, freilich nicht durch das Aufheben oder Tilgen der Differenz zwischen Wissen und Nicht-Wissen, sondern dadurch, dass diese Differenz nicht mehr zwischen Lehrer und Lernenden situiert wird; beide sind Partner in einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem Dritten (le tiers), sie sind mit ihrem jeweils eigenen Wissen und Nicht-Wissen beteiligt an einem Prozess der ständigen Beobachtung, des Vergleichens, der Übersetzung, des Weiter- und Anders-Erzählens dieses Dritten. In dieser geteilten Aufmerksamkeit für etwas anderes begegnet man sich. Die Fiktion der Klasse, des Schulraums, kreiert den immerhin geschlossenen Freiraum für diese Aufmerksamkeit. Der unwissende Lehrmeister ist freilich nicht der sprichwörtliche Türöffner, der facilitator der modernen Wissens- und Leistungsgesellschaft, sondern er steht, so Rancière, an der Tür, bewacht sie, damit nichts von der geteilten Aufmerksamkeit für das Dritte ablenke. In dem Sinne behält er (oder sie) auf eine bestimmte Weise eine Überlegenheit, die sich aber nicht länger auf die Ebene des Wissens bezieht, sondern sich auf die des Willens verlagert hat. Rancière hat in einem späteren Aufsatz, „Le spectateur émancipé“, diese Analyse zum Anlass einer Kritik des Theaters und ganz besonders der Beziehung zwischen Publikum und Aufführung gemacht.2 So wie er der Aufklärung eine Fortsetzung der alten verdummenden Pädagogie vorgeworfen hat, so wirft er den großen Theaterreformern des 20. Jahrhunderts, Artaud und Brecht voran, eine ähnliche Verdummung vor. Er sieht – mit Recht oder zu Unrecht – in beiden Programmen den entweder ausgesprochenen oder impliziten Wunsch, das Theater als Spektakel aufzuheben, d.h. das Theatralische oder Mediale des Theaters als Mittel zum Zweck in einen Prozess zu überführen und aufzulösen, um das Theater, das Medium, mit der romantischen, auch von Rousseau vertretenen Idee einer nicht-repräsentierenden, sondern sich unmittelbar als erlebend, denkend und handelnd präsentierenden Gemeinschaft konvergieren zu lassen. Rancière plädiert dafür, die Distanz des Theaters zum Realen und damit auch dessen Autonomie aufrechtzuerhalten und als Form und Bedingung eines fruchtbaren Dissens und eines Austausches zu betrachten. Die Theatervorstellung (performance), so Rancière, sei nicht

die Übermittlung des Wissens oder des Atems vom Künstler zum Zuschauer. Sie ist jene dritte Sache, die niemandem zugehört, über deren Bedeutung niemand verfügt und, die sich zwischen ihnen hält und jede identische Übertragung, jede Identität von Ursache und Wirkung unterbindet.3

Die Analogie zwischen Rancières Analyse und den Möglichkeitsbedingungen eines interkulturellen Theaters im Allgemeinen sowie dem Einsatz von Kaldors Werk (und im Besonderen C’est du Chinois) lässt sich unschwer ahnen. Was steht hier auf dem Spiel: eine Annäherung zwischen dem Fremden und dem Eigenen, dem Anderen und dem Selbst? Geht es hier um die Verringerung einer Kluft oder Distanz, die doch nicht restlos zu überbrücken ist? Anstelle dieses verdummenden und frustrierenden Aufschubs einer unerreichbaren, fiktiven Konvergenz von Nicht-Wissen des/vom Anderen zum Wissen sowie von falscher, entstellender Repräsentation zu einer angeblich gelungenen Ko-Präsenz tritt aus Rancières Perspektive die Sicherung eines gemeinsamen, zugleich virtuellen und faktischen Zwischenraums, den es zwar zu durchmessen gilt, nicht jedoch im Sinne eines Überbrückens der Distanz zwischen uns hier und dem Fremden dort, sondern verstanden als ein gemeinsames, geteiltes Durchqueren und Fortschreiten im gleichen Raum, ein Fortschreiten von dem, was man schon weiß oder zu wissen meint, zu dem, was man noch nicht weiß, sowohl über die eigenen performativen Selbstdarstellungsversuche als auch über die der anderen. Rancière begreift dieses Fortschreiten nicht als einen von einer kognitiven Teleologie gesteuerten Progress. Er spricht vielmehr von einem nach allen Richtungen offenen Prozess des Übersetzens und des Erzählens in einem diskursiven und performativen Raum, in dem die Distanz kein Übel ist, sondern die normale Bedingung der Kommunikation. Die hier gemeinte Distanz ist also grundverschieden von der institutionalisierten Kluft zwischen Lehrer und Schüler.

