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2. Ethnologie (und Interkulturalität)

Während im Denken-wie-üblich Kultur ihre Ontologie bewahrt, zielt Interkulturalität darauf ab, sie zu durchkreuzen. Durchkreuzen heißt gleichzeitig, Irritationen zu erzeugen, das Üblichsein in eine Art Unvertrautheit zu überführen. Ein solches Interkulturalitätsverständnis ist in besonderem Maße inspiriert durch die Ethnologie und ihre Theorie- und Methodendiskussion der letzten 40–50 Jahre, eine Diskussion, die, wenn man sich jüngste Publikationen vor Augen führt, immer noch nicht abgeschlossen ist.1 Die moderne Ethnologie gilt nicht von ungefähr als eine Disziplin, die im Sinne Foucaults vor allem „ein ständiges Prinzip der Unruhe, des Infragestellens, […] des Bestreitens dessen“ bildet, „was sonst hat als erworben gelten können.“2 Insofern ihre kritische Selbstreflexion auch in andere Disziplinen hineingetragen wurde, blieb auch die Interkulturalitätsforschung – in welchem Fach auch immer – davon nicht unberührt.

Die durch James Clifford und George E. Marcus Mitte der 1980er Jahre auf den Weg gebrachte Writing Culture-Debatte hat freilich die Unruhe und Verunsicherung so weit in das Fach hineingetragen,3 dass als Ausweg aus der sich krisenhaft zuspitzenden Selbstbefragung unter anderem vorgeschlagen wurde, überhaupt keine Ethnografie mehr zu betreiben.4 Mit ihrer prinzipiellen Infragestellung der Repräsentierbarkeit radikalisierte Writing Culture noch einmal die Grundannahme Clifford Geertz’, dass ethnologische Schriften Fiktionen, dass sie, wie es in seiner Dichten Beschreibung heißt, etwas „Gemachtes“ und „Hergestelltes“ seien.5 Denn so sehr sich mit Geertz der Blick darauf, was Ethnografie eigentlich ist, verändert hat, so deutlich scheint bei ihm eine Art Wahrheit in der Beschreibung des Anderen und damit dessen Repräsentierbarkeit als möglich auf. Für ihn bleibt, auch wenn die Repräsentation erschüttert wird, „ein liberal-humanistisches Verständigungsideal verbindlich“.6

Anders dagegen Clifford und Marcus. Was mit ihnen problematisiert wird, sind nicht so sehr die Spezifika kultureller Bedeutungssysteme, die Frage nach der Bedeutung der Dinge, sondern die Frage, wie sich das Fremde auf eine Weise darstellen lässt, dass es nicht in der vermeintlich objektivierten Perspektive des Betrachters so aufgeht, als wären die Kulturen etwas Fixes oder Fixierbares. „Cultures do not hold still for their portraits.“7 Mit dieser Position ging vor allem die auch aus dem Postkolonialismus bekannte Frontstellung gegenüber hegemonialen Standpunkten der Repräsentation und des mit ihr verbundenen Othering oder des „Verandern“, wie es Werner Schiffauer einmal nannte, einher.8 Mit dem „Verandern“ ist die grundsätzliche Frage berührt, ob eine Beschreibung des Fremden überhaupt möglich sei, wenn doch die Beschreibung den Fremden erst hervorbringe. Im „Othering“ werde, so Spivak, ein „Different-Machen“ betrieben,9 das die Differenzen erst erzeugt, die zu analysieren das vorgebliche Ziel ist. Einer Wissenschaft, die als „Wissenschaft vom kulturell Fremden“ gilt,10 ist damit gewissermaßen ihr disziplingeschichtlich verbürgter Gegenstand abhanden gekommen. Ob das ihre von Bruno Latour verkündete ,Rückkehr aus den Tropen‘ erklärt,11 ist nicht auszuschließen; als sicher darf freilich gelten, dass „das Feld als autonomer Ort mit festen raum-zeitlichen Grenzen, als Heimat einer homogenen Kultur, in die die Ethnographen als Fremde zu Besuch kommen“,12 sich aufgelöst hat. Stattdessen sind ihre Positionen, eingebettet in eine „multi-sited ethnography“,13 mobil und vielfältig. In den Worten des Ethnologen Christoph Antweiler: „In der modernen Ethnologie geht es nicht mehr nur um außereuropäische und einfache Gesellschaften, sondern um Gruppen und Netzwerke irgendwo auf dem Globus“,14 was u.a. auch erklärt, warum die Ethnologie, zumal in den letzten 30–40 Jahren, im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Fragen der Repräsentation die Nähe zur Kunst sucht. Jedenfalls ist das wechselseitige Interesse von Kunst bzw. Kunstbetrieb und Ethnologie durch zahlreiche Tagungen und Publikationen im zurückliegenden Dezennium bezeugt.15

