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1. Das Daodejing

Zu Beginn möchte ich die einleitend zitierten Sätze in den Kontext des gesamten Kapitels 1 des Daodejing stellen:

Der Weg, der gesagt werden kann, ist nicht der beständige Weg.

Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der beständige Name.

Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde.

Das Namen-Habende ist die Mutter der tausenderlei Wesen.

Darum sei beständig ohne Begehren, um sein Subtilstes zu schauen.

Sei beständig mit Begehren, um seine Grenzen zu schauen.

Diese beiden sind desselben Ursprungs, aber haben verschiedene Namen.

Gemeinsam heißen sie das Dunkle,

des Dunklen noch Dunkleres.

Das ist das Tor zu allem Subtilen.1

Das Kapitel beginnt mit der Unterscheidung zwischen dem Benannten und dem nicht Benennbaren. Das Benannte, das in sprachliche Form Gebrachte wird dabei keineswegs abgetan. Vielmehr spielt der Text mit der Ambivalenz des Daos als des Unbenennbaren und des real je doch Benannten. Das Dao ist keineswegs das Transzendente, Abgekapselte, sondern es entfaltet sich selbst in der Wirklichkeit in Benennungen. Für die Erzeugung der Wirklichkeit kann das Dao nicht in der Unbestimmtheit bleiben, sondern es erzeugt sie, indem es sich bestimmt und Form annimmt. Beide Seiten des Dao als das Unbenennbare und als das immer schon Benannte ergeben gemeinsam das volle Bild. Es ist durchaus möglich, sich dem Dao sprachlich anzunähern, man wird es dabei jedoch in eine nicht-beständige Form bringen.

Gleichwohl ist die Unbestimmbarkeit dem Dao nichts Äußerliches. In Kapitel 14 wird es als „Gestalt ohne Gestalt“ bezeichnet:

Vage und subtil – es kann nicht benannt werden.

Es kehrt zurück ins Ding-lose.

Das nennt man die Gestalt ohne Gestalt,

die Form ohne Ding.

Man nennt es das Verschwommene und Vage.

Es sind nicht etwa unsere mangelnde Erkenntniskraft oder die Grenzen unserer Sprache, welche die sprachliche Bestimmung des Dao verhindern. Es ist in sich selbst ein nicht Festgelegtes, es widersetzt sich der Eingrenzung in eine eindeutige Gestalt.

Weshalb ist das so? Was motiviert den Autor, das erste Prinzip als ein Unbestimmbares anzusehen? An dieser Stelle möchte ich vom ersten Kapitel des ersten Teils in das erste Kapitel des zweiten Teils des Daodejing springen. Die beiden Teile sind überschrieben mit den Stichwörtern „Dao“ 道 und „De“ 德. De kann mit „Lebenskraft“ oder „Tugend“ übersetzt werden. De ist die reale Umsetzung des Dao im einzelnen Lebewesen. Da alle Dinge dem Dao entspringen, gestaltet sich ihr natürliches Sein ebenfalls gemäß dem Dao. Dies wird als De bezeichnet. Der Mensch hat nun das Vermögen, sein eigenes Verhalten zu bestimmen. Damit stellt sich ihm die Frage nach dem De noch in anderer Weise – nämlich als Frage nach dem idealen Verhalten. Das De ist das gelingende Verhalten – nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern unter umfassender Einbeziehung praktischer Aspekte. Wie kann sich dieses nach der Auffassung des Daodejing gestalten?

Die Einleitungssätze des zweiten Teils geben auf diese Frage eine überraschende Antwort:

Das hohe De versucht sich nicht als De zu gebärden, deshalb besitzt es De.