Edit Kaldor setzt in C’est du Chinois ihre Erfahrung als nicht-wissende Lehrmeisterin ein, ihre Expertise als eine Person, die sich durch Übersetzen, Vergleichen und Erzählen einen Weg durch diese Dimension der Distanz zu bahnen versucht, und die zu verringern sie gar nicht beabsichtigt, im Gegenteil; ihr „teaching play“ ist vor allem a „theatre performance“, ein durchaus autonomes Medium, das die von sämtlichen Beteiligten (Theatermacherin, Schauspieler, Publikum usw.) verfolgten Zielen und Aufgaben zwar ermöglicht, ohne jedoch mit solchen Intentionen zusammenzufallen. Sie steht gewissermaßen an der Tür des fiktiven Klassenzimmers und zwingt uns, auf spielerische Weise unsere Aufmerksamkeit einem Dritten zu schenken. Das Dritte ist auf der ersten oberflächlichen Ebene die Fremdsprache bzw. der Sprachkurs (der für beide Parteien, Zuschauer und Schauspieler, eine je eigene Aufgabe darstellt), auf einer anderen Ebene dürfte es aber die mit den Schauspielern geteilte Aufgabe sein, „to invent some identity for ourselves“, das tägliche performative und diskursive Theater, in dem wir uns alle zusammen befinden und in dem wir uns vergleichend und übersetzend vorantasten, „as it happens to be“. Ob es uns nun chinesisch, spanisch, griechisch, lateinisch, polnisch oder double dutch vorkommt, das Dritte, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, lässt sich nicht mehr auf die Opposition vom Eigenen und Fremden zurückführen, geschweige denn auf die linguistische Distribution von Fremd- und Muttersprache(n). Das ‚Dritte‘ (le tiers) dürfte doch vor allem das Theater selbst sein, Kaldors „theatre performance“, wie sie mit Nachdruck sagt. Denn die gemeinsame Beschäftigung und Aufmerksamkeit der Schauspieler und des Publikums gelten letzten Endes dem ästhetisch-performativen Spiel selber, für das „language no problem“ ist, obwohl/weil es gerade um sie geht. Damit ist nicht diese oder jene (Fremd-)Sprache gemeint, die wir (und sie, die ‚anderen‘) können oder nicht können, sodass diese (fehlerhaften) Kenntnisse uns die praktische Kommunikation erleichtern (oder eben erschweren) könnten. Gemeint ist vielmehr jene Sprachlichkeit, die uns alle sowohl trennt als auch verbindet, weil sie jenseits der mehr oder weniger anekdotischen Sprachstunde und der sowohl kommunikativen als auch ökonomischen Zweckmäßigkeit des Sprachkurses den Raum einer Unmittelbarkeit der Mitteilung eröffnet; eines Mit-Teilens also im Medium der Sprache(n), dem Begreifen im emphatischen Sinne weniger bedeutet als das Versprechen einer Begegnung in einer Dimension, die weder die des vermeintlich Eigenen noch die des ebenso vermeintlich Fremden ist (sie gehört keinem). Der Bruch, über den man sich vergleichend und übersetzend nähert, mag dazu führen, dass man dort nicht nur einen anderen, sondern auch sich als einen anderen wiederfindet. Damit wäre tatsächlich „ein wichtiger Schritt in die Zukunft“ getan.

‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden

Marginalisiertes Leben zwischen dem Realen und dem Fiktiven

Lorenz Aggermann (Gießen)

In den nachfolgenden Zeilen wird der Vorschlag gemacht, ‚Zigeuner‘ als Maske und Figuration des Fremden zu verstehen und darüber den problematischen Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den Angehörigen der größten europäischen Minderheit zu reflektieren. Die Überlegungen orientieren sich an den jüngsten literaturwissenschaftlichen Thesen zur Erfindung der ‚Zigeuner‘ und adaptieren deren Befunde durch den Einbezug eines theaterwissenschaftlichen Standpunktes. Sie fragen nach der spezifischen Aufführung dieser Maske und markieren abschließend am Beispiel einer Performance (Constanza Macras, DorkyPark: open for everything) die Schwierigkeiten, dieser Figuration zu entkommen.

I. Die Erfindung der ‚Zigeuner‘

Im 15. Jahrhundert, knapp bevor sich das europäische Subjekt soweit stabilisiert und emanzipiert hatte, dass es seine Vertreter ausschicken konnte, um neue Länder und Kontinente zu erschließen, wird es selbst heimgesucht und in seiner Identität befragt. Dass man mit dem Fremden und Ungearteten rechnen muss, ist zwar durchaus im Bewusstsein verankert, sein Ort war aber bis dato das Grenzland respektive die unbekannte, unentdeckte Ferne, seine Gestalt mehr oder weniger fabelhaft: Hic sunt dracones. Nun aber erscheint das Fremde nicht nur unvermittelt im eigenen Hoheits- und Wissensgebiet, es zeitigt zudem unverkennbar die Gestalt des Menschen. Rom-Völker und weitere Fahrende tauchen vor den Toren der Städte auf und ziehen infolge durch ganz Europa, wie die Chroniken zahlreicher mittelalterlicher Städte belegen. 1420 kommt es zu einer ersten Konfrontation in Brüssel, 1427 folgt Paris, 1428 werden sie in Nijmegen gesichtet, 1444 stehen sie vor den Toren Bolognas, Forlis und Lwows, für 1447 ist ihr Erscheinen in Barcelona und für 1457 in Mailand belegt.1 Da sie nicht in kriegerischer Absicht kommen und nicht mit Gewalt Einlass in die Städte begehren, erwecken diese vagabundierenden Fremden vor allem Verwunderung, der durch zweierlei Deutungsmuster begegnet wird: Entweder werden die Fremden in Analogie zu der aus Ägypten flüchtenden heiligen Familie gesetzt und verehrt oder aber sie werden aufgrund ihrer Fremdheit und Freiheit als Seher und Späher gedeutet.2

Das Interesse der städtischen Gesellschaften und ihrer Chronisten richtet sich vor allem auf die Art und Weise ihrer Repräsentation, auf ihre seltsame Kleidung, ihr befremdliches Verhalten. In ihren Einträgen wird weniger eine Andersheit reflektiert, denn eine Differenz konstruiert, die primär über Äußerlichkeiten zu Tage tritt, da sich weder Schrift noch Religion als Unterscheidungsmerkmale beiziehen lassen. Die ersten Chronisten bleiben in ihrem Urteil über diese Fremden indes neutral bis vage positiv. Sie betonen die von König Sigismund in einem Schutzbrief gewährten Sonderrechte der „Secanos“3 und vermessen das „gens ciganorum“4 vor der bekannten mittelalterlichen Ständeordnung und Hierarchie. Dieser entsprechen und entziehen sich die Fremden zugleich: Einerseits gibt es auch unter ihnen Fürsten und Grafen, Ritter und Fußvolk, andererseits wird ihr Umherschweifen mit dem Abfall vom Glauben und ihrem freizügigen Verhalten begründet. Der Blick in diese frühen Dokumente spiegelt somit ein ambivalentes Bild dieser Fremden respektive ihrer Einschätzung durch die Chronisten wider, was sich unter anderem damit erklären lässt, dass weder eine eindeutige geo- noch eine ethnographische Verortung und Identifikation dieser Fremden gelingt. Sie bleiben rätselhaft. Vielleicht sind sie Späher und Kundschafter des osmanischen Reiches, vielleicht Pilger aus Ägypten, die gezwungen sind, Buße zu tun – Mutmaßungen, die sich weder erhärten noch ausräumen lassen.