Insofern ist es geradezu folgerichtig, dass die Ethnologie, will sie sich nicht mit ihrer Selbsteskamotierung zufrieden geben, sich methodisch neu ausgerichtet und sich dabei einer deutlicheren Prüfung ihres Tuns unterzogen hat. Und das geschah und geschieht immer noch einerseits dadurch, dass der Entstehungsprozess von Dokumenten stärker reflektiert wird – Stephen Tyler etwa nennt dies eine Ethnografie des Sprechens, indem darüber nachgedacht wird, wie ethnografische Aussagen zustande kommen, wie gesprochen und wie etwas Gesagtes als Wahrheit anerkannt wird.16 Andererseits geschieht dies auf der Grundlage einer kollaborativen Ethnografie: Die „Kollaboration verändert das traditionelle anthropologische Setting. Die Ethnographen sind nun nicht mehr nur ‚teilnehmende Beobachter‘, sondern auf vielfältige Weise in das Geschehen involviert. Sie werden zu eigenständigen Akteuren im Feld, zum Subjekt der Pläne anderer, zur Figur in den Texten anderer etc.“.17 Kollaboration und Sprache bzw. Metareflexion leisten, wenn sie auch das Problem der Repräsentation nicht abschließend ausräumen, doch einer Multiperspektivierung des ethnografischen Gegenstandes Vorschub und tragen damit zugleich zur kritischen Hinterfragung von Kategorien wie Kultur, Fremde oder Differenz bei.

Die kritische Hinterfragung hat allerdings in der Ethnologie meines Wissens nicht dazu geführt, dass sie das Verhältnis zur Interkulturalität geklärt oder zumindest weit ausgreifend reflektiert hätte. Die Ethnologie gilt entweder „per se“ als interkulturell,18 oder aber es wird mit dem Beiwort „interkulturell“ ein kulturvergleichendes Verfahren bezeichnet, bei dem es um die Prüfung nomologischer Hypothesen, das heißt: um den Nachweis gesetzmäßig auftretender Kulturerscheinungen geht.19 Gerade aber mit diesem Verfahren, das unter anderem darauf ausgerichtet ist, „weit entfernte Kulturen in Beziehung zu setzen“,20 um strukturelle Ähnlichkeiten zu erfassen, wird ein Kulturbegriff in die Ethnologie reimportiert, der noch von abgrenzbaren, an räumlichen Vorstellungen gebundenen Einheiten ausgeht, die durch den Vergleich einander gegenüberstellt werden. Der Vergleich voneinander separierbarer Einheiten wird dabei durch das ,inter‘ zusätzlich gefestigt, insofern er an ein geläufiges, vor allem durch die interkulturelle Hermeneutik befördertes Verständnis von Interkulturalität anschließt, demzufolge Kulturen weltweit identifiziert, beschrieben und objektiv voneinander abgegrenzt werden können.21 Dieses Verständnis ist aber inzwischen aus unterschiedlichen Richtungen einer kritischen Revision unterzogen worden, und es wird allenfalls noch dort reaktiviert, wo es um begriffliche Abgrenzungen oder um die Durchsetzung ethnozentrischer Positionen bzw. politisch-ökonomischer Interessen geht.22