Das niedrige De will das De nicht verlieren, deshalb besitzt es kein De. (c. 38)

Den ersten Halbsatz müssen wir im chinesischen Original betrachten, denn er spielt mit den Grenzen der Grammatik. Im Chinesischen können viele Wörter sowohl als Substantiv als auch als Verb auftreten. Dies gilt jedoch nicht für das Wort „De“, welches nicht als Verb benutzt werden kann. Genau das tut der Text jedoch beim zweiten Vorkommen von „De“ in diesem Vers:

上德不德

Shàng dé bù dé

Das Negativpartikel 不 kann nur vor Verben stehen, daher muss das zweite „De“ verbal interpretiert werden. Unter Missachtung der sprachlichen Usancen formt der Text das Substantiv zu einem Verb um. Man könnte im Deutschen seinerseits sprachlich gewalttätig übersetzen: „Hohe Tugend tugent nicht“. Die Erwägung der Frage, was damit gemeint sein kann, ist Aufgabe der Interpretation. Mein Vorschlag lautet: Das dem Dao gemäße Verhalten ist ein solches, welches sich nicht an einem Idealbild des De orientiert. Wer eine bestimmte Form des Verhaltens anstrebt, versteift sich auf einen Aspekt des Lebens und blendet andere aus. Das Dao als das Bewegungsprinzip aller Wesen wird so in der Selbstentfaltung behindert2. Das Daodejing vertritt die These, dass die Propagierung von Verhaltensnormen wie Güte, Rechtschaffenheit oder Liebe zu den Eltern3 nicht nützt, sondern vielmehr schadet. Der Mensch wird sich eher gütig verhalten, wenn ihm die Güte nicht als Idealbild und Pflicht vorgehalten wird4. Dahinter steht die Vision eines zwanglosen Idealverhaltens, das sich mühelos von selbst ergibt. In der Terminologie der modernen Psychologie kann dies als eine spezielle Art von Flow verstanden werden5.

Das Dao muss also gestaltlos sein, um die Praxis dazu zu bewegen, ihre Ausrichtung auf eine Zielgestalt aufzugeben. Aus der Unbestimmtheit des De, des praktischen idealen Verhaltens, ergibt sich die Unbestimmtheit des Dao als des metaphysischen6 Prinzips. Eine bestimmte Verhaltensweise – eine bestimmte Gestalt des Verhaltens – kann in einer Situation richtig und passend sein, in anderen Situationen wird sie jedoch nicht passen. Dem entspricht, dass nach Kapitel 1 ein sprachlicher Ausdruck des Dao oder des Weges durchaus als Weg bezeichnet werden darf, jedoch nicht als beständiger Weg. Ein sprachlich formulierter Weg könnte ein Stück weit erfolgreich leiten, er würde sich später jedoch als nicht weiterführend erweisen. „Beständig“ heißt hier: In allen Situationen des Lebens in dessen Vielgestaltigkeit passend. Jede explizite Theorie gelingenden Lebens bleibt hinter der Ganzheit des Lebens zurück und blendet gewisse Aspekte aus. Dementsprechend wird es an mehreren Stellen als Kennzeichen des gelingenden Verhaltens angesehen, dass es „lange“ (久 jiu) zu dauern vermag7.

Das Dao tritt im Daodejing in mindestens dreifacher Funktion auf: Erstens als Entstehungsprinzip aller Dinge, zweitens als natürliches Bewegungsprinzip der Dinge (und insbesondere der Lebewesen) in ihrem Sein – also gewissermaßen als „Lauf der Dinge“. Drittens ist das Dao der Weg des rechten Verhaltens, des De. Alle drei Funktionen stehen in enger Beziehung zueinander. So ist es entscheidend, dass das Dao nicht nur Richtschnur des gelingenden Verhaltens ist, sondern alle Wesen in deren Veränderung und Verhalten bereits bestimmt. Nur so ist es erklärbar, dass sich der Mensch an einem nicht aussprechbaren praktischen Prinzip orientieren kann.

Warum sieht das Daodejing das Dao – das erste Prinzip – als etwas nicht Sagbares an? Mit dem Dargelegten habe ich die These plausibel zu machen versucht, dass die Motivation hierfür im praktischen Bereich liegt. Die Negativität im Theoretischen – in einer metaphysischen Kosmogonie – gründet in einer negativen praktischen Philosophie. Die Unsagbarkeit des Dao als des Entstehungsprinzips aller Dinge korreliert mit der Unsagbarkeit des Wegs zum gelingenden Leben. Für den Primat des Praktischen gegenüber dem Theoretischen spricht auch, dass in den beiden ältesten einigermaßen vollständig erhaltenen Handschriften des Daodejing die beiden Teile – „Dao“ und „De“ – vertauscht sind8. Diese Fassungen beginnen nicht mit den metaphysischen Ausführungen von Kapitel 1 und dem eher theoretisch fokussierten ersten Teil, sondern mit dem vorwiegend praktische Fragen behandelnden Teil „De“ und den oben aus Kapitel 38 zitierten Sätzen. Wenn diese Interpretation zutrifft, so ist die Theorie des Dao als ersten Prinzips als Korrelat einer vermutlich zuerst existierenden praktischen negativen Philosophie zu deuten. Im Hintergrund steht die Erfahrung einer spontanen, ungebundenen und freien Existenzweise, welche gerade durch das Ablassen von Vorgaben erreicht wird.

