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1 Blick in den Eingangsbereich der sogenannten Kleinen Galerie der Staatlichen Galerie Moritzburg in der Großen Ulrichstraße in Halle (Saale) während der Willi-Sitte-Ausstellung 1965

Sittes Welt
Vom Ausstellen und Sammeln der Werke Willi Sittes mit besonderem Bezug zum Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)

Thomas Bauer-Friedrich

2021 – 32 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989 und drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung der 40 Jahre getrennten beiden deutschen Staaten – findet im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) das erste Mal seit 1986 wieder eine umfassende Werkschau Willi Sittes statt – jenes Künstlers, der in den 1970er und 1980er Jahren im In- wie im sozialistischen und kapitalistischen Ausland exemplarisch für die Kunst der DDR stand. Aufgrund seiner engen Verflechtungen mit dem politischen System des Staates (1974–88 Präsident des Verbands Bildender Künstler, 1976–89 Mitglied der Volkskammer, 1986–89 Mitglied des Zentralkomitees des Politbüros der SED) wagten sich in den zurückliegenden Jahren, abgesehen von der Willi-Sitte-Galerie in Merseburg,1 nur wenige Museen und Galerien daran, größere Präsentationen der Werke des Künstlers zu zeigen, und wenn, dann konzentrierte man sich auf Ausschnitte aus dem Gesamtwerk, scheute jedoch eine Aufarbeitung der Doppelrolle Sittes als Künstler und Funktionär und eine seit langem überfällige Überblicksausstellung.2 Dieses Desiderats nahm sich das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) mit Blick auf den 100. Geburtstag des Künstlers an – nicht von ungefähr, entstand doch nahezu das gesamte Werk in der Saalestadt und fanden in ihrem Museum mit den beiden Retrospektiven 1971 und 1981 wesentliche Ausstellungen statt. Im Folgenden wird als Einführung in die Thematik und die Rezeption des Sitte’schen Schaffens ein Abriss über das Ausstellen und Sammeln seiner Werke gegeben mit besonderem Bezug zum halleschen Kunstmuseum, das als erstes Museum der DDR Arbeiten des Künstlers zeigte und erwarb. Beispielhaft lässt sich an dieser Geschichte Sittes Kampf mit der Kulturpolitik der SED und Ringen um seine Ansprüche an wie auch sein Verständnis von Kunst erkennen.

Erste Ausstellungsbeteiligungen und Ankäufe in Halle (Saale)

Willi Sitte kommt im Sommer 1947 nach Halle (Saale). Schaut man auf seinen künstlerischen Werdegang bis dahin, fällt auf, dass er kaum als Maler tätig geworden war, sondern sich vorrangig als Zeichner betätigt hatte und als solcher in Ausstellungen während der Zeit des „Dritten Reichs“ in Böhmen wahrgenommen worden war.3 Erste Gemälde in einem konservativ-traditionellen Stil schuf er in seinem Mailänder Jahr 1945/46. So verwundert es nicht, dass er in Ausstellungen der Jahre 1948 und 1949 jeweils mit Arbeiten auf Papier und nur einem Gemälde vertreten war.4 Die lokale hallesche Tageszeitung Freiheit rezensierte 1949: „Sehr stark beeindruckt hat uns das Gemälde von Willi Sitte ‚Vor der Gießwanne‘. Sowohl das Motiv der Arbeit, wie auch die Bewegung und die Farbgebung machten uns das Ganze lebensecht und wahr.“5 Das Gemälde 2 gelangte vermutlich gemeinsam mit anderen Arbeiten aus der Schau in direkter Folge der Landeskunstausstellung Sachsen-Anhalt 1949 in das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale),6 womit es 1949/50 das erste Gemälde des Künstlers ist, das von einem Museum erworben wurde. Nach der Flucht des wegweisenden ersten Nachkriegsdirektors des Museums, Gerhard Händler (1906–1982), im Februar 1949 aufgrund der maßregelnden Angriffe der Partei auf seine Sammlungs- und Ausstellungspolitik,7 wurde im Dezember 1949 Hans Kahns (1887–?) als Leiter des Museums installiert. Er nahm die systemkonforme Umgestaltung des Hauses im Sinne der Parteidirektiven vor. Vermutlich gelangte Vor der Gießwanne während seiner einjährigen Amtszeit in das Museum.