Während sich in den folgenden hundert Jahren durch mündliche Überlieferung die Zeugnisse über das Auftauchen dieser Fremden verdichten und sich das Wissen über ihre Eigenschaften, ihre Wesensart und ihr Verhalten konkretisiert, so verlieren sich die wenigen Anhaltspunkte zu ihrer Verortung vollends. Die Fremden gelten nun als ein „Auswurf aller Nationen“, „‚erfahren‘ in allen Sprachen“, der „ringsumher in allen Provinzen“ Männer und Frauen in seine Gemeinschaft aufnimmt.5 „Damit setzt sich“, so Reimar Gronemeyer, der diese Quellen bereits in den 1980er Jahren zusammengetragen, übersetzt und kommentiert hat, „ein weitaus aggressiverer Ton gegenüber den Zigeunern durch, die nicht mehr als Fremde gesehen, sondern zu Kriminellen gestempelt werden.“6 Nicht verort- und klassifizierbar zu sein erweist sich als eine markante Dysfunktionalität im Austausch mit den spätmittelalterlichen Gesellschaften Europas, deren Subjekte sich mehr und mehr über geographische Spezifika ihres Lebensraums und sprachliche Eigenheiten ihrer Region zu definieren beginnen und deren Gemeinschaft sich mehr und mehr auf topologische Parameter gründet,7 – deren Begriff vom Menschen sich also zunehmend „nach dem Volk und nicht nach dem Individuum“ richtet.8 Diese Dysfunktionalität wird für beide Seiten zum Ausgangspunkt für die fiktionale Konstruktion einer spezifischen Andersheit, die sich strategisch verwerten lässt und der diese Fremden von nun an nicht mehr entkommen werden, auch dann nicht, als im 19. Jahrhundert durch sprachwissenschaftliche Forschungen erste belastbare Hinweise zur ethnographischen Herkunft dieser, mittlerweile seit Jahrhunderten in Europa lebenden Menschen auftauchen.

In dem Prozess, den die Begegnung mit den Rom-Völkern in Gang setzt, treten die konkreten, realen Individuen und ihre Bedürfnisse rasch in den Hintergrund. Folgt man den aktuellen Studien, dann dient das Interesse an ihnen vor allem dem Zweck, eine Negativ-Folie für das Eigene herzustellen, wobei den realen Menschen eine imaginäre Fremdheit übergestülpt wurde, „die nach Gutdünken plastisch modelliert werden“9 und dem europäischen Subjekt in Form eines „entwirklichte[n] und entzeitlichte[n] Kollektiv[s]“ gegenüber gestellt werden konnte.10 Die Menschen, die den Spiel- und Handlungsraum der europäischen Bürger betreten, werden in der Begegnung zu einer Projektionsfläche, die primär der Selbstkonstitution eines urbanen, abendländischen Subjektes dient. Klaus-Michael Bogdal spricht daher auch von der Erfindung der ‚Zigeuner‘:

Die Erfindung der ‚Zigeuner‘ durch große Erzählungen […] stellt von Beginn an die Kehrseite der Selbsterschaffung des europäischen Kultursubjekts dar, das sich als Träger weltzivilisatorischen Fortschritts versteht. Zugleich ist sie die radikale Reinigung des Selbstbildes von dem, was es vermeintlich bedroht.11

