Читать книгу: «Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle», страница 5

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Maschinengewehrarmee

Mit der Wahl Ulrich Willes zum Oberbefehlshaber der Armee am Vorabend des Ersten Weltkriegs befand sich die Neue Richtung auf dem Höhepunkt ihrer jahrelangen Bemühungen um Einfluss und Gewicht in der Schweizer Armee. Als General – ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen – scharte Wille seine engsten Gefährten um sich und beorderte zu diesem Zweck auch seinen langjährigen Protegé, den unlängst in Ungnade gefallenen Gertsch, zurück an die Spitze einer Brigade. In den ersten beiden Jahren nach Gertschs Reaktivierung blieb es sehr still um das einstige Sorgenkind des Militärdepartements – für aufsehenerregende Affären waren vorerst noch andere besorgt. Doch mit seiner Ernennung zum Kommandanten der 3. Division erregte er umgehend wieder die Aufmerksamkeit der Presse. Er sollte die Geister, die er einst rief, nicht mehr loswerden. Das Medienphänomen des «Sching Hung» Gertsch hatte sich über die Jahre hinweg sukzessive verselbständigt und ihm damit jede Handlungsfreiheit und Glaubwürdigkeit genommen. Er, das landesweite Sinnbild für das «Preussentum» im Offizierskorps, hatte überhaupt keinen Einfluss mehr darauf, wie ihn die Presse sah und darstellte. Rasch wurden Parlamentarier aus Kantonen, aus denen die 3. Division ihre Truppen alimentierte, hellhörig für Klagen über den Führungs- und Erziehungsstil des neuen Kommandanten.

Nach dem landesweiten Generalstreik und der anschliessenden Demission Willes kam Gertschs erneute Kommandoenthebung somit keineswegs überraschend. Der Bundesrat enthob ihn Anfang 1919 von seinem Kommando der 3. Division und versetzte ihn gemäss Artikel 51 der Militärorganisation zu den zur Verfügung des Bundesrats stehenden Offizieren, wo er bis zu seiner endgültigen Entlassung aus der Wehrpflicht im Juni 1926 eingeteilt blieb.24 Gertsch zog sich daraufhin mit seiner gut situierten Frau auf ein kürzlich erstandenes Schloss mitsamt Rebberg bei Neftenbach im Zürcher Weinland zurück, um als Gutsherr seinen Lebensabend zu verbringen. Wenn der Bundesrat und die Öffentlichkeit aber dachten, sie hätten das letzte Mal von ihm gehört, dann hatten sie sich getäuscht.

Schon bald trat Gertsch mit einer radikalen Theorie der Umwandlung der Armee in ein mit Tausenden von Maschinengewehren ausgerüstetes Infanterieheer in Erscheinung. Die Feuergeschwindigkeit und die hohe Präzision des Maschinengewehrs hatten ihm schon auf dem südmandschurischen Kriegsschauplatz imponiert, doch erst mit dem Stellungskrieg an der Westfront des Ersten Weltkriegs sollte ihn die beeindruckende Kampfkraft dieser Schnellfeuerwaffe nicht mehr loslassen. Er war der festen Überzeugung, dass das Maschinengewehr zur wichtigsten Waffe des Weltkriegs geworden war und erkannte in ihm die einzige Möglichkeit, die im Vergleich zu den Millionenheeren und den gewaltigen Rüstungsanstrengungen der Grossmächte bescheidenen finanziellen und personellen Ressourcen des Kleinstaats Schweiz kompensieren zu können. Daher konnte er nicht verstehen, weshalb das Maschinengewehr in der Schweizer Armee nur als eine Unterstützungswaffe zum Einsatz kam. Anstatt der Infanterie noch weitere Maschinengewehre in Form von Spezialtruppen anzugliedern, forderte Gertsch, dass die gesamte Infanterie zu einer eigentlichen Maschinengewehrtruppe umgewandelt werden müsse. Die Divisionen seiner Maschinengewehrarmee sollten anschliessend an der Landesgrenze in einer imposanten Breitengliederung von Dutzenden von Kilometern die gegnerischen Kräfte am Eindringen hindern.25