2 Willi Sitte: Vor der Gießwanne, 1949, Öl auf unbekanntem Bildträger, keine Maße bekannt, verschollen

Zur 2. Deutschen Kunstausstellung in Dresden im Herbst 1949 reichte Sitte zwei heute als verschollen geltende Gemälde ein.8 Im selben Jahr wurde das großformatige Gemälde der Häuslerin S. 221 in das hallesche Kunstmuseum übernommen, nachdem dieses im Frühjahr 1949 im Auftrag der Landesregierung Sachsen-Anhalt entstandene Werk binnen kurzer Zeit das Missfallen der Funktionäre hervorgerufen hatte.9 1952 erlebte man Sitte in der ersten Bezirkskunstausstellung in Halle (Saale) erneut „nur“ als Zeichner mit zwei Porträts seines Sohnes Volkmar aus erster Ehe mit Irmgard Kindler.10

Als Maler trat Sitte in der Saalestadt erstmals 1953/54 öffentlich in Erscheinung und sorgte sofort für Furore. In beiden Jahren präsentierte er sein großformatiges Gemälde Marx liest vor S. 266, für das er 1953 den ersten Preis des in jenem Jahr etablierten Kunstpreises der Stadt Halle (Saale) verliehen bekam.11 Im Ergebnis einer Aussprache im Oktober 1953 vor dem Gemälde in der Moritzburg soll der Künstler einige Veränderungen vorgenommen haben und präsentierte es 1954 auf der Bezirkskunstausstellung ebenda.12 Heute gilt das Werk als übermalt und damit verloren. Stilistisch zeigt es Sittes Vermögen, zeitgleich auf verschiedenen Klaviaturen zu spielen und damit die unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Partei wie auch seiner Künstlerkollegen zu erfüllen. Während das große Marx-Bild eine trockene realistische Darstellung im Sinne eines fiktiven Historienbildes in der Tradition des Akademismus des 19. Jahrhunderts darstellte, schuf er parallel dazu seit 1950 seine Malereien auf sogenannten Henning-Kartons13 S. 244 ff in einem der Moderne verpflichteten Stil. Diese waren bis 1963 öffentlich nicht ausgestellt, weil nicht ausstellbar, da sie konträr zum von der Partei eingeforderten Sozialistischen Realismus standen. Für diese und ähnliche moderne Arbeiten, die nur dem Kreis seiner Freunde und Parteigenossen bekannt waren, musste sich Sitte bis in die 1960er Jahre hinein von den Funktionären der SED den Vorwurf des „Formalismus“ und „Modernismus“ gefallen lassen.

3 Willi Sitte, Fritz Freitag, Otto Müller: Der erste Aufstand der halleschen Salzwirker, 1953, Öl auf Hartfaser, 120 × 246 cm, Stadtmuseum Halle