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Ethnologie sich als interkulturell versteht, erinnert insofern an die nicht sonderlich theoriegeleitete Interkulturalitätsreflexion im Feld des Theaters. Das hat zur Konsequenz, dass es hier wie dort, wenn auch so vielleicht nicht intendiert, zur Übernahme und Applikation eines eher retrograden Kulturbegriffs kommt. Die Annäherung an aktuelle Interkulturalitätspositionen könnte hier zur theoretischen Neubestimmung beitragen, indem der in der beständigen Neuauslegung liegende Projekt- und Prozesscharakter der Interkulturalität mit der produktiven Verunsicherung, die Ethnologie und Theater gleichermaßen auszeichnet, verklammert wird. Mit dem Projekt der Interkulturalität ist dabei methodisch die Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen assoziiert, durch die gewohnte Selbstverständlichkeiten und Sehgewohnheiten hinterfragt werden sollen. Denn Interkulturalität hat etwas mit Risiko zu tun: Wer sich darauf einlässt, verlässt eingetretene Pfade. Interkulturalität geht aus meiner Sicht insofern einher mit dem eingangs bereits angesprochenen kulturanthropologischen Ausbruch aus dem, was Alfred Schütz einmal als „Denken-wie-üblich“ bezeichnet hat.23 Im Denken-wie-üblich ist das Fremde das aufgefasste Andere. Es ist wie das Eigene eine Setzung, dessen das Denken-wie-üblich bedarf, damit es sein Üblichsein bewahrt. Die Rede vom Eigenen und Fremden – Klaus Scherpe nennt es die notorische Zweierbeziehung –,24 trägt insofern zu dessen Stabilisierung bei. Es ist gewissermaßen die begriffliche Grunddichotomie aller interkulturellen Vergleiche, deren Nichthintergehbarkeit dazu führt, dass das Fremde in Schach gehalten wird. Wohin aber „oder wem ein Zeichen oder ein einzelnes kulturelles Element gehört“,25 ist nicht erst jetzt, aber vor allem in Zeiten forcierter Uneindeutigkeiten immer schwieriger zu beantworten. Das gilt auch und erst recht dann für das Theater, wenn das Fremde „als Prozeß einer kulturellen Transformation“ begriffen wird.26 Denn das Fremde wird auch hier noch als ein distinktives Merkmal begriffen, das im Vergleich mit dem eigenen Theater eindeutig identifizierbar ist.

3. Ethnologie – Interkulturalität – Theater

Der im Kontext von Ethnologie und Theater verhandelte Begriff der Interkulturalität ist prinzipiell immer auch danach zu hinterfragen, ob er nicht doch ontologisch verfestigte statt antiessentialistische Vorstellungen von Kultur transportiert.1 Die Beantwortung der Frage, wenn sie ins Allgemeine gehen soll, hängt freilich nicht vom Begriff der Interkulturalität alleine ab, so als würde mit ihm eine Setzung nach Art einer Quasi-Ontologisierung erfolgen, sondern auch von der jeweiligen Forschungsrichtung und ihrer analytischen Praxis. Es geht dabei neben dem Kulturbegriff, der zugrunde gelegt wird, um den Standpunkt des Beobachters und seine Bereitschaft, die eigene Position immer wieder aufs Spiel zu setzen und die interkulturelle Praxis zur „Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen“ zu nutzen.2 Von dieser Warte aus liefert die neuere Forschung weitere Ansatzmöglichkeiten, Interkulturalität nicht als Substanzbegriff, sondern als „Kultur-im-Zwischen“ und „Prozess“ bzw. als „Projekt“ zu begreifen – eine Vorstellung,3 die Richard Schechner bereits in den 1970er Jahren in Ansätzen und speziell für das Theater stark gemacht hat.