Nebst seinen Maschinengewehrtruppen sah Gertsch in der von ihm konzipierten zukünftigen Armee nur ganz wenige andere Waffengattungen vor. So hatten einzig die Luftwaffe und eine stark begrenzte Anzahl an Kavalleristen, Telegrafisten, Sanitäter, Rad- und Motorlastwagenfahrer sowie – kurioserweise – das Militärspiel (Militärmusik) noch eine Daseinsberechtigung.26 Die restlichen Truppengattungen wie Artillerie, Genie oder leichte mechanisierte Verbände wollte Gertsch ersatzlos streichen. Überdies liess er insbesondere an den Unterstützungstruppen wie dem Trainwesen («diese unversiegbare sprudelnde Quelle von Ärger und Unruhe und Störung des Diensts») oder den Büroordonanzen («die Zahl dieser gewohnheitsmässig zu Bureaudienern entwürdigten Schweizer Krieger geht in die vielen Hunderten») kein gutes Haar. Diese Funktionen würden der Armee, so Gertsch unmissverständlich, nur die waffenfähigen Wehrmänner entziehen und sollten – wenn überhaupt – ausschliesslich durch Landsturm- und Hilfsdienstpflichtige wahrgenommen werden.27

Gertschs Aussagen mögen auf den ersten Blick die Vermutung nahelegen, dass ihm die zahlreichen waffentechnologischen Entwicklungen des Ersten Weltkriegs völlig entgangen wären. Dies war allerdings nur zum Teil der Fall. Er gestand dem Kampfpanzer (Tank) und der schweren Artillerie durchaus deren herausragende Bedeutung in einer mechanisierten Kriegführung zu, doch waren sie für ihn gleichzeitig auch Sinnbild eines langjährigen verheerenden Stellungskriegs,28 den die Schweiz niemals führen dürfe.

Die zugegebenermassen etwas skurrile Theorie der Umwandlung des Schweizer Milizheers in eine nahezu reine Maschinengewehrarmee erregte zu Beginn noch für Aufsehen und sorgte für entsprechende Kritik in den einschlägigen Fachblättern.29 Mit der Zeit wurde Gertsch aber nicht mehr für voll genommen, zumal seine Konzepte auch nicht bis ins letzte Detail durchdacht waren. So tauchen wiederholt Widersprüche und Lücken in seiner Argumentation auf. Gertsch hatte beispielsweise in keiner seiner Schriften zur Maschinengewehrarmee den Fall erörtert, wie er weit ins Land eingedrungene mechanisierte Verbände ohne eigene Kampfpanzer zurückzuwerfen gedenke. Er wollte der Schweiz zwar einen erstarrten Grabenkrieg nach dem Muster der Westfront des Ersten Weltkriegs ersparen, doch was er mit seinen Maschinengewehrtruppen plante, war im Grunde genommen nichts weiter als ein verkappter Stellungskrieg: Die gesamten Verteidigungskräfte der Schweizer Armee wären an der Grenze konzentriert und höchstwahrscheinlich aufgrund des gegnerischen Artilleriefeuers ebenfalls in Schützengräben eingegraben gewesen. Ein durchgebrochener Gegner hätte demzufolge die Niederlage der gesamten Armee bedeutet.

Als er wiederholt kein Gehör für seine unkonventionelle Theorie einer Maschinengewehrarmee fand und man ihn stattdessen ignorierte, verstieg sich Gertsch in seiner wachsenden Verbitterung in immer extremere Aussagen. Von Schrift zu Schrift forderte er mehr Maschinengewehre. Am Ende waren es 12 000 Stück, die nach seinen Berechnungen eine «Kampfkraft von zwölftausend Kompanien, dreitausend Bataillonen, tausend Regimentern»30 entfalten und die Schweiz auf einen Schlag zur «stärksten Militärmacht»31 erheben würden.

Letzten Endes manövrierte er sich aber mit seinen immer extremeren Konzepten zur Umwandlung der Schweizer Armee in eine reine Maschinengewehrarmee zusehends ins soziale Abseits. Am Ende überwarf sich Gertsch auch mit jenen, die noch zu ihm hielten. Er entschlief schliesslich verlassen und verarmt in seinem 77. Altersjahr in Bern.