In diese Zeit fallen weitere Erwerbungen des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) – jedoch nicht der non-konformen Henning-Kartons, sondern realistischer Werke. Im März 1953 holte der Museumsdirektor und Parteifreund Sittes, Heinz Arno Knorr (1909–1996), als Übereignung von der Deutschen Handelszentrale Leder in Halle (Saale)14 das Gemälde Zug ins Leben (1947, S. 207) in die Sammlung und tauschte Vor der Gießwanne durch die 1952 entstandene Historiendarstellung Karl Liebknecht kommt aus dem Gefängnis 1918 S. 257 aus.15 Bereits im Folgejahr wurde der Zug ins Leben wieder ersetzt und für eine großformatige Rötelzeichnung16 zum Völkerschlacht-Gemälde S. 188 eingetauscht. Ebenso gelangte das von Sitte gemeinsam mit Fritz Freitag (1915–1977) und Otto Müller (1898–1979) im Auftrag der Stadt Halle (Saale) für das Theater des Friedens geschaffene großformatige Gemeinschaftswerk Der erste Aufstand der halleschen Salzwirker von 1953 3 in die Sammlung.17 Otto-Heinz Werner (1914–2000), 1951–54 Kustos und rechte Hand von Knorr und ab 1954 dessen Nachfolger als Direktor,18 erinnerte sich 1989 in einem Brief an Willi Sitte: „Wir wechselten ja auch oft Deine Arbeiten im Museum aus, bzw. behielten wir typische für die Sammlungen, was nicht immer ohne Ärger abging. Ich denke da an das ‚Karl-Liebknecht-bild‘ [sic!] das man in Dresden ablehnte und ich es zum Verdruß von Herrn Hoffmann sehr zentral im halleschen Museum platzierte.“19 Werner war es auch, der 1956 eine zweite Fassung der Bergung aus Hochwasser 4 bei Sitte in Auftrag gab, die dieser bis 1958 für das hallesche Kunstmuseum schuf. Damit gelangte ein erstes „formalistisches“ Werk des Künstlers als offizieller Auftrag in die Sammlung.20 „Als Willi Sitte Bergung II schließlich vollendet hatte, wurde das Bild zwar für die Moritzburg angekauft, aber ausstellen konnte man es erst später.“21

4 Willi Sitte: Bergung aus Hochwasser II, 1958, Öl auf Hartfaser, 165 × 205 cm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)

Auf der heftig umstrittenen Bezirkskunstausstellung 1957, der sogenannten Weihnachtsausstellung, war Sitte erneut nur mit vier Arbeiten auf Papier vertreten, obwohl er zu dieser Zeit die Hochwasserkatastrophe am Po S. 263 und die erste Fassung der Bergung aus Hochwasser ebenso wie das Völkerschlacht-Gemälde S. 344 f fertiggestellt hatte und parallel am Kampf der Thälmann-Brigade in Spanien S. 34722 und dem Lidice-Werkkomplex S. 350 ff23 arbeitete.

Das Ablehnen von zu den zentralen Ausstellungen des VBK auf Bezirks- bzw. Landesebene eingereichten Arbeiten Willi Sittes wiederholte sich bis in die 1960er Jahre mehrfach. Wie von Werner richtig erinnert, sandte Sitte 1953 sein Liebknecht-Bild S. 257 zur legendären „sowjetisierten“ Dritten Deutschen Kunstausstellung nach Dresden, wo es von der Jury abgelehnt wurde. Während das gerade vollendete Arbeiter-Triptychon S. 399 1960 auf der Bezirkskunstausstellung in der Moritzburg zwar gezeigt, doch heftig diskutiert und von Gerhard Pommeranz-Liedtke (1909–1974) in einem Artikel im Neuen Deutschland kritisiert wurde,24 lehnten die Jurys der Kunstausstellung zu den 3. Arbeiterfestspielen der DDR in Magdeburg 1961 das mehrteilige, großformatige Gemälde Memento Stalingrad S. 35925 und der Fünften Deutschen Kunstausstellung in Dresden 1963 das Polyptychon Unsere Jugend S. 401 ab. Begleitet wurden diese Prozesse von heftigen Auseinandersetzungen Sittes mit der Bezirksleitung der SED aufgrund Sittes kritischer Haltung zur Kulturpolitik der DDR, vor allem zum Dogma des Sozialistischen Realismus, die final in der im Februar 1963 zunächst in der Freiheit und eine Woche später im Neuen Deutschland veröffentlichten Selbstkritik „Meine ganze Kraft für den sozialistischen Realismus“ kulminierten.26