Interkulturalität kann insofern zur weiteren Klärung der für das Verhältnis von Ethnologie und Theater spezifischen Voraussetzungen beitragen; sie kann aber auch, wie ein Blick in die Geschichte und jüngere Vergangenheit zeigt, selbst das Vehikel für eine von ethnologischen Prämissen geleitete Theaterarbeit und umgekehrt für eine durch das Theater inspirierte Kulturanthropologie sein. „Dass Theatertheoretiker, Theaterschaffende und Anthropologen bzw. Ethnologen wichtige Berührungspunkte und gemeinsame Interessen entdeckten, hängt […] mit der Affinität der westlichen Avantgarde bereits um 1900 und dann wieder in den 1960er Jahren zum außereuropäischen Theater und zu Ritualen zusammen.“ Auf der anderen Seite existiert in der Ethnologie, bedingt durch die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen und deren oralen Tradition, „ein spezifisches Interesse am Performativen“.4 Das Bedingungsverhältnis, in dem Theater und Ethnologie stehen, wird sinnfällig in der Zusammenarbeit zwischen Richard Schechner, Clifford Geertz und Victor Turner in den 1970er und 80er Jahren einerseits und angesichts der Wirkung, die Turners Ritualtheorie auf die Theaterwissenschaft in den 1990er Jahren ausgeübt hat, andererseits. „Whether practitioners and scholars of either discipline like it or not, there are points of contact between anthropology and theatre; and there are likely to be more coming”, so Schechners einführende Prognose in seiner Abhandlung Between Theater and Anthropology.5 Gerade Schechner ist es auch, der nach eigener Aussage Anfang/Mitte der 1970er Jahre damit beginnt, den Begriff der Interkulturalität – er spricht ursprünglich von „interculturalism“ zur Abgrenzung von Phänomenen des „internationalism“ – in die theoretische Diskussion einzuführen,6 wobei er damit neben seinen eigenen Projekten vor allem Arbeiten von Peter Brook, Jerzy Grotowski und Eugenio Barba in Zusammenhang bringt. An diesen Arbeiten ließe sich exemplifizieren, was interkulturelles Theater ist bzw. sein könnte. Doch das ist nicht die Aufgabe meines einführenden Ausblicks, noch will ich in dieser Hinsicht den nachfolgenden Beiträgen vorausgreifen. Wenn es aber um das Verhältnis von Ethnologie und Theater geht, kann die Interkulturalitätsforschung bzw. können interkulturell avancierte Perspektivierungen die Funktion haben, zu einer theoretischen und tendenziell auch analytischen Flankierung dieses Verhältnisses beizutragen. Ebenso können umgekehrt Ethnologie, Theateranthropologie und das Theater selbst als Ort inszenierender und inszenierter Interkulturalität auf das Verständnis von Interkulturalität verändernd und erweiternd einwirken. Grotowski, Brook, Barba, Turner und Turnball haben nach Schechner auf eine Weise zusammengearbeitet, die interkulturell und interdisziplinär zu nennen ist.7 Wer sich für die Beziehung von Ethnologie und Theater interessiert oder sogar einen Beitrag zur Ethnologie des Theaters leisten will, kann hinter dieser Position nicht mehr zurück.8. Sie bildet vielmehr die Grundlage, von der aus es erst zu Weiterungen, Korrekturen oder Verschiebungen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema kommen kann.

Dichte Aufführungen

Zur Ethnologie des postdramatischen Theaters

Christopher Balme (München)

Der Titel meines Beitrags bezieht sich auf eine der wohl einflussreichsten ethnologischen Publikationen der vergangenen vierzig Jahre, Clifford Geertz’ Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung, „The Interpretation of Cultures“, sowie den darin enthaltenen Essay über den balinesischen Hahnenkampf: „Deep Play: Notes on the Balinese Cock Fight“. Diese Aufsätze können gleichsam als Gründungsdokumente der Theaterethnologie betrachtet werden. Der dort entfaltete Begriff der „dichten Beschreibung“ entwickelt eine Methode, die anstelle teleologisch ausgerichteter funktionalistischer Erklärungsmodelle eine hermeneutische Interpretation privilegiert. „Dichte Beschreibung“ kann auch als Aufführungsanalyse für Ethnologen bzw. für ethnologisch ausgerichtete Theater- oder Performance-Wissenschaftler bezeichnet werden. Geertz notiert:

Das Ziel dabei ist es, aus einzelnen, aber sehr dichten Tatsachen weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen und vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen der Rolle der Kultur im Gefüge des kollektiven Lebens zu gelangen.1

Geertz’ Verwendung einer Dramen- und Theatermetaphorik zur Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene verlieh dem Text einen paradigmatischen Status innerhalb der Performance Studies, die sich in der von Richard Schechner vorgegebenen Ausrichtung eher als Sozial- denn als Geisteswissenschaft verstand.2