Die chinesische Philosophie ist allgemein dadurch charakterisiert, dass ihr Hauptinteresse den praktischen Fragen, der Suche nach dem „Weg“, gilt9. Im Vergleich mit anderen Philosophien der klassischen Epoche (ca. 6.–3. Jh. v. Chr.), wie etwa mit denjenigen von Konfuzius, Menzius oder Xunzi, ist die metaphysisch-kosmologische Seite im Daodejing deutlich stärker ausgeprägt. Die gegebene Interpretation zeigt, dass sich dieses neue kosmologische Interesse in engem Bezug zu Fragen der Gestaltung der Praxis entfaltet. Für seine Formung sind praktische Motive entscheidend.

Die These von der Unsagbarkeit des beständigen Dao hat Laozi nicht daran gehindert, in affirmativer Weise über dieses zu reden. Jede negative Philosophie steht vor dem Dilemma, wie über ein nicht diskursiv Einholbares gesprochen werden kann. Als ein eindrucksvolles Beispiel für eine Möglichkeit, damit umzugehen, kann der erste Teil von Kapitel 25 dienen:

Es gibt da ein Ding, im Trüben vollbracht,

vor Himmel und Erde entstanden.

So still, so leer

steht es allein und ändert sich nicht.

Man kann es als die Mutter von Himmel und Erde ansehen.

Seinen Namen kenne ich nicht.

Soll ich es bezeichnen, so nenne ich es den Weg (Dao).

Gezwungen, ihm einen Namen zu geben, nenne ich es: Groß.

Groß bedeutet: Fortgehen.

Fortgehen bedeutet: Fern sein.

Fern sein bedeutet: Umkehren.10

In poetischer Sprache umschreibt der Text jenes Erste und zögert noch bei der Einführung eines Wortes dafür. Auch die Bezeichnung als „Dao“ ist nur eine äußerliche Hilfe, um überhaupt über es reden zu können. Will man ihm sprachlich näher kommen, so muss auf einen so nichtssagenden Begriff wie „groß“ bzw. „das Große“ zurückgegriffen werden. Alles Reden über das Dao steht unter der Maßgabe, dass es zwar Aspekte davon treffen kann, aber seine Größe und Umfassendheit reduziert.

Dennoch scheut sich das Daodejing nicht, jenen ungreifbaren Lauf der Dinge auch inhaltlich zu charakterisieren und dabei praktische Hinweise zu geben. Ein wichtiges Gesetz des Dao ist die Bezogenheit der Gegensätze und ihr Kreislauf, der das Starke in das Schwache überführt und umgekehrt. Daraus ergibt sich als praktische Konsequenz die Bevorzugung des gemeinhin als negativ Angesehenen: des Schwachen, des Weichen und auch des Weiblichen. Denn wer sich auf das Harte versteift, wird zerbrechen, während die Weichheit das Potential zum Harten hat.

Das Dao, das oberste Prinzip der Welt und insbesondere aller Wohlordnung, wird im Daodejing mehrfach als das Eine bezeichnet11. Es ist dasjenige, welches allen Strukturen Einheit verleiht, sofern diese es in ihnen wirken lassen. Dagegen legt Kapitel 42 ein Modell der Kosmogonie dar, in welchem das Dao das Eine erst erzeugt, welches anschließend in weitere Differenzierungen übergeht. Dies entspricht dem Gedanken, dass das Dao ein Unbestimmtes ist, welches alle Bestimmtheit aus sich heraussetzt. Da alle Rede vom Dao ohnehin cum grano salis zu lesen ist, mag dieser Widerspruch als Ausdruck der Vielgestaltigkeit und Unfassbarkeit des Dao zu lesen sein12.