Beginn der Akzeptanz: erste Personalausstellung in der DDR

Nur sechs Monate später gewährte man ihm mit 42 Jahren seine erste museale Einzelausstellung in der DDR. Sie fand vom 18. August bis 17. September 1963 unter dem Titel Willy Sitte. Gemälde, Graphik im Erfurter Angermuseum statt 5 und war alles andere als eine unpolitische Veranstaltung. Hintergrund und Voraussetzung war der Wechsel in der Leitung des Hauses im Frühjahr 1963 von dem jahrzehntelangen, der Moderne zugewandten Direktor Herbert Kunze (1895–1975) zu dem – wenngleich umstrittenen – Parteimitglied Karl Römpler (1915–1991).27 Cornelia Nowak fasst diesen Wechsel wie folgt zusammen: „Generationswechsel, Zeitenwandel, Kursänderung. Ausstellungsprogramm und Sammlungskonzeption des Angermuseums ändern sich deutlich. Galt Kunzes Aufmerksamkeit der Klassischen Moderne, dem Bauhaus und der Nachkriegsavantgarde von Dresden bis Paris, wird sich Römpler in den Jahren seiner Amtszeit tendenziell auf die von der jungen DDR-Kulturpolitik besonders geachteten Künstler konzentrieren. Die erste unter seiner Leitung gezeigte Ausstellung gilt Willi Sitte, 1964 folgen Werner Tübke und Willi Neubert, 1966 Bernhard Heisig.“28

5 Willi Sitte: Plakat zur Ausstellung Willy Sitte. Gemälde, Graphik im Erfurter Angermuseum, Angermuseum, Erfurt

Die Sitte-Ausstellung war eine Initiative Römplers, der sein Amt am 1. Juni 1963 antrat und diese in kürzester Zeit mit dem strittigen Künstler zusammengestellt haben muss.29 Gezeigt wurden 33 Zeichnungen und 32 Ölbilder aus den Jahren 1950 bis 1963, von denen acht Zeichnungen und 16 Gemälde vor 1960 entstanden waren, mithin ein Drittel aller ausgestellten Werke bzw. sogar die Hälfte aller Gemälde. Das erstaunt insofern, als eben diese der Moderne verbundenen Werke von der SED-Kulturpolitik unentwegt als „modernistisch“ kritisiert und abgelehnt wurden. Acht Gemälde stammten aus der ersten Jahreshälfte 1963, darunter neben Aktdarstellungen Meine Eltern II S. 115, Vater mit Weihnachtsgans30 und als Hauptwerk der Schau das gerade vollendete Großformat Die Überlebenden S. 363. In einer Rezension hieß es: „Willy Sitte ist ein recht problematischer Maler, der sich gleichermaßen wach mit den modernen künstlerischen Erscheinungsformen und den gesellschaftlich-politischen Äußerungen unserer Zeit auseinandersetzt und so zu einer Gestaltungsweise gelangt, die voller Spannung ist.“31 Eine weitere Besprechung resümierte seinen Malstil wie folgt: „Sittes Kunst fußt mehr auf dem Zeichnerischen als auf dem Malerischen. Seine Oelbilder wirken wie kolorierte Zeichnungen. Bei der Farbgebung selbst neigt der Künstler zur lauten Palette. Scharfe Linien und gestraffte Konturen geben seinen Grafiken und Porträts eine herbe, fast spröde Note, woraus sich auch sein ureigener, persönlicher Stil widerspiegelt, dem eine intime, fein empfundene Stimmung weniger liegt.“32 Rainer Behrends (* 1937), Mitarbeiter des Museums, verfasste eine umfassende Rezension für die Zeitung Das Volk, in der er Die Überlebenden als „eine neue Stufe seines Weges zum sozialistischen Realismus“ kategorisiert.33 Unmissverständlich wog Behrends den „weniger […] koloristische Reize auskostende[n] Maler“ zugunsten des „ausdrucksstärksten Zeichners unserer Kunst“ auf. Folgerichtig kaufte das Angermuseum aus der Ausstellung drei Zeichnungen an, womit es das zweite Museum war, das Werke des Künstlers erwarb. Man hatte auch Interesse an dem Gemälde Meine Eltern II. Dieses hatte der Künstler jedoch bereits dem halleschen Kunstmuseum zugesagt.34 Behrends legte in seiner Rezension zudem deutlich den Finger in die Wunde des Künstlers, wenn er einerseits „die Notwendigkeit des künstlerischen Experimentes zur Klärung von Problemen des sozialistischen Realismus“ konstatiert, andererseits jedoch bezüglich der erstmals öffentlich ausgestellten Werke der ersten Hälfte der 1950er Jahre formuliert, dass diese „zwar farblich schön und genußreich zu betrachten sind, […] aber eindeutig die Unmöglichkeit beweisen, durch Nachahmen von Elementen der spätbürgerlichen Kunst unseres Jahrhunderts zur Form und zum Inhalt unserer Kunst zu gelangen.“ Damit resümierte er treffend die Problemlage in der Diskussion der Kunst Willi Sittes zwischen 1951 und 1963.