Deutlich wird dieser Sachverhalt unter anderem in der Benennung dieser Fremden als ‚Zigeuner‘ – einer Fremdbezeichnung, deren Herkunft nach wie vor ungeklärt ist und die sich aus dem mittelalterlichen cingari oder gens ciganorum ableitet.12 Diese Etymologie führt die Bezeichnung auf das bulgarische acigane zurück,13 das über das Ungarische ins Deutsche migriert sein soll und das wiederum mit dem griechischen athinganoi in Verbindung gebracht wird, dem Namen für eine gnostische Sekte.14 Weitere Mutmaßungen bringen diese Fremdbezeichnung mit dem arabischen samerki (Blechschmied) oder dem persischen zang (Blech, Eisen) in Verbindung. Darüber hinaus gibt es zudem jene Bezeichnungen, die auf Landstriche verweisen wie Bohémiens, Ägypter/Gypsies oder Tataren.15 In frühen Quellen findet sich zudem häufig der Begriff Heiden als Synonym zur Beschreibung dieser Fremden, und im 18. Jahrhundert erfährt die Bezeichnung ‚Zigeuner‘ als polizeilicher Ordnungsbegriff eine weitere Resemantisierung.16 Bei der Suche nach einem adäquaten Namen durchkreuzen einander etymologische Mutmaßungen und gesellschaftspolitische Markierungen. An die Stelle der neugierigen Erforschung und Erkundung der Rom-Völker und ihrer Angehörigen tritt das Bestreben, die Fremden als eine homogene Gruppe zusammenzufassen, ihre bio- als auch ethnographischen Unterschiede zu nivellieren und eine Projektionsfläche herzustellen, die für Semantisierungen jeglicher Art herangezogen werden kann.17

Die Bezeichnung der Fremden als ‚Zigeuner‘ ist somit weniger eine Definition, sondern nachgerade das Gegenteil davon. Aus diesem Grund soll ‚Zigeuner‘ im Folgenden als Maske und noch spezifischer, als Figuration des Fremden verstanden werden.18 Die Ausbildung einer Figuration, die Maskierung des Fremden ist indes nicht nur ein literarisches und fiktionales Verfahren, das sich auf schriftliche Quellen und Diskurse stützt, sondern ein originär theatrales, dessen Mechanismen und Rahmenbedingungen erst in einer Aufführung so recht zum Tragen kommen. Dies erlaubt, die diskursanalytischen Befunde durch aufführungsanalytische Überlegungen zu erweitern und mit anderen Masken des Fremden und deren Aufführungen zu vergleichen. Ein weiterer Vorteil dieses methodischen Transfers liegt darin, dass durch die Prämisse der Ritual- und Performancetheorie auch der darunter liegende Körper einen Eigenwert – als widerständiger Träger und virtuoser Performer – zugestanden bekommt und in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit den Rom-Völkern wird hierdurch nicht nur als ein Dialog über In- und Exklusion verstanden, sondern als eine triadische Verhandlung von Identitäten, wodurch die Differenz zwischen der Figuration, den Angehörigen der Rom-Völker und den urbanen, zentraleuropäischen Subjekten – zwischen Maske, Performer und Rezipient – herausgearbeitet werden kann. Eine derartige methodische Volte erlaubt auch, an jene postkolonialen Theorien anzuschließen, die der Essentialisierung von Eigen und Fremd eine Praxis der Hybridisierung gegenüberstellen, ohne indes diese grundlegende Unterscheidung vollends aufzugeben. Und sie betont den Stellenwert des Theaters und allgemeiner der Kunst, die eben jenen Raum der Hybridität paradigmatisch herzustellen vermögen: „Wer sich in ihm aufhält, der überschreitet die Fremdheit in Richtung einer Alterität, in der die kulturelle Differenz zugleich transzendiert wird.“19

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9783823300120
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