2. Plotin

Gehen wir nun zur Philosophie Plotins über. Für diesen ist das oberste Prinzip das Eine, aus welchem sich stufenweise die gesamte Wirklichkeit entfaltet. Werner Beierwaltes beschreibt dieses Entfaltungsgeschehen folgendermaßen:

Plotin denkt die Wirklichkeit im ganzen als eine in sich gestufte, in der eine geistige Bewegung wirksam ist, die von einem Ersten ausgeht und aus dessen Selbstentfaltung wieder in dieses zurückgeht. Dieses Erste und (für den Rückbezug) zugleich Letzte ist das Eine selbst – mit dem Guten selbst ein und dasselbe: universal umfassende Ursache alles Einzelnen und Anderen als es selbst. Als eine in sich in-differente Fülle läßt sie Alles durch sich jeweils es selbst sein, wirkt in diesem als dessen Einheits-, Seins- und Lebens-Grund.1

Jegliches Seiendes ist eines, und diese Einheit kann es nur vom Einen selbst haben. Der Geist ist im pointierten Sinne Einer, insofern er sich dem Einen zuwendet und daraus Einheit empfängt. Damit ist alles nicht nur aus dem Einen entstanden, sondern richtet sich auch im Gegenzug auf dieses aus und kann nur so das sein, was es ist. Trotz seiner gedanklichen absoluten Transzendenz ist das Eine in jeglichem Seienden wirksam als dasjenige, was dieses eint und so überhaupt sein lässt.

Das Eine ist für Plotin das absolut Eine, welches keinerlei Teile hat. Da es ohne Teile keine Grenzen haben kann, treffen die üblichen Begriffe es nicht, denn jeder Begriff begrenzt und jede Prädikation führt bereits eine Differenz von Subjekt und Prädikat ein. Das Eine ist damit aus logischen Gründen im eigentlichen Sinne unsagbar. Im Hintergrund hierfür steht eine mystische Erfahrung absoluten Einsseins – nicht eines Einsseins mit dem Einen, denn hier wäre noch Differenz, sondern des Einsseins schlechthin, in welchem es kein unterscheidbares Selbst mehr gibt.

Sprachlich nähert sich Plotin dem Einen vorwiegend über Negationen, an einzelnen Stellen interessanterweise aber auch über positive Begriffe, welche Rede dann aber als uneigentlich gekennzeichnet werden muss. Hier ist insbesondere die Enneade VI 8 zu nennen, in welcher der Ausdruck οἷον „gleichsam“ zu dieser Qualifizierung dient2. Dort werden dem Einen Begriffe wie Wirksamkeit (ἐνέργεια), Wille oder Vermögen (δύναμις) zugesprochen – sie müssen jedoch ganz anders verstanden werden als wenn sie für Einzeldinge verwendet werden. So scheint ein Prädikat wie „Wirksamkeit“ ein Zweites vorauszusetzen, auf welches das Wirkende wirkt bzw. welches es hervorbringt. Plotin präzisiert:

Hiergegen ist nun zu erwidern, dass überhaupt Jener nicht dem Hervorgebrachten gleichzustellen ist, sondern dem Hervorbringenden; dabei haben wir sein Hervorbringen als absolut anzusprechen, nicht, damit ein anderes Ding aus seiner Hervorbringung verfertigt werde, denn seine Wirksamkeit ist nicht auf die Verfertigung eines Anderen gerichtet, sondern sie ist ganz Er; ist er doch nicht Zweiheit, sondern Eines.3

Alle dem Einen zugesprochenen Prädikate müssen erstens in paradoxer Weise umdefiniert werden und zweitens auch so noch als uneigentliche Rede verstanden werden – es gelingt dem Denken und Reden nicht, diese Umdefinition in konsistenter Weise zu erklären.

Die Zugangsweise zum Einen ist nicht das diskursive oder auch intuitive Denken, sondern es wird in einem mystischen Erlebnis des Einsseins erfahrbar. Das Denken kann jedoch indirekt das Eine behandeln, nämlich insofern es Grund von allem Seienden und von dessen Einheit ist. Dass jegliches Seiendes der Einheit bedarf, weist auf das schlechthin Eine hin, welchem diese Einheit entspringt. Diese Dialektik kann die Schau des Einen, auf welche alles zielt, vorbereiten.