Die Ausstellung wurde Anfang 1964 von den Staatlichen Museen Meiningen übernommen.35 Die vom 29. Februar bis 22. März 1964 im Kulturhaus der Mansfelder Bergarbeiter in Eisleben realisierte Einzelausstellung basierte offenbar auf einer leicht veränderten Auswahl aus dem Erfurter Konvolut. Gezeigt wurden 61 Gemälde und Zeichnungen seit 1950, darunter anders als in Erfurt Zeichnungen zum aktuell entstehenden Triptychon der Brigade Heinicke S. 403 und das Blatt zum 65. Geburtstag von Louis Aragon S. 417.36 Die Werke wurden vom Publikum offenbar sehr kontrovers wahrgenommen,37 sodass ein Gesprächsabend mit dem Künstler gemeinsam mit seinen Kollegen Hannes H. Wagner (1922–2010), Rolf Kiy (1916–1996), Eberhard Frey (1916–1993) und Erich Enge (* 1932) stattfand. Wolfgang Schrader (* 1933) resümierte: „Diese Bemühungen auf dem Bitterfelder Weg werden der bildenden Kunst ständig mehr verständnisvolle Freunde gewinnen, die wiederum an die Künstler höhere Ansprüche stellen.“38

Die Ausstellung in Eisleben fand sozusagen am Vorabend zweier entscheidender Ereignisse des Jahres 1964 statt – sowohl für die Kunst- und Kulturpolitik der DDR als auch für Willi Sitte persönlich. Vom 24. bis 26. März 1964 tagte der V. Kongress des VBK im Kulturhaus des Werks für Fernsehelektronik, Berlin-Oberschöneweide. Hier vollzog Sitte den Beginn seiner Abkehr von der Gruppe der radikalen Kritiker der staatlichen Kulturpolitik um Herbert Sandberg (1908–1991) und Fritz Cremer (1906–1993) und seiner allmählichen Übereinstimmung mit den Dogmen der Partei.39 Auf einer Auswertung der Ereignisse auf dem Kongress in der Abteilung Kultur des ZK der SED in Berlin wurde kritisiert, dass der Kongress parteipolitisch schlecht vorbereitet war, und propagiert, dass sich dies einen Monat später bei der 2. Bitterfelder Konferenz nicht wiederholen dürfe. Diese fand am 24./25. April 1964, veranstaltet von der Ideologischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED und vom Ministerium für Kultur, statt. Der künstlerische (und ideologische) Wandlungsprozess Willi Sittes wurde auf dieser Konferenz vom Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht (1893–1973) durch namentliche Erwähnung goutiert: „Ich möchte solche Künstler und Schriftsteller wie Lea Grundig, Walter Womacka und Rudolf Bergander, Willi Neubert und Willi Sitte […] sowie all die anderen Schriftsteller, bildenden Künstler, Komponisten, Musiker, Regisseure und Darsteller, die in den letzten Jahren interessante Werke schufen und echte Probleme zur Diskussion stellten, aufrufen, den Bitterfelder Weg zu einer großen parteilichen und volksverbundenen Kunst weiterzugehen!“40 Dieser Anerkennung vom höchsten Funktionsträger der DDR war bereits im Februar deren formale Manifestation vorausgegangen: Am 1. Februar 1964 bekam Willi Sitte für „seine[] künstlerische[] Gestaltung großer nationaler Themen, besonders seines Werkes Die Überlebenden41 gemeinsam mit 14 weiteren Kulturschaffenden, darunter die Schauspielerin Helga Göring (1922–2010) und aus dem Bezirk Halle (Saale) der Komponist Gerhard Wohlgemuth (1920–2001), von Kulturminister Hans Bentzien (1927–2015) im Apollo-Saal der Deutschen Staatsoper in Berlin den Kunstpreis der DDR verliehen.42