Fazit

Trotz der zum Teil masslosen Übertreibungen und seiner mitunter reichlich abstrusen Vorstellungen muss Gertsch zugestanden werden, dass er in seinen Pamphleten die Probleme der schweizerischen Truppenführung durchaus treffend erfasste und zuweilen wertvolle Beiträge zur Reform des Militärwesens beisteuerte. So erstaunt es nicht, dass er für seine Anschauungen im Ausland immer wieder die ersehnte Anerkennung fand, die ihm in der Heimat nie zuteilwurde. Sein zügelloses Temperament, sein Fanatismus und seine Selbstwahrnehmung als der sprichwörtliche Prophet, der im eigenen Land nichts gilt, verunmöglichten es ihm jedoch, seine Theorien fruchtbar weiterzuentwickeln und somit erfolgreich in den Militärdiskurs einzubringen. Stattdessen begegnet man bei Gertsch immer wieder dem gleichen selbstzerstörerischen Muster bei der Verbreitung seiner Konzepte: Je mehr seine Theorien infrage gestellt wurden, desto kämpferischer gab er sich seinen Kritikern gegenüber. Dass er sich damit auch zusehends von seinen Weggefährten entfremdete und enge Freunde verlor, war er sich anscheinend nicht bewusst – oder es war ihm schlicht egal. Infolgedessen überrascht es auch nicht, dass er an seinem Lebensende nahezu völlig isoliert war und als «Rufer in der Wüste» von niemandem mehr ernst genommen wurde.

Michael M. Olsansky

Ulrich Wille d. J. als Oberstkorpskommandant und Ausbildungschef der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg (Bild: Bibliothek MILAK).

Es war das letzte Mal, dass er seine Kernbotschaft an ein grösseres, militärisch interessiertes Publikum herantragen sollte. Im Jahr 1952, in seinem Beitrag zur Festschrift für Oberstdivisionär und Nationalrat Eugen Bircher, diskutierte Ulrich Wille d. J.1 die Frage, «wann und worin» die Schweizer Armee «eines ausländischen Vorbildes bedurfte».2 Das «Wann» seiner überaus dezidierten Antwort erstaunte dabei nicht, auch nicht das damit verbundene «Woher». Das Vorbild sei der Schweizer Armee aus den preussisch-deutschen Siegen von 1866 und 1870/71 erwachsen und habe ihr den Weg zur Kriegstüchtigkeit gewiesen.3 Das «Worin» vermochte jedoch zu überraschen. Wille verbat sich grundsätzlich die Nachahmerei fremden Wehrwesens und betonte den allein geistigen Charakter des deutschen Vorbilds:

«Das Vorbild war dazumal und später nie die preussische Armee selbst, nicht ihre Exerzierformen und Methoden. Jeder Versuch, etwas aus einem stehenden Heer mit Berufskader in der kurzen Milizausbildung und mit dem Milizkader nachzuahmen, war und ist jederzeit ein Irrtum. […] Das Vorbild, dessen unsere Armee dazumal bedurfte, bestand [vielmehr, Anm.] in der Auffassung von der grossen Bedeutung der Gründlichkeit und Selbständigkeit, die in der dazumaligen preussisch-deutschen Armee herrschte.»4

Dies habe sein Vater, der spätere General Ulrich Wille, vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Kriegs als junger Offizier während der ersten Grenzbesetzung im Juli und August 1870 erkannt. Unselbständige, an die Bevormundung durch Instruktoren gewöhnte Offiziere und Unteroffiziere ohne Durchsetzungsvermögen hätten den Dienst oberflächlich, ohne Gründlichkeit betrieben. «Unselbständigkeit und laisser-aller» gingen angeblich so weit, dass etliche Offiziere lieber gleich «im Wirtshaus» blieben, als bei der Truppe ihrer Pflicht nachzukommen.5 Auf die «im bürgerlichen Leben des Schweizervolkes bedeutende» Gründlichkeit und Selbständigkeit bauend, sei darauf sein Vater daran gegangen, der schweizerischen Milizarmee «Milizvorgesetzte und Soldaten zu erziehen» und damit «vom Bürger im Wehrkleid ernsthaften Dienstbetrieb, zuverlässige Pflichterfüllung und Disziplin nicht nur zu fordern sondern zu erzwingen».6 Gründlichkeit in Erziehung und Ausbildung, Selbständigkeit sowohl in der Führung als auch in der Ausübung der Pflicht, dies waren auch für den Sohn des Weltkriegsgenerals die Hauptfaktoren für Kriegstüchtigkeit. Exerzierformen, Kampfmethoden, ordre de bataille oder Bewaffnung erachtete er demgegenüber als zweitrangig.