Wie beim Daodejing stellt sich die Frage: Was motiviert Plotins Gedanken von der Negativität des obersten Prinzips? Hier fällt zunächst die zentrale Rolle der Einheitserfahrung auf. Auf diese strebt das Philosophieren und damit auch das Leben hin, und aus dieser heraus kann die Konzeption eines reinen Einen ohne jede Scheidung erklärt werden. Jens Halfwassen vertritt demgegenüber die These, dass die Mystik durch die Dialektik fundiert sei: Die Schau des Einen kann nur vorbereitet geschehen, und diese Vorbereitung liefern der dialektische Aufweis, dass alles Wirkliche im Einen gegründet sein muss, sowie die Analyse des Begriffs eines Einen ohne Vielheit4. Dieser Hinweis auf das dialektische Moment ist wichtig, weil es die Rolle der logisch-diskursiven Analyse für die Formung des Konzepts des Einen hervorhebt. An Halfwassens Auffassung, dass die Mystik in der Dialektik fundiert sei, stellt sich jedoch die Rückfrage: Würde sich die Dialektik des Einen nicht ganz anders gestalten, wenn im Hintergrund nicht die Erfahrung einer absoluten Einheit stünde? Nur das Zusammenspiel von Dialektik des Einen und seiner mystischen Erfahrung kann die Ausrichtung der plotinischen Philosophie erklären. Gegenüber einer einseitigen Fundierung der Mystik durch die Dialektik, wie sie von Halfwassen vorgeschlagen wird, sehe ich einen wechselseitigen Fundierungszusammenhang. Die Philosophie Plotins kann nicht einfach als Versprachlichung mystischer Erfahrung gesehen werden, sie ist durch und durch dialektisch geprägt. Ebenso wenig kann das Fundament dieser Dialektik, die Konzeption eines reinen Einen ohne jede Vielheit, nur aus der mystischen Erfahrung heraus verständlich werden. Andere Dialektiker haben das Eine ganz anders behandelt. Im Zentrum der plotinischen Philosophie steht die mystische Erfahrung, seine konkrete Gestalt findet sein Denken des Einen aber nur in deren dialektischer Entfaltung.

Das Motivierende für die plotinische negative Philosophie scheint demnach jene beglückende mystische Erfahrung unterschiedsloser Einheit zu sein, im Zusammenspiel mit einer logisch-dialektischen Entfaltung des Begriffs des Einen und seiner Rolle für die Wirklichkeit.

Während die Motivation für das negative Denken im Daodejing eine praktische ist, liegt sie bei Plotin in der theoria in ihrer höchsten Form – in jener von Platon bereits angesprochenen Schau des Ersten, zu welcher der Diskurs hinführt, an welcher er jedoch seine Grenze findet.

3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Halten wir das Daodejing und das plotinische Denken nebeneinander, so lassen sich zunächst einige Gemeinsamkeiten feststellen. Das oberste Prinzip ist unsagbar; dennoch wird der Versuch unternommen, von ihm zu sprechen. Es ist nicht nur Entstehungsgrund aller Dinge, sondern erhält diese auch: Bei Plotin könnten die Dinge ohne die vom Bezug auf das Eine erhaltene Einheit nicht sein, und das gilt in besonderem Maße für den Geist, welcher sich denkend-strebend auf das Eine bezieht – denn alles Denken hat die Form der Einheit. Das Daodejing schreibt dem De als der konkreten Realisierung des Dao die Rolle zu, dass es alle Wesen aufzieht und nährt, gewissermaßen als deren Mutter1.

In beiden Philosophien findet sich das Motiv der Rückkehr zum Ursprung, aus dem alles entsprungen ist. Bei Plotin wendet sich das Denken zurück zum Einen, aus dem es stammt, und vollendet sich in ihm. Bei Laozi ist insbesondere Kapitel 16 zu nennen:

Die äußerste Leere erreichen –

völlige Ruhe bewahren.

Wenn alle Dinge gemeinsam tätig sind,

so betrachte ich darin, wie sie zurückkehren.

Die Dinge sind in üppigem Wachstum begriffen,

aber jedes kehrt zu seinem Ursprung zurück.