Im Juni 1964 kaufte der Rat des Bezirkes Halle (Saale) für die Staatliche Galerie Moritzburg Sittes noch im Vorjahr aus der Fünften Deutschen Kunstausstellung ausjuriertes Polyptychon Unsere Jugend S. 401; im August desselben Jahres überwies der Rat des Bezirks das Bildnis Meine Eltern II an das Museum. Dem Erwerb dieser beiden kapitalen Werke waren 1961 der Ankauf eines Weiblichen Akts43 und 1963 die Dauerleihnahme des Stilllebens mit Brille S. 71 vom Künstler vorausgegangen. Damit befanden sich Mitte der 1960er Jahre bereits acht Gemälde Sittes im Bestand des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) – so viele wie in keinem anderen Museum der DDR. Die Nationalgalerie in Ost-Berlin begann zu dieser Zeit erst, sukzessive einzelne Werke des Künstlers zu erwerben. Den Auftakt machte 1963 sein Bildnis Meine Eltern von der LPG S. 114, gefolgt von Meine Eltern III44 im Jahr 1967. 1965 erhielten die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Die Überlebenden S. 363 vom Ministerium für Kultur der DDR aus der Ausstellung Kunstpreisträger des FDGB 1963 übereignet. Damit fand das Œuvre Willi Sittes auffallend im unmittelbaren Nachklang zu den Ereignissen der Jahre 1963/64 breiteren Eingang in die relevanten Museumssammlungen der DDR.

Erste Personalausstellung in der Bundesrepublik

1965 brachte den nächsten Schritt im sukzessiven Aufstieg des Künstlers. Ab dem 24. Mai veranstaltete Richard Hiepe (1930–1998) in seiner Neuen Münchner Galerie am Maximiliansplatz die Ausstellung Willi Sitte. Gemälde und Zeichnungen. Da es Probleme mit der rechtzeitigen Lieferung der Leihgaben gab, war sie wahrscheinlich für nur sehr kurze Zeit zu sehen.45 Die über die westdeutsche DKP organisierte Schau war Sittes erste Einzelausstellung in der Bundesrepublik und fand „anläßlich des 20. Jahrestages der Zerschlagung des Hitlerfaschismus“46 statt. Gezeigt wurden 26 Gemälde und 40 Zeichnungen aus den Jahren 1948/50 bis 1964. Es erschien ein schmales Katalogheftchen mit einem einführenden Essay von Christa und Gerhard Wolf. Hiepe war nicht nur Galerist, sondern 1959 auch Gründer der Gruppe tendenzen, zu der Sitte seit 1960 freundschaftliche Kontakte pflegte.47 Die Ausstellung war von nationaler Relevanz wie aus folgender Meldung der Freiheit deutlich wird: „Auf der 5. Tagung des Zentralvorstandes des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands in Berlin sagte der Sekretär des Verbandes Horst Weiß, daß die Ausstellungen mit Werken von Fritz Cremer in Moskau und von Willi Sitte in München zu den bedeutendsten Auslandserfolgen der Künstler der DDR gehören.“48

6 Blick in die Ausstellung Willi Sitte: Handzeichnungen in der Kleinen Galerie der Staatlichen Galerie Moritzburg, Halle (Saale), 1965