Mit diesen Ausführungen zog Wille d. J. im Jahr 1952 in seinem letzten Artikel zu militärischen Fragen ein inhaltlich nahezu identisches Fazit wie sein Vater im Jahre 1924 in seinem letzten Artikel in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung zum Thema «Kriegslehren». General Wille hatte dort sein militärisches Credo noch einmal formuliert: «Kriegstauglichkeit» erforderte demnach die konsequente Erziehung des Wehrmannes zum maximal potenzierten «Manneswesen» bzw. disziplinierte Soldaten mit Appell sowie selbständig führende Offiziere mit Initiative und «Adresse». Alles andere, «bessere Bewaffnung, vollkommenere Ausrüstung mit technischen Hilfsmitteln, grössere Zahl, geschicktere Formationen und Manövrierkunst»,7 erachtete er dagegen als sekundär. Dass nun Wille d. J. in der Denkschule seines Vaters stand, wird kaum erstaunen. Wille d. J. war in der Tat «Willeaner». Jedoch mag die Resolutheit seiner Ausführungen in der Festschrift Bircher doch erstaunen, da er in diversen Funktionen die Gefechtsvorschriften und die Taktikausbildung der Schweizer Armee der Zwischenkriegszeit wie kaum ein anderer beeinflusst hatte.8 Als Haupt- oder Co-Autor mehrerer Reglemente, Behelfe und Weisungen, als langjähriger Kommandant der Zentralschule (1923–1928), als Kommandant der 5. Division (1928–1931), Waffenchef der Infanterie (1931–1933 sowie 1936–1940) sowie Kommandant des 2. Armeekorps (1933–1935) hatte er, was die Ausbildung der Kampf- und Gefechtsführung betraf, das Gros jener Kommandanten geprägt, die 1939 mit ihren Truppenkörpern und Einheiten zum Aktivdienst antraten.9 Und trotzdem verzichtete er in seinem letzten, militärspezifischen Statement auf die Erläuterung taktischer oder operativer Überlegungen. Kein Kampfverfahren, keine Gefechtsbetrachtung, keine «goldene operative Regel» suchte er den Lesern in Erinnerung zu rufen. Die folgenden Ausführungen werden aufzeigen, dass dies nicht nur aufgrund Willes traditioneller Fokussierung auf militärische Erziehungsfragen so war.


Ulrich Wille d. J. (Mitte, zwischen zwei ausländischen Offizieren) im Jahr 1936 beim Vorbeimarsch der 6. Division (Bild: Familienarchiv Wille).

Trotz der angesprochenen Bedeutung Ulrich Willes d. J. für die Ausgestaltung des schweizerischen Wehrwesens der Weltkriegsepoche wurde die militärische Bedeutung seiner Person bis anhin historiografisch nicht näher untersucht und bewertet.10 Wenn überhaupt, dann wurde Wille als Antagonist von Henri Guisan dargestellt, sei es in der immer noch erhellenden Darstellung von Georg Kreis über die Differenzen in der schweizerischen Armeespitze vor dem Hintergrund der Aktenfunde von La Charité,11 sei es in der polemischen Reduktion Willes d. J. auf den unsympathischen, hässlich-deutschen Kontrepart General Guisans zur hagiografischen Darstellung desselben bei Markus Somm.12 Eine tiefer gehende, eigenständige Darstellung der Person des Generalssohn bleibt jedoch einstweilen Desiderat. Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag zumindest das militärische Denken und Wirken Willes d. J. beleuchten und darlegen, wie ausgeprägt sich dieses auf die schweizerische Militärentwicklung der Zwischenkriegszeit und insbesondere auf die Kampf- und Truppenführung sowie die Taktikausbildung niederschlug. Willes diesbezügliche Konzept- und Ausbildungsarbeit im Ersten Weltkrieg sowie deren Weiterentwicklung hin zum Felddienst (F. D.) von 1927, der wichtigsten schweizerischen Gefechtsvorschrift der Zwischenkriegszeit, stehen dabei im Zentrum der Betrachtung.13

Kontext: Die deutsche Militärentwicklung im Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit

Um es vorwegzunehmen: Ulrich Wille d. J. war in erster Linie wie sein Vater ein Soldatenerzieher, in zweiter Linie ein aussergewöhnlichen Taktiker und nur peripher ein operativer Denker. Diese Einschätzung kann aus heutiger Perspektive negativ verstanden werden, ist jedoch mehr eine Feststellung, der Wille selbst wohl zugestimmt hätte. Das Urteil orientiert sich einerseits an Willes Beitrag zur Entwicklung der schweizerischen Kampfführung während seiner langen Dienstzeit als Instruktionsoffizier und höherer Truppenführer, andererseits an der zeitgenössischen Entwicklung des deutschen Militärs. Letzteres ahmte Wille nicht einfach nach, es war ihm jedoch seit seiner Abkommandierung zum Garde-Jäger-Bataillon in Potsdam von 1906 bis 1909 wichtigster militärischer und abgesehen davon wohl auch soziokultureller Bezugsrahmen.14 Nach heute übereinstimmender angelsächsischer und bundesdeutscher Forschungsauffassung erwuchs der deutschen Militärentwicklung erst im Verlauf des Zweiten Weltkriegs die Vorstellung einer eigenständigen, zwischen Taktik und Strategie verankerten operativen Stufe der Kampfführung. Nachdem das deutsche Militär im Ersten Weltkrieg vor allem im taktischen Bereich der Kampfführung grosse Fortschritte gemacht hatte, scheiterten sowohl in der Reichswehr als auch in der Wehrmacht alle Anläufe, die «höhere Truppenführung», also die Führung von mehreren Divisionen oder Armeekorps –die «operative Führung» – in Reglements oder Vorschriften zu kodifizieren. Entsprechende Entwürfe wurden von der deutschen Generalität entschieden zurückgewiesen, in der Reichswehrzeit notabene von Hauptexponenten des Truppenamts wie Hans von Seeckt, Joachim von Stülpnagel oder Wilhelm Keitel.15 Ihre Begründung war ganz im Geiste Moltkes und Clausewitz’: Höhere Truppenführung lasse sich nicht in Vorschriften pressen, sei letztlich eine Kunst und habe sich allein nach den jeweiligen Umständen zu richten. Die berühmte, von Hans von Seeckt erlassene deutsche Heeresdienstvorschrift 487 mit dem Titel Führung und Gefecht der verbundenen Waffen (F. u. G.)16 von 1921, ein für die Entstehungsgeschichte des Felddienstes durchaus wichtiges Rahmenwerk, widmete sich denn auch hauptsächlich dem Kampf des gemischten Verbandes, will heissen der Division und seiner Regimenter und Bataillone.17 Diese Flughöhe verliessen die verschriftlichten und offizialisierten deutschen Gefechtsvorschriften bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges kaum. Dies will nicht heissen, dass es so etwas wie ein operatives Denken in den verschiedenen deutschen Heeren zwischen 1914 und 1945 nicht gegeben hätte. Jedoch galt operative Führung nicht als eine Sache von Vorschriften oder gar dogmatischen Doktrintexten, sondern als fallweise anzugehende Angelegenheit der jeweiligen Operationsplanung oder eben gar als «Kunst».18

Die Beeinflussung der schweizerischen Landkriegstaktik im Ersten Weltkrieg durch Wille d. J.

Vor dem skizzierten Hintergrund der Krieg- und Kampfführungsentwicklung im deutschen Militär blieb auch Ulrich Willes Hauptaugenmerk zumeist auf das Gefecht und somit auf die Taktik gerichtet. Dies galt insbesondere für seine frühe Berufstätigkeit. So zeigt er sich in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs, als Stabschef von Oberstdivisionär Steinbuchs 5. Division, als vorpreschender Modernisierer der schweizerischen Gefechtsausbildung. Ausgangspunkt hierfür war Willes einzige Kriegsschauplatzabkommandierung im Sommer 1916, die ihm notabene nicht zum deutschen Heer, sondern «nur» an die österreichische Alpen- und Ostfront bewilligt wurde.19 Wille erhielt auf dieser mehrwöchigen Reise einen nachhaltigen Eindruck der eben erst eingestellten, weil festgefahrenen Südtiroloffensive der k. u. k. Armee, die sein Bild der österreichisch-ungarischen Truppen und deren Offizierskorps nicht eben verbesserte. Danach reiste er nach Galizien weiter, wo er die Gegenangriffe deutscher Truppen zur Abwehr der Brussilow-Offensive bzw. zur Stabilisierung der Ostfront hautnah erlebte.20 Wie sein Abkommandierungsbericht zeigt, konnte sich Wille dort ein Bild von frühen Gehversuchen deutscher Sturmformationen machen und erhielt dadurch Einblick in jene neue Infanteriekampfweise, die das Gefecht deutscher Kompanien, Bataillone und Regimenter in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs sukzessive zu verändern begann. Wille kehrte hierzu gut dokumentiert zurück, finden sich doch sowohl in den Beilagen seines Abkommandierungsberichts als auch im Privatarchiv der Familie in Feldmeilen etliche Behelfe, Weisungen und Dokumente deutscher Offiziere, die sich insbesondere mit Fragen der Angriffsführung sowie der Koordination von Infanterie und Artillerie auseinandersetzen.