Während Geertz und vor ihm Milton Singer, ein Mitbegründer der so genannten ‚interpretativen‘ Ethnologie, noch dem Konzept des Textes verhaftet blieben, wählte der Ethnologe Victor Turner einen anderen Weg: Sein Konzept des sozialen Dramas sowie seine Studien zum Ritual bereiteten den Boden für die Performance Studies und verstärkten die Bande zwischen Ethnologie und der neuen Disziplin nachhaltig. Dwight Conquergood, ein in den Performance Studies arbeitender Ethnologe, bezeichnet Turner sogar als den „undisputed founding father“ der performativen Wende innerhalb der Ethnologie. Im Zeichen dieser Wissenschaftsgenealogie wird Geertz lediglich die Rolle des „influential in-law“ zugebilligt, „having married into the ‚culture as performance‘ family from the powerful ‚culture as text‘ clan.“3 Natürlich gibt es signifikante Differenzen, die auch den grundlegenden Unterschied zwischen Kunst- und Sozialwissenschaft markieren: Beim Hahnenkampf geht es im Gegensatz zur Kunst schließlich um etwas: für die Hähne um ihr Leben, für die menschlichen Teilnehmer um ihr Geld, wie die komplexe Beschreibung des Wettsystems deutlich macht.

Ob Hahnenkampf, Hochzeit oder hinduistisches Ritual: Dichte Beschreibungen gehen von einem örtlich und kulturell klar definierten, geradezu ‚umhegten‘ performativen Phänomen aus, um es dann in eine semantische Beziehung zu dem es bestimmenden Kulturgefüge zu setzen. Es gilt – wenn man es so will – das Prinzip der raumzeitlichen Kontiguität. In diesem engen Geflecht besteht auch die Affinität zur theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse, die von einer Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern ausgeht. Der Hahnenkampf-Essay von Geertz erschien Anfang der 1970er Jahre, Milton Singers Arbeiten über Cultural Performance ein Jahrzehnt früher,4 Victor Turners einschlägige Arbeiten in den 1970er und 1980er Jahren.5

Wenn wir heute die Beziehung zwischen Theater und Ethnologie betrachten wollen, müssen wir selbstredend an die aktuellen Ansätze der Ethnologie anknüpfen. Dem Thema der Tagung folgend, geht es darum, eine theaterfremde Wissenschaft, die Ethnologie, auf den Gegenstand ‚Theater‘, vor allem auf die interkulturell bzw. global erweiterten Spielformen von Theater zu applizieren. Meine Überlegungen hierzu gehen von drei ‚Wenden‘ innerhalb der Ethnologie aus, die das frühere Modell, wenn nicht in Frage stellen, so doch methodologisch und epistemologisch neu konturieren.

Die erste Wende heißt ‚multi-sited ethnography‘ und steht vor allem mit einem Aufsatz von George Marcus aus dem Jahr 1995 in Verbindung: „Ethnography in/of the World system: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“. Anstelle einer Perspektive, die sich einem einzigen Ort widmet – „intensively-focused-upon single site of ethnographic observation and participation“ – tritt ein Fokus auf multiple, oft geographisch entfernte Lokalitäten, die mit einander in Verbindung stehen.6 Der von Marcus als „world system“ betitelte Begriff signalisierte eine Auseinandersetzung mit Globalisierung und dem Befund, dass die Kulturen, für die sich die Ethnologie üblicherweise interessiert, nicht mehr dort sind, wo sie hätten sein sollen bzw. manchmal dort sind, aber auch woanders. Der Dorfbewohner aus Kerala ist ein Gutteil des Jahres in den Golf-Staaten als Wanderarbeiter unterwegs, der junge Samoaner versucht sein Glück als Rugby-Spieler in Japan. Mit anderen Worten fordert Marcus, die Ethnologie müsse methodisch und theoretisch auf die von Arjun Appadurai Anfang der 1990er Jahre beschriebenen „five dimensions of global cultural flow (…) ethno-, media-, finance-, techno- und ideocapes“ reagieren:

These landscapes thus are the building blocks of what (extending Benedict Anderson) I would like to call imagined worlds, that is, the multiple worlds which are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe.7

Die multiplen Welten der kulturellen Globalisierung stellen die Ethnographie vor besondere Herausforderungen angesichts deren „committed localism“: „Ethnography is predicated upon attention to the everyday, an intimate knowledge of face-to-face communities and groups.“8 Der Fokus auf das Lokale verbindet die Ethnologie mit der Theaterwissenschaft, die ebenfalls einem ‚committed localism‘ verpflichtet ist, und zwar in Form von ‚face-to-face-communication‘ und Gemeinschaftsbildung, die beispielsweise Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen9 vielfach beschrieben hat.

Wie soll sich aber die Theaterwissenschaft neu positionieren, wenn auch im Theater die gleichen Bedingungen der multi-sitedness vorherrschen wie von Marcus beschrieben?

Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, physical presence, with an explicit, posited logic of association or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography.10

Um diesen Pfaden, Verbindungen und Schnittstellen gerecht zu werden, schlägt Marcus eine andere Vorgehensweise vor: ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour heißt es, Dingen, Geschichten, Metaphern und Menschen zu folgen: „Strategies of quite literally following connections, associations, and putative relationships are thus at the very heart of designing multi-sited ethnographic research.“11

Die zweite Wende betrifft die Form der wissenschaftlichen Repräsentation und Präsentation, die auch ethische und ideologische Implikationen hat. Dahinter steht eine von der postkolonialen Theorie formulierte Fundamentalkritik an den Modi wissenschaftlicher Wissensaneignung und -darstellung, die auf eine Verfestigung kolonialer Verhältnisse hinausläuft. Wie kann man die alten, der kolonialen Weltanschauung inhärenten Dichotomien wie eigen/fremd, them and us usw. überwinden? Deshalb fragt der Ethnologe und Theaterwissenschaftler Dwight Conquergood:

What are the rhetorical problematics of performance as a complementary or alternative form of „publishing“ research? What are the differences between reading an analysis of fieldwork data, and hearing the voices from the field interpretively filtered through the voice of the researcher?12

Dies führt schließlich zu der Überlegung, die man als eine Art performativer Wende innerhalb der Ethnologie bezeichnen könnte, die aber analog auf die performance studies zurückwirkt: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“13 Diese wohl radikalste Perspektive wirft grundlegende epistemologische Fragen auf hinsichtlich der Darstellung wissenschaftlichen Wissens und der Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen dem wissenschaftlichen Beobachter und dem Gegenstand dieser Beobachtung. Kann eine Aufführung herkömmliche, ‚objektive‘ Formen wissenschaftlichen Schreibens ersetzen oder zumindest als ebenbürtig betrachtet werden? Dieser Vorschlag fügt sich ein in allgemeinere Überlegungen zu Multivokalität, Dialogizität und Selbstreflexion, die alle Geistes- und Kulturwissenschaften in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erfassten.14

Die dritte Wende betrifft die Lokalität der Ethnographie selbst und vor allem das Verhältnis zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘. In seinem Aufsatz „Feld ohne Ferne: Reflexionen über ethnologische Forschung zu Hause – in Hamburg zum Beispiel“, stellt der Münchner Ethnologe Martin Sökefeld fest: „Ethnologie [ist] nicht mehr die Wissenschaft vom ‚Fremden‘ oder ‚kulturell Anderen‘, sondern die Wissenschaft von wechselnden Positionierungen und Perspektiven.“15 Zunehmend werden die Kultur(en) vor Ort zum Untersuchungsgegenstand, was Sökefeld als das Feld ohne Ferne bezeichnet.

Die Frage ist nun, ob und inwiefern eine theaterethnographische Forschung von diesen Ansätzen profitieren und sie anwenden kann? Das möchte ich an zwei Beispielen durchspielen, die jeweils andere Perspektiven beleuchten: an der Arbeit des sehr bekannten Kollektivs Rimini Protokoll und an einem weniger bekannten, internationalen Theaterprojekt, Hunger for Trade, das zwischen 2013 und 2014 am Schauspielhaus Hamburg und in mehreren Ländern realisiert wurde.

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9783823300120
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