Im Sommer 1965 folgte schließlich die erste Einzelpräsentation des Künstlers in Halle (Saale), und zwar in der Dependance der Staatlichen Galerie Moritzburg, der Kleinen Galerie in der Großen Ulrichstraße 24 1/6.49 Die Ausstellung Hallesche Kunst: Prof. Willi Sitte. Handzeichnungen fand unter Direktor Heinz Schönemann (* 1934) vom 24. August bis 24. Oktober 1965 statt und vereinte 63 Blätter, „einige Arbeiten aus den Jahren 1948 und 1949 […], während der größte Teil der ausgestellten Zeichnungen nach 1961 entstand-[en war]“50. Der hallesche Kunsthistoriker Wolfgang Hütt (1925–2019) resümierte sehr richtig die besondere Qualität und Bedeutung der Zeichnungen Sittes: „Aus diesem Grunde sollen auch seine Zeichnungen nicht nur als Studien bewertet werden, sondern als seine künstlerische Art und Weise des Sinnierens über die Wirklichkeit.“51 Unmittelbar aus der Ausstellung angekauft wurden die Federzeichnung Liebespaar S. 448 und die Filzschreiberzeichnung Frauen auf der Straße; das ebenfalls ausgestellte Blatt Kirschpflücker gelangte erst 1972 über den Rat des Bezirks in die Sammlung.52 1966/67 erfolgten mit dem Rückenakt S. 462 und dem Arbeiter in der Mittagspause53 7 zudem zwei weitere Gemäldeankäufe über den Rat des Bezirks.

1969 fanden sowohl im westlichen als auch im sozialistischen Ausland Einzelausstellungen Willi Sittes statt, so in Arie-Goral Sternheims (1909–1996) Intergalerie in Hamburg; in Bukarest, Budapest und 1970 in Krakau war die Tournee Willi Sitte. Malerei und Graphik zu sehen, womit er erstmals nicht nur mit einzelnen Werken, sondern mit größeren Werkkonvoluten im Ausland bekannt wurde.54 1969 beauftragte ihn Wolfgang Hütt, mittlerweile Direktor des halleschen Kunstmuseums, mit einem Zyklus von Zeichnungen anlässlich des 100. Geburtstags von Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924, S. 418 ff). Dieser Zyklus wurde noch Ende des Jahres erworben und im Museum präsentiert, bevor er Teil der großen Lenin-Ausstellung in Ost-Berlin war.55 Das in eben diesem Kontext entstandene Gemälde Hommage à Lenin S. 423, für das Sitte den Kunstpreis der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) erhielt, kaufte die Nationalgalerie über das Ministerium für Kultur der DDR im selben Jahr an. Ebenfalls 1970 bekam sie die beiden Leuna-Gemälde übereignet: Leuna 1921 S. 409 vom VEB Leuna-Werke „Walter Ulbricht“, Leuna 1969 S. 411 vom Ministerium für Kultur der DDR. Auch die hallesche Sitte-Sammlung erfuhr in dieser Zeit weitere Zuwächse. Im September 1969 gelangten drei neue Gemälde in den Museumsbestand: das Porträt Erik Neutsch S. 320 als Übereignung vom Rat des Bezirks, Familie am Meer S. 465, angekauft für das Museum durch den Rat der Stadt, und Rufer II S. 297 übereignet vom Rat des Bezirks.

Während sich im Laufe der 1960er Jahre schrittweise die Anerkennung von Sittes Schaffen vollzog, wenngleich er sich noch bis Ende des Jahrzehnts immer wieder Formalismus-Vorwürfen ausgesetzt sah, jedoch mit abnehmender Tendenz, hatte sich seine Position zu Beginn der 1970er Jahre gefestigt. 1967 war er erstmals mit einer größeren Werkauswahl auf der Kunstausstellung der DDR in Dresden vertreten;56 1969 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Künste in der DDR gewählt und erhielt „für sein bedeutendes künstlerisches Werk als Maler, insbesondere seine jüngste Arbeit Leuna 1968 [sic!]“57 den Nationalpreis der DDR II. Klasse für Kunst und Literatur. Seit 1964 Mitglied des Zentralvorstands des VBK wurde er 1970 einer der Vizepräsidenten und 1974 dessen Präsident. 1972 war Sitte Direktor der neugeschaffenen Sektion Bildende und Angewandte Kunst an der Hochschule für industrielle Formgestaltung, der heutigen Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, geworden; 1973 folgte die Ernennung zum ordentlichen Professor für Malerei.58

7 Willi Sitte: Arbeiter in der Mittagspause, 1963, Öl auf Hartfaser, 140 × 120 cm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)

8, 9 Ansichten der Willi-Sitte-Retrospektive in der Staatlichen Galerie Moritzburg, Halle (Saale), 1971

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9783865024831
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