Wieder in der Schweiz, zurück bei der 5. Division, liess Wille seine Beobachtungen und Erfahrungen in die eigene Truppenausbildung einfliessen und bemühte sich intensiv, die hiesige Gefechtsschulung zu modernisieren. Höhepunkt dieser Arbeit war eine von Wille im Dezember 1917 angelegte Angriffsübung des Infanterieregiments 26 im Kanton Basel-Landschaft, bei welcher das Hauptaugenmerk auf der Schulung des Zusammenspiels von Infanterie, Maschinengewehren und Artillerie lag.21 Im Zusammenhang mit dieser Übung wird aus einem Schreiben des Generals erkennbar, worin nach Ansicht der beiden Willes die Hauptherausforderung der Gefechtsschulung für die Schweizer Armee jener Zeit bestand, nämlich die Kampfführung der Truppen «systematisch», jedoch nicht «schematisch» zu begreifen und zu gestalten.22 «Systematisch» betonte dabei das Ineinandergreifen der verschiedenen eigenen Waffen im Sinne eines koordinierten Kampfsystems, «schematisch» bedeutete jedoch unreflektierte Ausbildung und Führung nach Schablone bzw. Anwendung äusserer Formen. Ulrich Wille d. J. zeigte sich im Nachgang zur Übung zufrieden damit, dass sich die Armeeführung dazu entschlossen hatte, zum vertieften Studium der Sturmtruppen und ihrer Kampfweise einen geeigneten Offizier an die deutsche Westfront zu schicken. Es war dann mit Hauptmann Fritz Rieter, vielleicht nicht ganz zufälligerweise, ein junger, ambitionierter, bei der 5. Division eingeteilter Instruktionsoffizier und notabene Willes Schwager, der von November 1917 bis März 1918 zum deutschen Heer abkommandiert wurde und dort, in der Vorbereitungsphase der grossen Frühjahresoffensive, die Ausbildung der von der Ostfront ankommenden Verbände in den neuen Kampfverfahren studieren konnte.23 Konkret beobachtete Rieter in Lothringen die Schulungstätigkeit des Sturmbataillons 17, des Sturmbataillons der deutschen 17. Armee, das im Sinne einer Lehrtruppe die Ausbildung der Masse der Zugführer, Kompaniechefs und Bataillonskommandeure der 17. Armee durchzuführen hatte. Nach seiner Rückkehr zur 5. Division fusionierten Rieter und Wille ihre Erfahrungen, passten sie auf die hiesigen Verhältnisse an und entwickelten in einem eigenen Truppenversuch mit der ad hoc aufgestellten Sturmabteilung 5 im solothurnischen Mariastein ein quasi schweizerisches Sturmangriffsverfahren.24 Kennzeichnend für dieses erste moderne Gefechtsschiessen der Schweizer Armee im Sinne der Infanteriekampfführung des 20. Jahrhunderts war das Wegkommen von starren, linearen Gefechtsformationen, die wenn nötig rigorose Auflockerung der Truppe während der Annäherung zum Angriff, das präzise Zusammenarbeiten mit den eigenen Unterstützungswaffen und insbesondere die Angewöhnung der Truppe daran, konsequent in das eigene Artilleriefeuer hineinzulaufen, um die Feuerunterstützung im Angriff konsequent auszunutzen. Wille verfasste zur dieserart modernisierten Kampfweise der Infanterie mehrere Grundlagenpapiere, deren Kerninhalte im November 1918 in den Entwurf eines Dokuments mit dem Titel Grundsätze für das Gefecht mündeten.25 Dieses Dokument hätte das Gefechtskapitel des Exerzier-Reglements für die Infanterie von 1908 ersetzen sollen. Jedoch wurde es nie genehmigt, Abdrucke des Reglements liegen im Bundesarchiv in den Akten zum Felddienst 27 sowie in den entsprechenden Dossiers Willes d. J. im Wille-Archiv.

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