Zum Ursprung zurückkehren bedeutet: ruhig zu werden,

das bedeutet: zu seiner Bestimmung zurückzukehren.

Zu seiner Bestimmung zurückzukehren bedeutet Beständigkeit,

um das Beständige zu wissen bedeutet Klarheit.2

Die einleitenden beiden Verse weisen vermutlich auf eine Meditationserfahrung als den Hintergrund dieser Konzeption hin – auch hierin kann man einen Bezug zu Plotin sehen.

Wenn das erste Prinzip als unsagbar deklariert wird, so könnte man vermuten, dass es ein letztlich inhaltsleeres formales Prinzip ist. Das ist bei beiden Autoren nicht der Fall. Plotin umschreibt das Eine mit Begriffen wie Wirksamkeit oder Wille. Wie Werner Beierwaltes gezeigt hat, wird dem Einen unter dem Vorbehalt des hoion ein Selbstbezug zugeschrieben: Das Eine erzeugt sich selbst3. Das sind positive Begriffe, die von Seinsfülle zeugen. Demgegenüber wird das Dao auch inhaltlich vielfach als ein Negatives qualifiziert: Als „Gestalt ohne Gestalt“4, als leer und vage5, als dunkel und tief6, als „Nicht-Ding“7 oder gar als „Nichts“ schlechthin8. Das Nicht-festgelegt-sein ermöglicht die Wandelbarkeit und eben damit die Beständigkeit des Dao. Dass hiermit keine völlige Unbestimmtheit und Beliebigkeit gemeint ist, zeigen positive inhaltliche Aussagen über das Dao, die oft mit Bildern arbeiten: Das Dao als Tal, als Wasser, als Wurzel, als Blasebalg, etc.9 Negative Aussagen spielen auch bei Plotin eine zentrale Rolle für ein Reden über das Unsagbare. Sie implizieren aber keine inhaltliche Negativität des Einen, sondern haben die Funktion, die Kategorien des in der Vielheit begriffenen Denkens als unzutreffend für das Eine zurückzuweisen. Einige dieser Kategorien wie Wirksamkeit bezeichnen sehr wohl das Eine – aber nur, wenn sie entsprechend umgedacht wurden. Das Eine ist bei Plotin ein Bestimmtes, jedoch durch das diskursive Denken nicht Bestimmbares. Das Dao als gestaltlose Gestalt ist demgegenüber in sich durch negative Züge charakterisiert. Gerade weil es keine Gestalt besitzt, hat es das Potential, jedwede Gestalt aus sich herauszusetzen10. Diese Negativität hat praktische Bedeutung: Das Ziel der Praxis ist, das Dao frei in sich wirken zu lassen. Richtet das Handeln sich auf eine abgegrenzte Zielgestalt, so wird es einseitig, steif und damit brüchig.

Schließlich liegt ein wesentlicher Unterschied darin, dass bei Plotin ein Primat des Theoretisch-Metaphysischen, beim Daodejing ein Primat des Praktischen festzustellen ist. Bei Plotin ist es die theoria in der Form der mystischen Einheitserfahrung, welche das Motiv eines reinen Einen ohne Vielheit anregt. Eine logisch-sprachtheoretische Entfaltung dieses Gedankens führt zur These der Unsagbarkeit des Einen. Das in der mystischen Schau erfahrene Eine ist der Grund und das Ziel der plotinischen Philosophie; die Praxis, soweit sie von Plotin thematisiert wird, kulminiert im Streben nach dieser scheidungslosen Erfahrung des Einen selbst. Die alltägliche Lebenspraxis findet hier keine genuine Beachtung. Dagegen steht hinter dem Gedanken des unsagbaren Wegs eine genuin praktische Erfahrung: diejenige einer Verhaltensweise, welche gerade dadurch gelingt, dass sie sich nicht auf einen festgelegten Plan oder ein Ziel ausrichtet. Das Daodejing setzt großes Vertrauen in die Ordnungskraft unserer spontanen Impulse, sofern diese nicht durch starke Emotionen in Schieflage geraten. Das Dao als metaphysisches Prinzip kann als Grund dieser Impulse interpretiert werden. Die theoretische Philosophie des unnennbaren und gestaltlosen ersten Prinzips erweist sich damit als strenges Korrelat einer praktischen negativen Philosophie.

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